Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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und die Gegenstände in Augenschein zu nehmen. Sie würde abwarten und wenn es bis Weihnachten dauerte.

      Gegen Abend hielt sie es in ihrem Arbeitszimmer nicht mehr aus und ging nach unten. Die Bedienungsanleitung ihrer Kamera konnte sie beinahe auswendig, aber wie die Kamera benutzt wurde, um exzellente Bilder zu machen, hatte sie immer noch nicht verstanden. Das würde sicherlich mit der Zeit kommen. Je länger sie die Kamera benutzte, desto vertrauter würde sie ihr werden.

      In der Küche begegnete sie Mona und Karla, die schweigsam am Tisch saßen und Chips mümmelten. Solche Essgewohnheiten hatten in diesem Haus erst Einzug gehalten, seitdem Mona und Karla hier lebten. Isis hatte ungesunden Knabbersachen und Süßigkeiten nie etwas abgewinnen können. Ihr schmeckte es einfach nicht, obwohl sie immer mitaß, wenn ihr Chips angeboten wurden. Meist tat sie es aus Höflichkeit.

      "Darf ich?", fragte sie, nachdem sie sich eine Flasche Bananennektar geholt hatte. Wohlwissend, dass der süße Saft um diese Uhrzeit schädlich für ihre Zähne sein könnte. Doch sie überhörte ihre innere Stimme und ignorierte sie, wie sie es immer tat. So konnte sie auch nie ein schlechtes Gewissen haben, wie innere Stimmen es einem immer einzureden versuchten. Dieses Mal hatte sie aber ein schlechtes Gewissen, wenn auch aus einem anderen Grund. Deshalb wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte, nachdem Mona und Karla ihr gestattet hatten, sich zu ihnen zu setzen.

      Chips wurden ihr nicht angeboten, doch das störte Isis nicht. Lustlos nuckelte sie an ihrer Saftflasche und beobachtete dabei verstohlen ihre Freundinnen. Karla wirkte gefasst, aber das könnte über ihren wahren Gemütszustand hinwegtäuschen. Sie wusste selbst, wie oft sie ihren wirklichen Zustand überspielte, um in Ruhe gelassen zu werden. Man konnte in einen Menschen nicht hineinsehen, weshalb sein wahrer Gemütszustand stets verborgen blieb. Nur an einer einzelnen Regung im Gesicht ließ er sich mitunter erkennen.

      Mona hatte rote Augen, was dafür sprach, dass sie geweint hatte. Isis wusste nicht, wann und ob sie ihre Freundin und Lieblingsfeindin jemals weinen gesehen hatte. Möglicherweise in der Grundschulzeit, aber sie erinnerte sich nicht.

      Was hatte sie ihren Freundinnen nur zugemutet? Die Wiederbeschaffung des Geldes allein war schon eine Schnapsidee gewesen. Was da alles hätte passieren können, hatte Isis überhaupt nicht bedacht. Aber das so was eintreten würde, was schließlich geschehen war, hätte sie nie für möglich gehalten.

      Wie sollte sie jemals wieder gutmachen, was sie Mona und Karla angetan hatte? Sie war egoistisch gewesen, hatte nur ihr Geld gesehen, was sie unbedingt wiederhaben wollte. Was war sie eigentlich für eine Freundin? Hatte sie diese Bezeichnung überhaupt verdient? Brachte so jemand seine Freundinnen in Gefahr? Sie hatte Karla und Mona vor Schlimmeren bewahrt, doch sie hatte sie auch in diese Situation gebracht.

      Die junge Ägyptologin konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, wenn sie nicht den Auftrag gegeben hatte, würden sie jetzt nicht hier sitzen. Anstelle des tödlichen Schweigens hätte sie sich gewiss wieder mit Mona in den Haaren gelegen, über die Quantentheorie diskutiert oder sich anhören müssen, dass sie eine sture Ziege sei.

      Verstohlen unter halbgeschlossenen Augen betrachtete sie ihre Freundinnen. Sie waren doch die einzigen, die sie hatte, warum verfügte sie dann einfach über sie? Isis wusste es ja selbst nicht. Weil sie lieber bestimmte, als Aufgaben anzunehmen?

      Wenn sie sich nun entschuldigen würde, musste sie damit rechnen, dass ihre Entschuldigung nicht angenommen würde. Sie würde es verstehen, wenn es so käme. Sie würde nicht anders reagieren.

      Isis sammelte ihre Gedanken, die durch ihren Kopf schossen, als wären sie bei einem Rennen. Die richtigen Worte waren wichtig, doch wie sollte sie beginnen? Ein schlichtes 'Mir tut es Leid' wäre zu einfallslos und unangebracht. Es musste etwas sein, das klar machte, wie ernst sie es meinte. Doch die Worte fehlten ihr. Fieberhaft suchte sie in ihrem Gehirn nach gefühlvollen Entschuldigungen, fand allerdings nichts. Egal was ihr einfiel, jede der Entschuldigungen hätte wie ein Vorwurf geklungen. Vielleicht fände sie die richtigen Worte, wenn sie spontan sprechen würde. Meist waren ihr dann immer die richtigen Worte eingefallen. Also, warum sollte sie das nicht versuchen? Mehr als schiefgehen konnte es nicht.

      "Ich,... ich wollte,...äh, ich...", stotterte sie verlegen und ärgerte sich. Wieso fiel es ihr so schwer, die richtigen Worte zu finden? Warum stockte sie bereits beim ersten Wort? Eine Entschuldigung konnte doch nicht so schwer sein? Warum schaffte sie es nicht?

      Mona hatte von ihrem Teller aufgeblickt und sah Isis hasserfüllt an. Was immer sich ihre so genannte Freundin zusammen stottern würde, ergab garantiert wieder nur leere Hüllen und heiße Luft. Das konnte sich Isis wirklich sparen. Heute hatte sie zu viel durchgemacht, als dass sie dieses leere Geschwätz hören wollte. Bevor sie Anstalten machen konnte vom Tisch aufzustehen und sich auf ihr Zimmer zu begeben, bekam sie einen schmerzenden Tritt gegen ihr Schienbein von Karla verpasst, die sie anfunkelte und ihr klarmachte zu bleiben. Gut, würde sie sich anhören, was Isis zu sagen versuchte, sie würde es zerpflücken. Jedes Argument, das diese große Archäologin in den Mund nahm, war schon jetzt widerlegt. Was wusste Isis denn, was sie durchgemacht hatten? Madame kam doch immer nur dann, wenn sie nichts zu befürchten hatte. Wie es den anderen vor ihr ergangen war, war ihr doch völlig gleichgültig.

      "Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll."

      "Schweig einfach, damit ersparst du uns vieles", zischte Mona.

      "Fang einfach an", ermunterte Karla sie.

       Anfangen, wenn das so leicht wäre.

      "Ungeschehen machen kann ich nicht, was euch widerfahren ist. Ich kann euch nur um Verzeihung bitten. Ich habe Dinge von euch verlangt, die ich nie hätte verlangen dürfen. Meinen eigenen Vorteil habe ich gesehen und dabei nicht gedacht, was alles geschehen könnte. Es tut mir leid."

      Isis war erleichtert, als sie die Worte ausgesprochen hatte. Es war gesagt, nun konnte sie nur auf das Wohlwollen von Karla und vor allem von Mona hoffen.

      Schweigen herrschte am Tisch. Eine Stille, die nur durch das Knirschen und zerbrechen der Chips im Mund durchdrungen wurde. Ein beklemmendes Gefühl stellte sich bei der jungen Archäologin ein. Diese bedrückende Stille ertrug sie nicht. Wenn sie allein war, machte es ihr nichts aus, doch in der Gegenwart anderer wollte sie oft schreiend davonlaufen.

      "Es tut dir leid?", platzte es aus Mona heraus. "Glaubst du, damit lässt es sich ungeschehen machen? Ich habe tausend Tode ausgestanden, während du in aller Seelenruhe deinen Fund betrachtet hast. Und nun versuchst du mit diesen Worten, die mehr als lächerlich sind, alles wieder ungeschehen zu machen. Du bist das Letzte!"

      Isis hörte es sich mit versteinerter Miene an und erwiderte nichts darauf. Sie konnte Mona verstehen, obwohl ihr die Worte wehtaten, die ausgesprochen worden waren. Langsam drehte sie den Verschluss ihrer Flasche zu und wollte aufstehen. Heute hatte es keinen Zweck, noch irgendetwas zu sagen. Vielleicht hatte sie morgen mehr Glück, wenn sie alle eine Nacht darüber geschlafen hatten. Mitunter waren dann die Erinnerungen an die Geschehnisse nicht mehr so stark wie jetzt.

      "Gut", sagte sie nur und stand auf.

      Mit einem unsagbar schlechten Gewissen hielt sie auf die Treppe zu. Ihre Augen schwammen in Tränen. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben. Was erwartete sie? Dass durch ihre Worte alles wieder gut würde? Dass sie nur mit ihrem kleinen Finger zu schnippen brauchte und ihre Freundinnen waren ihr wieder wohlgesonnen? Stattdessen schwamm sie im Selbstmitleid, weil Monas Worte sie verletzt hatten. Worte, die die Wahrheit bedeuten. Wie weh das tat. Da war nichts mehr zu retten. Es würde dauern bis alles wieder so war wie früher. Wenn es ein früher überhaupt noch geben würde.

      "Warte, Isis", rief Karla ihr hinterher. "Mona meinte es nicht so."

       Doch so hat sie es gemeint. Genauso wie sie es sagte. Alles, Wort für Wort.

      Isis war stehen geblieben und umklammerte den Aufgang des Treppengeländers. Unentschlossen stand sie da, wusste nicht, was sie tun sollte. In ihr Zimmer gehen oder in die Küche zurückkehren?

      "Aber du musst uns auch verstehen", kam es aus der Küche.

       Glaubt ihr, dass tue ich nicht?