José Luis de la Cuadra

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers


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es ist, meine Arbeit weiterzuführen.»

       «Du willst sagen, dass die Verherrlichung der Gottesmutter deine Seele heilt? So wie es die alten Russen machten, die ihre Ikonen in der Schlacht hochgehalten haben, um den Sieg zu erringen? Als dein Psychiater kann ich das verstehen, aber nur aus dem Blickwinkel der Tiefenpsychologie. Ich muss dich davor warnen, dich im Mystizismus der christlichen Orthodoxie zu verlieren. Du hast zwar russische Wurzeln. Diese Welt ist aber nicht die deine. Das Einzige, was dich mit dem russischen Mystizismus verbindet, ist dein Beruf des Ikonenrestaurators. Und wahrscheinlich deine Krankheit, die Ikonomanie.

       Du bist ein faszinierender Einzelfall, Alex. Die heutige Generation leidet an der Sucht zur Selbstdarstellung. Wir nennen das auch Ikonomanie. Man fotografiert sich und entblösst sich anschließend in den sozialen Medien oder man ergötzt sich an sich selbst und eifert den Idolen nach. Diese Form der Ikonomanie gilt als gesellschaftsfähig und nicht als krankhaft. Aber du ..., du betreibst ein Ritual der Selbsterkenntnis mit Hilfe alter Archetypen. Du gehorchst den Ikonen, die dir Dieses und Jenes versprechen. Du leidest an der Krankheit in ihrer reinsten Form. Nur ..., mitunter schleichen sich fremdartige Ideen und Überzeugungen in deinen Kopf, wie zum Beispiel Messermorde. Ich will nur hoffen, dass du die Auswüchse deines Gehirns nicht in die Tat umgesetzt hast.»

       «Du kannst hoffen, was du willst, Eugen. Wenn ich an meinen Ikonen arbeite, eröffnet sich mir eine ekstatische Verbundenheit mit einer Welt, die mich weit über die profane Wirklichkeit meines armseligen Lebens hinwegträgt. Ich bin dann nur noch Gast auf dieser Welt und pilgere zum heiligen Berg Athos, wie es die russischen Gottsucher und Ikonenmaler damals zu tun pflegten. Auf dem Rückweg besuche ich ein Höhlenkloster, wo mir die Starzen und Mönche den Weg weisen. Dann weiß ich: Ich bin befugt, meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen zu Ende zu führen.

       Die Messermorde sind keine Hirngespinste, Eugen. Sie suchen mich und sie finden mich. Ich bin wehrlos gegen sie. Wurde ich nicht neben Tanjas Leiche aufgefunden? Und meine Frau Natalie, lag sie nicht in ihrem Blut? Es gibt sehr wohl Messer und Tote in physischer Nähe zu mir. Dass mich Delikte verfolgen, ist nicht meine Einbildung. Sie gehören zu mir.

       Ob ich ein Mörder bin oder nicht, werden wir sehen. Man hat mir eine DNA-Probe abgenommen. Irgendwo an der Leiche oder am Messer muss der Täter Spuren hinterlassen haben.»

       «Langsam frage ich mich, Alex, ob du den Psychotherapeuten spielst. Willst du auf meinem Stuhl Platz nehmen?»

       «Nein, ich arbeite lieber mit den Händen und erschaffe mir Kraft meines Körpers meine eigene Welt. Es ist die urtümlichste Art, sich zu verwirklichen.»

       «Irgendwie muss ich dich bewundern. Du erschaffst aus Handwerk Geistiges, begegnest nach einem Mord der Getöteten und machst ein Messer zur Nabelschnur zweier Taten. Ich finde, dein psychischer Zustand nimmt brillante Formen an, Alex. Aber du weißt, was deine Frau angeht, bin ich nicht deiner Meinung. Wir werden ein anderes Mal darüber sprechen. Ich wurde nämlich gebeten, einen Diskurs über die Beziehung zwischen Ikonomanie und den Abgründen der menschlichen Seele zu halten. Und mein Vortrag vor der Gesellschaft für sakrale Mystik beginnt in exakt fünfundzwanzig Minuten.»

       «Ich wünsche dir viel Erfolg.»

       Alex bleibt lange im Sprechzimmer des Professors sitzen. Die Gedanken jagen ihn. Das Gespräch mit dem Psychiater hat nicht viel gebracht. Er fühlt sich keinen Deut besser. Die Ungewissheit nagt immer mehr an seinem Verstand. Was ihn am meisten beunruhigt, ist das wiederholte Aufblitzen der Messerklinge in seinem Kopf. Hier muss es einen Zusammenhang zu den Ereignissen geben. Kein Gehirn kann etwas speichern, das nie stattgefunden hat. Keine Datenplatte speichert Bits, die nicht eingegeben wurden. Auch Erinnerung ist nichts anderes als neuraler Transport von Impulsen.

       Wie hat Eugen die Messermorde bezeichnet? Als fremdartige Ideen? Wie kann ein Psychiater Ideen als fremdartig bezeichnen, wenn sie dem menschlichen Gehirn entspringen? Für ihn, Alex, sind die Messer die Instrumente, die sein Leben zerschnitten haben. Unabhängig davon, ob sie zum Morden benutzt wurden oder nicht. Auch wenn sein Erinnerungspegel auf null gesunken ist, steht für ihn fest, dass die Messer einen Bezug zur Wirklichkeit haben. Insofern muss er seinem Psychotherapeuten widersprechen.

       Mit Eugens Ansichten kann er sich einfach nicht anfreunden. Ein Seelenklempner kann sich nicht ins Gehirn seines Patienten setzen. Er kann nur Symptome interpretieren. Niemals wird Alex die Arbeit an der Ikone unterbrechen.

       Diese Arbeit ist für das seelische Gleichgewicht des Ikonenmalers zu wichtig. Ebenso erscheint ihm widersinnig, dass er die Bank am Fluss meiden soll. Dort hat das Unheil begonnen, jedenfalls das zweite. Er muss sich der Wirklichkeit stellen, will er seinem entleerten Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wo könnte das besser gelingen, als in der Nähe des Tatorts? Wer könnte ihm besser helfen als seine Halluzination der toten Tanja, wenn es denn eine ist?

      4

       «Ich habe auf Sie gewartet».

       Die Stimme gehört der Frau mit dem blonden Haarschopf. Alex erkennt die Russin sofort. Sie sitzt auf seiner Bank. Er weiß nicht, ob er erfreut sein oder panisch werden soll. Ungefähr zehn Schritte vor der Frau hält er an. Er sieht sie von hinten. Sie hat einen Arm über die Rückenlehne geschlagen. Ein völlig normaler Anblick. Alex findet es allerdings merkwürdig, dass das Plätschern des Wassers nicht zu hören ist. Auch die Vögel sind verstummt. Er reibt sich am Ohr. Totenstille. Leichenstille, könnte man sagen.

       Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten. Nummer eins: davonrennen. Nummer zwei: mich der Wahrheitssuche opfern. Option Nummer zwei macht mir zwar Angst, aber sie ist die Favoritin. Wenn ich etwas für mein Gedächtnis tun will, MUSS ich mich auf die Bank setzen. Ganz nach dem Motto ‘retten, was noch zu retten ist’.

       Es liegt nicht in seiner Natur, vor den Schrecken des Lebens zu fliehen. Also nähert sich Alex der Frau. Dabei hält er sie fest im Blick, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich sitzen bleibt. Sie bleibt. Je mehr er sich abmüht, die Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren, umso mehr erscheinen ihm ihre Konturen unscharf. Und noch etwas fällt dem Ikonenmaler auf: Die Frau bewegt sich nicht.

       Wenn man eine Tote sieht, die nicht mehr tot ist, und die wie eine Lebendige aussieht, dann fragt man sich, ob die Beobachtung in der Wirklichkeit angesiedelt ist. Aber das Knirschen seiner Schritte auf dem steinigen Weg beruhigt Alex: Die vertrauten Geräusche sprechen für das reale Hier und Jetzt.

       Der Ikonenmaler setzt sich. Er schaut die Frau nicht an, sondern blickt geradeaus Richtung Fluss.

       «Ich dachte, Sie wären tot.»

       «Aber nein, mein Lieber. Können Sie sich nicht erinnern? Wir treffen uns nicht zum ersten Mal. Wo ist die Ikone?»

       «Was meinen Sie damit?»

       «Sie haben richtig gehört: wo ist die Tasche mit der Ikone, die ich Ihnen gegeben habe?»

       «Sie haben mir eine Ikone gegeben?»

       «Stellen Sie sich nicht dumm.»

       «Sind Sie die Frau, deren Ikone ich in meinem Atelier restauriere?»

       «Ich weiß nicht, wohin Sie die Ikone gebracht haben und was Sie mit ihr anstellen wollen.»

       «Nun, ich werde Sie restaurieren, mein Bestes geben.»

       «Tragen Sie Sorge, sie ist sehr wertvoll. Es kann sein, dass die Ikone Sie in Gefahr bringt.»

       «Sie meinen, man könnte mich ermorden? Aber Sie sind doch selbst ... Nun gut, sagen wir es so: Ich bin einfach erstaunt, Sie hier lebend anzutreffen.»

       «Ich weiß, man ist hinter mir her. Jetzt könnte man hinter Ihnen her sein.»

       «Weil ich ... Sie ermordet habe?»

       «Mein Lieber, ich sitze hier neben Ihnen auf einer Bank. Bin ich tot?»

       «Das frage ich mich die ganze Zeit.»

       «Sie sprechen mit einer Leiche? Also wirklich, Alex, jetzt übertreiben Sie.»

       «Woher kennen Sie meinen Namen?»