José Luis de la Cuadra

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers


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Schmerzspritze geben?»

       «Ich weiß nicht, ob das hilft. Mein Körper ist eine einzige Masse Schmerz. Aber ich glaube, der Schmerz sitzt im Gehirn. Ich fühle mich schuldig. Nicht noch ein weiterer Mord! Ich habe schon meine Frau umgebracht, mit einem Messer. Das glaube ich wenigstens. Vielleicht hat auch sie es getan. Ich ...»

       Alex hört, wie sich die Zimmertüre hinter der Schwester schließt. Das Licht ist ausgegangen.

       Die Dunkelheit umgibt ihn wie ein bleierner Mantel und zieht ihn immer tiefer hinunter. Er wähnt sich in seinem Atelier. Die heiligen Gestalten seiner Ikonen treten aus den Holzplatten und bilden einen Kreis um ihn herum. Sie schützen ihn vor dem Ungemach, welches sein Leben zu zerstören droht. Er sieht die Leiche seiner Frau, die Blutlache, das Messer. Dann streift er durch den Wald am Flussufer und steht vor einer Toten. Wer ist sie? Die Russin? Seine Frau? Wessen Blut klebt am Messer?

       Plötzlich liegt er in den Kissen der Behandlungsbank seines Therapeuten. Professor Wiesel raucht eine Havanna und bläst ihm den Rauch ins Gesicht. Der Rauch zieht zur Decke und formt sich zu einem Wort: WARUM?

       Am Morgen weckt Alex der Duft eines Parfums. Es ist die Krankenschwester mit den großen Augen und den geschwungenen Lippen. Sie hat sich zurechtgemacht und misst ihm Temperatur, Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Sie riecht gut.

       «Sie sind fit, Herr Popow, guten Tag.»

       «Wurde der Professor avisiert?»

       «Sie könnten mir einen guten Tag wünschen, so wie ich es getan habe, und ... nein, der Arzt hat es verboten. Zuerst die Polizei, dann der Psychiater.»

       «Diese Reihenfolge gefällt mir nicht. Zuerst muss mein Gehirn behandelt werden. Ich weiß nichts.»

       «Sie müssen das mit dem Arzt besprechen. Er kommt gleich. Möchten Sie frühstücken?»

       «Mir steckt immer noch eine Kröte im Hals. Vielleicht können wir mit einer Tasse Kaffee beginnen.»

       «Hier kommt Ihr Arzt. Ich werde den Kaffee später bringen. Wenn es lange dauert, werde ich Sie dem Frühdienst übergeben.»

       Ich werde mich ohnehin gleich übergeben.

       Der Arzt ist ein Mittvierziger. Hornbrille. Laptop. Stethoskop um den Hals gelegt (damit man sieht, dass er Arzt ist).

       «Herr Doktor, ich brauche meinen Psychiater. Mein Kopf ist leer.»

       «Wir haben in der Computertomographie keine Hirnläsionen gefunden. Sie können also ganz beruhigt sein. Übrigens wartet die Polizei im Vorraum. Ihre Überwachungskurven zeigen keine Auffälligkeiten. Also sind Sie vernehmungsfähig. Bevor sie aufgewacht sind, haben wir die Kopfverletzung frisch verbunden. Sie wurde genäht und ist reizlos. Wir werden Sie noch 24 Stunden überwachen, dann können Sie nach Hause gehen. Ihr Psychiater wird Sie in seiner Sprechstunde erwarten. Wir werden für Sie einen Termin vereinbaren. Heute ist Mobilisationstag, das heißt, Sie werden mit Unterstützung der Physiotherapie auf die Beine gebracht. Haben Sie noch Fragen?»

       Was soll es da noch zu fragen geben? Alles klar. Einfach aufstehen , mobilisieren und verschwinden. So einfach ist das.

       «Ihre Ausführungen sind klar und abschliessend, Herr Doktor. Ich habe keine Fragen.»

       «Einen guten Tag noch. Ich werde jetzt die Beamten hereinbitten.»

       Beamte? Na bitte schön.

       «Guten Tag Herr Popow. Mein Name ist Paul Wehrlen, Kriminalkommissar. Und das ist Peter Ott, mein Assistent. Wir hoffen, Sie fühlen sich gut und möchten Sie zu den Ereignissen am Fluss befragen.»

       «Bin ich verhaftet?»

       «Wie kommen Sie darauf?»

       «Mein Kopf ist nicht in Ordnung. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist und befürchte, ich könnte etwas Schlimmes angerichtet haben.»

       «Sie meinen, Sie könnten der Mörder sein?»

       «So kann man es ausdrücken.»

       «Sie wurden von hinten niedergeschlagen. Wir glauben, dass das der Mörder war. Können Sie etwas dazu sagen?»

       «Nein, kann ich nicht. Ich war nicht bei Sinnen, irgendwie verwirrt. Meine Erinnerung ist weg. Heute Nacht habe ich eine Leiche gesehen, aber das war ein Traum. Ich glaube, es war meine Frau. Sie wissen sicher, dass meine Frau ...»

       «Sie wollen sagen, Ihre Frau ist tot? Nicht nur im Traum?»

       «Ja, nicht nur im Traum.»

       «Das tut uns leid. Wir wussten es nicht. Ist es nicht sonderbar, dass Sie von einer Leiche träumen, nachdem Sie gestern in unmittelbarer Nähe zu einer solchen niedergeschlagen wurden, sich aber an die Tote nicht erinnern?»

       «Sie sagen es. Ich glaube, es muss einen Zusammenhang geben. Ich meine, zwischen mir und der Leiche. Zumindest in meinem Kopf.»

       «Nun, wie dem auch sei, Ihr Arzt sagt, dass Ihre Erinnerung zurückkehren wird. Sie leiden an Amnesie, verursacht durch den Schlag. Wir werden Sie später darüber befragen. Vielleicht wissen Sie aber, wo Sie sich vor dem Ereignis aufgehalten haben.»

       «Nein, aber ich kann raten. Ich gehe fast täglich an den Fluss. Ganz in der Nähe, zwischen Bäumen, steht eine Bank. Meine Lieblingsbank. Es ist ein Ort der Stille und des Friedens. Man hört nur das Gurgeln der Wellen, das Zwitschern der Vögel und anderes mehr. Die Stimmung beruhigt mich. Mein Psychiater sagt, ich brauche das. Ich leide nämlich an Ikonomanie.»

       «An Ikono-was?»

       «IkonoMANIE, eine seltene Form der Depression. Meine Frau, Sie wissen ...»

       «Ja, ja, das haben Sie erwähnt. Wenn ich Sie richtig verstehe, könnten Sie sich also vor dem Mord in der Nähe des Tatorts am Fluss aufgehalten haben. Kennen Sie eine Frau Namens Tanja Fedorowna? Eigentlich heißt sie Tatjana, aber in ihren Dokumenten steht fast überall Tanja, der Verniedlichungsname.»

       Wehrlen hält ihm eine Fotografie vor die Augen.

       «Der Name sagt mir nichts. Ist das die Ermordete?»

       «Allerdings. Sie ist Russin.»

       Der Kommissar runzelt die Stirne.

       «Soweit wir unterrichtet sind, haben Sie familiäre Beziehungen zu Russland. Durch Ihre Großmutter. Sie sind Ikonenmaler, spezialisiert auf die Restauration christlich orthodoxer Ikonen. Waren Sie schon einmal in Russland?»

       «Ich war bereits drei Mal dort. Es gibt einige für Ikonenmaler wichtige Orte, an denen berühmte Künstler gewirkt haben oder bedeutende Ikonen gefunden wurden. Es gibt Legenden, die von Wundern berichten. Man kann nicht an Ikonen arbeiten, ohne ihre Geschichten zu kennen.»

       «Wo waren Sie genau?»

       «Nun, ich war in Kasan, Wladimir und Smolensk. Das sind Orte, die berühmten Ikonen den Namen gegeben haben. Ein typisches Beispiel ist die Kasanskaja, die vor ungefähr fünfhundert Jahren in Kasan aufgetaucht ist.»

       «Dann haben Sie also Kontakt zu Russen?»

       «Ich arbeite im Auftrag. In der Regel sind die Auftraggeber aus dem Westen, aus England, USA, Deutschland. In diesen Ländern gibt es viele russische Exilgruppen aus der Sowjetzeit. Sie haben oft Ikonen mitgebracht, die sie aus den Kirchen gerettet haben, bevor diese durch die Kommunisten zerstört wurden. Manchmal handelt es sich um übermalte Objekte. Man bittet mich dann, das ursprüngliche Bild freizulegen.»

       «Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu irgendwelchen Russen, oder zu Personen mit russischen Namen?»

       «Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Ich spreche nicht gut russisch.»

       War da nicht eine Frau mit russischem Akzent auf der Bank?

       «Diese Frau, Tanja Fedorowna, ist hier nicht gemeldet. Sie ist möglicherweise kürzlich eingereist. Haben Sie zurzeit einen Restaurationsauftrag?»