José Luis de la Cuadra

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers


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zum Restaurieren übergeben. Zur Freilegung des Originalbildes. Viele Ikonen wurden in den letzten Jahrhunderten übermalt. Alex beherrscht seinen Beruf wie kein anderer. Seine Lösemittel sind legendär. Nicht nur, dass er es versteht, Originale freizulegen, er lässt sie auch in neuem Glanz wiederauferstehen. Dadurch vervielfacht er ihren Wert.

       Ist er soeben Besitzer dieser Kasaner Ikone geworden? Der legendären Kasanskaja?

       Oder ist er einem fiesen Trick erlegen? War die Verzweiflung der Frau gespielt, um ihm eine Ikone anzuhängen, die sie loswerden wollte? Eine Ikone, die sie und nun ihn in Gefahr bringen würde? Wäre nicht dieser vermaledeite Telefonanruf ...!

       Was hier geschieht, gefällt Alex nicht. Er ist nicht in Stimmung, sich weitere Probleme aufzuhalsen. Auch wenn er nicht abgeneigt wäre, eine Kasanskaja zu besitzen, muss er der Frau die Tasche zurückgeben, wissen wer sie ist. Ihre Motive kennen. Herausfinden, warum sie davongerannt ist.

       Ich muss die Frau finden!

       Alex verstaut die eingepackte Ikone, schließt die Tasche, klemmt sie unter den Arm und geht zum Uferweg.

       Das Unheil lässt nicht lange auf sich warten. Ihm wird schwindlig. Die Beine wollen ihm nicht gehorchen. Es ist, als wollten sie ihn warnen. Aber wovor?

       Ich sollte die Ikone ins Atelier bringen, um sie und mich vor möglichen Gefahren zu schützen.

       Der Ikonenmaler bleibt stehen und lehnt sich an einen Baumstamm. Er bekommt kaum mehr Luft. Der Atem pfeift. Mit der Hand greift er in die Tasche seiner Jeans und klaubt einen Dosierspray hervor. Das Mittel für Notfälle. Er kriegt den Verschluss nicht auf und sinkt auf die Knie. Dunkelheit überkommt ihn. Mit letzter Kraft gelingt es ihm, den Deckel zu entfernen und einen Hub des Medikaments zu inhalieren.

       Als die Lebensgeister zurückkehren, findet sich Alex am Boden liegend. Er hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist.

       Unsicheren Schrittes folgt er den Fussspuren der Frau, die in der weichen Erde deutlich sichtbar sind. Dabei stolpert er mehrmals über Wurzeln. Die Äste der schief stehenden Bäume schlagen ihm ins Gesicht. Der Morgennebel trübt die Sicht. Sein Puls pocht wild. Wie durch ein Fernrohr blicken ihm die panischen Augen der Frau entgegen. Er ruft laut nach ihr. Hallo, hallo, warten Sie! Ich muss mit Ihnen sprechen. Sein Atem stockt erneut und er glaubt, sich übergeben zu müssen.

       Alex hält an und stützt die Arme auf den Oberschenkeln ab. Er schließt die Augen, um das anschwellende Schwirren in seinem Kopf zu vertreiben. Stattdessen verstärkt es sich zu einem Crescendo hässlichen Lärms. Plötzlich blitzt ein Messer auf, dann wird es still in seinem Kopf. Als er aufblickt, traut er seinen Augen nicht. Seinen Lippen entweicht ein Schluchzen, fast ein Heulen.

       Die Frau liegt unmittelbar vor ihm in einer Blutlache. Mitten im Gestrüpp. Der Kopf ist zur Seite gedreht, die Haarspitzen tanzen im Wasser des Flusses. Die Bluse ist aufgerissen und in der Mitte des Körpers klafft eine Wunde. Die Beine sind gespreizt. Ein Schuh steckt in der Erde, der andere hängt an einem Ast. Neben der Leiche liegt ein blutiges Messer.

       Alex taumelt. Wer ...? Das Messer ...!

       Hört er Schritte hinter sich?

       Sein Kopf explodiert. Dunkelheit umgibt ihn. Er fällt in ein schwarzes Loch.

      2

       Alex erwacht auf der Intensivstation des nahen Privatspitals. Als er versucht, die Augen zu öffnen, sieht er durch das Gitternetz seiner Wimpern verschwommene Köpfe. Ein helles Licht blendet ihn. Lippen bewegen sich. Alex kann nichts verstehen. Er möchte schreien, bringt aber keinen Laut heraus. Es ist, als steckte eine fette Kröte in seinem Hals. Seine Glieder fühlen sich teigig und geschwollen an. Er versucht, die Finger zu bewegen, was ihm nicht gelingt. Die rechte Grosszehe lässt sich nach oben ziehen, dann auch die linke. Er kann die Knie um wenige Zentimeter anheben. Dabei bemerkt er, dass eine Decke auf ihnen lastet. Er scheint in einem Bett zu liegen. Aber wo ist sein Kopf? Er kann ihn nicht spüren. Jemand muss ihn abgeschlagen haben. An seiner Stelle liegt ein Klumpen Schmerz. Und dann ist da dieses schwarze Loch, in das er hineingefallen ist.

       Kann man in ein Nichts fallen? In ein schwarzes Nichts?

       In seinem Kopf ist Leere.

       War da eine Frau? Auf der Bank? Auf meiner Bank?

       «Herr Popow, hören Sie mich?»

       Ich bin hier.

       «Öffnen Sie die Augen.»

       Sie sind offen. Ich sehe trotzdem nichts. Nur Wimperngitter.

       «Versuchen Sie, die Finger zu bewegen.»

       Geht nicht.

       «Sie haben die Beine bewegt.»

       Ich weiss.

       Jemand macht sich an seinen Augen zu schaffen. Sein oberes Lid wird brutal nach oben gezogen, eine Lichtquelle hin- und hergeschwenkt. Alex versucht erneut zu schreien. Diesmal kann er ein leises Krächzen hervorbringen. Die Gesichter über ihm werden schärfer. Die Menschen, die um ihn herumstehen, sind von seinen Lauten begeistert.

       «Er lächelt! Er Spricht! Hören Sie, wir sind auf der Intensivstation. Sie wurden niedergeschlagen.»

       Aha, deshalb das Loch. Ist es in meinem Schädel? In meinem Hirn? Kann ich mich deswegen an nichts erinnern? Ist das Loch das Nichts, in das ich hineingefallen bin?

       «Ich ... ich ... bin im Nichts.»

       «Nein, Sie haben ein Loch im Schädel. Sie werden sich erholen.»

       «Aber ... ich weiß ... nichts mehr. Keine Ahnung, was geschehen ist. Ich sehe eine Frau, dann ist Filmriss.»

       «Sie müssen Geduld haben. Sobald es Ihnen besser geht, wird Sie die Polizei vernehmen.»

       «Die Polizei? War ich in eine Schlägerei verwickelt?»

       «Es wurde jemand ermordet.»

       «Wer ...? Ich ...? Habe ich ...?»

       Alex beginnt am ganzen Leib zu zittern.

       «Bitte regen Sie sich nicht auf. Sie sollen sich jetzt ausruhen. Schlafen Sie ein wenig.»

       Zuerst wach werden, dann schlafen. Ein Loch, ein Nichts. Und ein Mord. Was habe ich getan?

       Eine Krankenschwester macht sich am Infusionsschlauch zu schaffen. Alex erkennt ihre Gesichtszüge. Große Augen, geschwungene Lippen, ein leises Lächeln hinter Haarsträhnen.

       «Schwester ...?»

       «Der Arzt sagt, Sie sollen schlafen.»

       «Solange ich nicht weiß, ob ich ein Mörder bin, kann ich nicht schlafen. Sagen Sie mir: Bin ich ein Mörder?»

       «Sie sehen nicht danach aus. Obwohl ..., es heißt, Mörder sähen aus wie Sie und ich, also wie ganz normale Menschen.»

       Normale Menschen? Wie ich? Ich soll normal sein? Oder ein Mörder?

       Alex schluckt trocken.

       «Schwester, wie groß ist mein Loch?»

       «Es liegt eine Gaze darüber, ich habe es nicht gesehen.»

       «Aber wenn ich ein Loch im Kopf habe, weshalb sollte ich ein Mörder sein?»

       Die Schwester streicht ihm über die Wange.

       «Schlafen Sie jetzt. Es ist schon Mitternacht.»

       «Würden Sie mir einen Gefallen tun?»

       «Kommt drauf an.»

       «Bitte rufen Sie morgen meinen Psychiater an. Mit meinem Kopf stimmt etwas nicht. Er heißt Professor Wiesel, Eugen Wiesel. Er ist mein Therapeut.»