Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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umarmte Karla kurz und wandte sich dann an Mona, die noch immer an der Wand lehnte und ins Leere starrte.

      "Hey, wir müssen hier verschwinden. Steh auf!" Mona reagierte nicht, auch als Isis an ihr zerrte, um sie zum Aufstehen zu bewegen, blieb sie sitzen und starrte weiter auf einen Punkt in der Ferne. Erst jetzt bemerkte Isis, dass mit ihrer Freundin etwas nicht stimmte. Sie wedelte mit ihrer Hand vor Monas Augen, die erhoffte Reaktion trat leider nicht ein. Der Blick blieb leer und leblos.

      "Total weggetreten", stellte sie niedergeschlagen fest. "Seit wann ist sie so?", wandte sie sich an Karla.

      "Seit wann?" Hatte sie auf die Uhr gesehen? "Irgendwann nachdem sie dir die SMS geschrieben hat. Sie war völlig mit den Nerven fertig. Kein Wunder, wenn wir die ganze Zeit fürchten mussten, dass wir von diesen Typen entdeckt werden. Einer hatte kurz davor gestanden, die Balkontür zu öffnen. Schien aber gerufen worden zu sein."

      "Euer Glück." Isis sah Mona an. Ihnen lief die Zeit davon. Wer weiß, wann der Tote entdeckt würde? Vielleicht wohnte hier noch jemand anderes, was allerdings nicht den Anschein hatte, der innerhalb der nächsten Minuten in der Wohnung stehen konnte. Die Situation wollte Isis sich gar nicht ausmalen. Wie sollte sie erklären, was sie mit ihren Freundinnen auf dem Balkon mache und die Leiche im Schlafzimmer zu bedeuten habe? Das würde nur den Schluss zulassen, dass sie für den Tod des Mannes verantwortlich waren. Und wenn die Polizei bei ihr auch noch das Geld finden würde, wäre alles aus. Vollkommen unschuldig, aber zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sie mussten aus der Wohnung schnellstens raus und verschwinden. Nur Mona hinderte sie daran, weil sie sich in einer Schockstarre befand.

      Was sollte sie tun, um ihre Freundin wieder in die Gegenwart zu holen? Wieso musste sie immer in solche Situationen geraten? Es konnte doch nicht angehen, dass sie solche Situationen quasi abonniert hatte.

      "Steh endlich auf!", herrschte sie Mona an.

      "Sie hört dich nicht", gab Karla entnervt wieder.

      "Schlauberger!"

      Ohne zu überlegen ergriff Isis Monas rechten Arm, schob den Jackenärmel zurück und kniff ihre Freundin. Leben trat wieder in die Augen und Isis bekam einen Schlag in den Bauch verpasst, dass sie nach Luft ringen musste. Als sie Mona ansah und ihre Blicke sich trafen, wusste sie, dass ihre Freundin wieder ganz die alte Mona war, die sie kannte und ab und an hasste.

      "Schäm dich, uns in so eine Situation gebracht zu haben. Ich habe doch gewusst, warum ich da nicht mitmachen wollte."

       Du weißt vieles, aber dennoch nicht alles.

      "Es tut mir leid", nuschelte Isis, der Entschuldigungen nur schwer über die Lippen kamen.

      "Wie war das?", fragte Mona und hielt sich eine Hand ans Ohr, als könne sie schwer hören.

      "Entschuldigung", sagte Isis lauter, nun aber auch genervt. Schon war Mona wieder die Alte, begann sie wieder mit ihren Spielchen. Und das in der unpassendsten Situation. "Und nun lasst uns abhauen."

      Karla nickte zustimmend und trat ins Wohnzimmer. Isis und Mona folgten ihr. Isis wollte gerade die Balkontür schließen, als ihr der weiße Plastik-Klappstuhl ins Auge fiel.

      "Hast du dich dahinter versteckt?" Karla nickte wieder. "Gut, dann kommt der mit." Karla wollte protestieren. Mit diesem Plastikding würden sie nur auffallen und behindern würde es sie auch, war der Klappstuhl doch viel zu schwer. "Dein Atem wird sicherlich einen kleinen Niederschlag hinterlassen haben. Du weißt doch, dass eine Scheibe beschlägt, wenn man dicht davor steht."

      "Klar, weiß doch jeder. Aber ich nehme die Scheibe dann doch auch nicht mit, wenn sie durch meinen warmen Atem beschlägt."

      "Da willst du auch nicht deine Anwesenheit verschleiern. Ich weiß nur nicht, ob man DNA-Spuren durch den Niederschlag hinterlässt. Und da ich es nicht weiß, kommt der Stuhl mit." Isis' Blick schweifte durch das Wohnzimmer, doch sie besaß nicht die Konzentration, um die Gegenstände um sie herum nicht nur als Schemen wahrzunehmen. "Habt ihr sonst noch was angefasst? Ihr tragt keine Handschuhe."

      Auf einmal verstand Karla, was Isis mit dem Stuhl wollte. So viele Spuren wie nur möglich vernichten, damit nicht ihre Daten bei der Polizei gespeichert würden. Aber warum sollten die bei einem Einbruch auf DNA wertlegen, noch dazu von einem Klappstuhl? Da würden sie vielleicht Fingerabdrücke nehmen, aber sicherlich nicht einmal das. Was war nur geschehen? Hatten die beiden Gestalten dem Mann nicht nur gedroht? Und auf einmal wusste sie es: Der Mann war tot! Ermordet worden von den beiden Männern.

      "Er ist tot, nicht wahr? Warum sonst willst du unsere Spuren verwischen und trägst Handschuhe? Wie bist du in die Wohnung gekommen ohne zu Klingeln?" Isis wollte antworten, doch Karla brachte sie durch eine Bewegung zum Schweigen. "Ich kann mir die Antwort selbst geben. Vielleicht stand die Tür offen, du willst zum Balkon, doch da siehst du irgendwo den Mann in seinem eigenen Blut liegen. Wie kannst du in diesem Augenblick nur so ruhig sein?"

       Beherrschung ist alles.

      "Ich habe schon mehr Tote gesehen als du."

      "5 000 Jahre alte vertrocknete Leiber sind doch keine richtigen Toten."

      "Mumifiziert, wenn schon."

      Isis platzte beinahe der Kragen. Sie hatte Karla und Mona in diese Lage gebracht und wollte ihnen nun helfen heil aus der ganzen Sache wieder herauszukommen. Stattdessen fing Karla eine nutzlose Diskussion an, die sie hatte vermeiden wollen, weshalb sie den Tod des Mannes nicht erwähnt hatte.

      "Habt ihr noch was angefasst? Ja oder nein?"

      "Das Glas und die Bücher. Den Griff der Balkontür habe ich mithilfe eines Buches geöffnet. War gar nicht so schwer. Den hat der eine Eindringling auch abgewischt."

      "Später kannst du dich loben. Erst einmal nimmst du die Bücher an dich und Mona das Glas. Und dann verschwinden wir!"

      Karla und Mona taten wie geheißen und nahmen die Dinge an sich. Dann verließen sie schnurstracks die Wohnung und das Haus. Niemand schien das seltsame Gespann bemerkt zu haben, nicht einmal die zwei Männer, die in einem silbernen Audi saßen und wild miteinander diskutierten.

      23

       Hamburg-Stellingen

      Auf dem Weg zum Auto hatten sich die Freundinnen nach und nach von den mitgenommenen Gegenständen getrennt. Der Gartenklappstuhl würde sicherlich noch Verwendung finden, das Glas vielleicht als Vase und möglicherweise würden die Bücher auch noch jemanden erfreuen.

      Schweigsam fiel der Rückweg aus. Nur einmal, als ein Polizeiwagen mit Sirene an ihnen vorbeifuhr, kam Unruhe auf. Mona duckte sich sogar, um ungesehen zu bleiben. Isis hatte es beim kurzen Blick in den Rückspiegel gesehen, verbiss sich allerdings einen Kommentar. Angesichts der Situation, die ihre Freundinnen wegen ihr hatten durchmachen müssen, war Monas Verhalten absolut nachvollziehbar. Selbst ihr war beim Geräusch der Sirene flau im Magen geworden und es hatte sie Mühe gekostet, sich auf die Fahrbahn zu konzentrieren.

      Zu Hause angekommen, war jeder erst einmal auf sein Zimmer gegangen. Es hätte keinen Zweck gehabt, Mona und Karla nach den Geschehnissen in der Wohnung zu befragen. Sie mussten von sich aus anfangen über das Erlebte zu sprechen und sich nicht genötigt oder bedrängt fühlen reden zu müssen. So würde sich Isis in Geduld üben. Eine Fähigkeit, die sie nicht besaß und dennoch machte es ihr nichts aus, es später zu erfahren. Irgendwann würden ihre Freundinnen sprechen, wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen, aber irgendwann würden sie den Mund aufmachen. Die Zeit war geduldig und Isis würde es auch sein.

      Sie saß an ihrem Schreibtisch und blätterte lustlos durch die Bedienungsanleitung ihrer Digitalkamera. In einer Ecke stand die blaue Tasche, in der sich immer noch der Rucksack mit den Gegenständen befand. Sie hatte ihn, seitdem sie ihn dort abgestellt hatte, nicht mehr eines Blickes gewürdigt, als könne sie so die Ereignisse des Tages ungeschehen machen. Auch wenn sie nicht hinsah, konnte sie die Anwesenheit der Gegenstände deutlich spüren. Ein brennendes Kribbeln hatte ihren Rücken erfasst und schien von Minute zu Minute