Helen Dalibor

Die Rollen des Seth


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hast nicht auf dem Balkon gehockt und gebetet, dass die Männer dich nicht entdecken. Hast nicht gezittert und um dein Leben gefürchtet. Wir waren auf dem Balkon gefangen und die ganze Zeit im Unwissen darüber, ob du unsere Nachrichten bekommen hast. Dieses Warten hat uns schier verrückt gemacht."

       Dieses Warten, dieses ewige Warten.

      Isis nahm die Hand vom Geländer und drehte sich langsam um. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Jetzt wäre sicherlich ein guter Zeitpunkt, um zu erfahren, was in der Wohnung geschehen war. Schnell wandte sie sich um und ging schnurstracks zur Küche zurück. Wenn sie diesen Moment verpasste, würde sich ihr die Gelegenheit nicht mehr so schnell bieten.

      24

      Mona behagte es überhaupt nicht, darüber sprechen zu müssen, was in der Wohnung geschehen war. Sie wollte alles so schnell wie möglich vergessen. Stattdessen sollte sie nun über das Vorgefallene berichten und alles noch einmal durchleben müssen. Das war wirklich zu viel.

      "Wir folgten dem Mann in seine Wohnung", begann Karla stockend. "Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach werden würde, denn erst machte er nicht den Eindruck, dass er uns helfen wollte."

      "Mir war der äußerst unsympathisch und wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre, hätte ich mich geweigert. In die Wohnung eines weltfremden Mannes zu gehen ist doch glatter Selbstmord."

      "Also wirklich, Mona!", sagte Karla empört. "So was sagt man nicht."

      "Aber wenn es doch stimmt."

      Karla hatte leichtsinnig gehandelt, das wusste sie selbst, doch um an Isis' Geld zu kommen, war ihr keine andere Möglichkeit geblieben. Und als sie mit Mona im Schlepptau dem Mann gefolgt war, hatte kein ungutes Gefühl sie übermannt. Er war ihr unsympathisch gewesen, aber nicht gefährlich erschienen. Doch wie leicht hätte sie sich täuschen können. Nicht jedem Menschen sah man sein wahres Ich sofort an.

      Karla und Mona, sie beide, hatten Glück gehabt. Glück im Unglück, wenn man es genau nahm, denn was sie dann erlebt hatten, war unvorstellbar gewesen.

      "Mona bekam ein Glas Wasser und der Mann ließ uns allein, weil es an der Tür klingelte." Karla hielt inne. Was jetzt zu erzählen war, fiel ihr nicht leicht auszusprechen.

      "Der Mann dachte, man wolle ihm etwas verkaufen", kam Mona ihrer Freundin zuvor. Er wollte die Tür schließen, doch die Männer stürzten in die Wohnung und bedrohten ihn. Sie waren schwer zu verstehen, sprachen mit einem harten Akzent. Untereinander benutzten sie eine fremde Sprache. Ich glaube, diesen Klang schon früher einmal gehört zu haben. Aber wo...?"

      "Ägypten", half Isis, der die Männer im Treppenhaus begegnet waren. "Sie haben ägyptisches Arabisch gesprochen."

      "Das kann sein. Aber woher weißt du?"

      "Als ich im Treppenhaus war, hörte ich Stimmen. Ich versteckte mich und sah dann zwei Männer zur Tür gehen, die sich auf Arabisch unterhielten. Das verwaschene Arabisch, was sie in Ägypten sprechen."

      "Dann hast du sie gesehen? Die waren die ganze Zeit in der Wohnung? Oh mein Gott, wenn die dich erwischt hätten, Isis."

      "Ich bin ein Glückskind, mir passiert nie etwas."

      Wie recht Isis mit ihrer Aussage hatte. Vor einigen Jahren in Ägypten war sie während einer wilden Verfolgungsfahrt beinahe in einen LKW gefahren. Bis heute wusste sie nicht, wie sie es geschafft hatte, das Lenkrad herumzureißen. Doch sie war in letzter Sekunde dem Tod entkommen. Bei der anschließenden Schießerei war sie ebenfalls mit heiler Haut davon gekommen, während ihr Begleiter einen Armschuss erlitten hatte. Sie war einfach auf den Schützen zugegangen, trotz der steten Gefahr erschossen zu werden. Dass sie unverletzt gewesen war, grenzte an ein Wunder. Als hätte ein unsichtbares Schutzschild sie umgeben, das alle Kugeln von ihr fernhielt.

      "Wir beobachteten durch einen Spiegel die Szene, der im Flur hing. Eigentlich sah anfangs alles harmlos aus. Als schulde der Mann ihnen Geld, das sie nun eintreiben wollten."

      "Aber sie wollten kein Geld, sondern die Gegenstände, die er im Internet angeboten hatte", ergänzte Mona.

      "Und als er ihnen sagte, er habe die Gegenstände nicht mehr, wollten sie es ihm nicht glauben. Einer der Männer zückte ein Messer und bedrohte ihn, doch der Mann sagte immer nur, er habe die Gegenstände nicht mehr."

      "Hast du gesehen, was er auf seinem Arm tätowiert hatte?", warf Mona ein.

      "Nein", schüttelte Karla den Kopf. "Mir wurde die Situation zu brenzlig und ich suchte nach einem Versteck für uns. Denn wer weiß, wie die zwei reagiert hätten, wenn sie uns entdeckt hätten. Was war denn da auf seinem Arm? Ich erinnere mich nicht mehr."

      "Das war so eine Art Kreis und da drin befand sich eine Pupille oder etwas, was so ähnlich aussieht. Es war nicht gut zu erkennen. Er bewegte sich andauernd und sein Ärmel bedeckte fast die Hälfte des Tattoos. Na ja, und dann bei der dunkleren Haut."

      "Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Isis scheint dir ohnehin nicht zuzuhören."

      Nachdenklich blickte Isis auf die Tischplatte. Irgendwo hatte sie schon einmal so etwas gesehen, wie Mona es beschrieben hatte. Ein Kreis und eine Pupille. Sie sah die Abbildung undeutlich vor ihrem geistigen Auge, konzentrierte sich auf die Zeichnung, die langsam schärfer wurde bis die junge Ägyptologin sie klar erkennen konnte. Die Pupille war ein Auge. Das Auge des Horus und der Kreis mussten für Rê stehen. Es war Jahre her, dass sie diese Abbildung gesehen hatte. Für Humbug hatte sie es gehalten und wieder vergessen.

      "Der wahre Horus. Du hast keine Pupille gesehen, sondern ein Auge. Das Auge des Horus, welches er im Kampf mit seinem Onkel Seth verlor. Es wurde wieder zusammengesetzt und galt seitdem als Glücksbringer".

      "Du kennst dieses Zeichen?", fragte Karla verwundert.

      "Nenn mir mal etwas, was Isis nicht kennt."

      "Die Gangschaltung eines Autos. Sie kann nur Automatik fahren."

      Isis verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts. Ihren Führerschein hatte sie in einem Auto mit Kupplung gemacht, allerdings nie wirklich verstanden, wann man die Gänge wechselte oder die Kupplung trat. Und so war sie auf ein Auto mit Automatikschaltung umgestiegen. Nie mehr Gänge schalten, die Kupplung treten oder die Handbremse anziehen. So sah entspanntes Fahren aus.

      "Quatsch, das meine ich nicht. Ich rede von Allgemeinbildung", sagte Mona.

      "Sie liest viel, sagt sie jedenfalls immer. Und woher kennst du nun dieses Horusdings im Kreis?"

      "Ich hab' da mal was gelesen."

      "Siehst du", sagte Karla triumphierend. "Ich hatte recht."

      "Lass sie ausreden."

      "Das ist schon Jahre her und eigentlich habe ich an dieses Symbol auch gar nicht mehr gedacht. Es stand in so einem schwachsinnigen Artikel über eine angebliche Geheimgesellschaft im alten Ägypten, die sich Hüter des wahren Horus nannten. Angeblich sorgten sie dafür, dass die Maat im Gleichgewicht blieb. Dafür soll ihnen jedes Mittel Recht gewesen sein, auch Mord.

      Ich habe den Artikel damals nicht sonderlich ernst genommen, weil der Autor Sensationsliteratur verbreitet, ohne wirklich Beweise in der Hand zu haben. Aber die Mehrheit der Leute interessiert das nicht und kauft seine Bücher. Ihr glaubt nicht, wie viele deshalb Ägyptologie zu studieren beginnen und nach einem Semester frustriert das Studium abbrechen."

      "Und die gehören zu dieser Geheimgesellschaft? Diese Gestalten, die wir gestern gesehen haben: Araber oder Ägypter."

      "Ich glaube nicht daran, dass diese Geheimgesellschaft je existiert hat. Es wird viel geschrieben, um Geld zu verdienen. Man muss nur das Schreiben, was die Leute auch lesen wollen. Und Geheimgesellschaften gehen immer. Das wissen wir nicht erst seit Dan Brown."

      "Soll es sich um Zufall gehandelt haben? Die wollten ausdrücklich die Gegenstände und die sind doch ägyptisch, oder etwa nicht?"

      Mona klang verärgert, da Isis ihr anscheinend nicht glauben