José Luis de la Cuadra

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers


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Frau mich verlassen hat, suche und finde ich Trost bei ihnen. Sie sind so etwas wie meine Familie. Ein Ort der Besinnung, der Begegnung, wenn Sie so wollen.»

       «Ihre Frau hat Sie verlassen? Für einen Anderen?»

       «Nein, nein, Sie haben mich falsch verstanden. Sie hat mich unwillentlich verlassen. Ich meine, Sie hat ihr Leben durch meine Schuld verloren, durch meine Hand sozusagen.»

       «Sie haben Ihre Frau umgebracht?»

       «Das ist die gängige Meinung. Der Therapeut spricht zwar von einem erzwungenen Suizid. Vielleicht wissen Sie, was das ist.»

       «Ja, Sie haben Ihre Frau in den Freitod getrieben. Und ... stimmt es?»

       «Es könnte sein. Aber da ist dieses Messer. Ich bin mir nicht sicher, wer es benutzt hat, sie oder ich.»

       «Läuft keine polizeiliche Untersuchung?»

       «Das Problem ist, dass man ihre Leiche noch nicht gefunden hat. Und wegen meines aktuellen geistigen Zustandes kann ich mich nicht erinnern, was wirklich geschehen ist. Auf jeden Fall ist sie nicht mehr hier und ich quäle mich mit Schuldgefühlen.»

       «Wo ist das Messer, das Sie soeben erwähnt haben?»

       «Es schwirrt in meinem Kopf herum. Was mich beunruhigt, ist das Blut auf seiner Klinge. Und was mich noch mehr beunruhigt ist, dass es noch ein zweites Messer gibt, das auch blutig war. Es lag neben mir, nachdem ich niedergeschlagen wurde. Entschuldigen Sie, ich habe vergessen zu erwähnen, dass in unmittelbarer Nähe des zweiten Messers eine Leiche lag. Deshalb glaube ich, dass ich ein Mörder bin.

       Sie haben nichts zu befürchten. Obwohl es sich bei der Leiche um eine Frau handelt, scheint mir Ihr Leben nicht in Gefahr zu sein. Sie haben ja nichts mit Ikonen zu tun.»

       Claudia scheint etwas ratlos zu sein. Sie wippt auf dem Schemel hin und her. Dann erhebt sie sich und stellt sich vor die Staffelei.

       «Geht es um die Ikone, die sich wohl hinter diesem Tuch befindet?»

       «Davon bin ich fest überzeugt. Sie ist sehr kostbar und ich werde sie so bearbeiten, dass sie noch kostbarer wird. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass andere an ihr interessiert sind.»

       «Warum haben Sie sie zugedeckt?»

       «Zu ihrem Schutz. Damit sie niemand sieht. Nicht zuletzt auch zu meinem Schutz.»

       «Sie meinen, Sie könnten zum Mörder werden, sobald jemand die Finger nach ihr ausstreckt? Ist es das, was Sie sagen wollen?»

       «Ich denke schon. Die Ikone wurde mir anvertraut und ich wurde gewarnt. Ich kann nicht zulassen, dass sie abhandenkommt.

       Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich bin wegen der Ikone bereits zum Mörder geworden. Dort unten am Fluss, bevor ich neben der Leiche lag.»

       «Alex, irgendetwas stimmt hier nicht. Entweder ist Ihr Hirn wirklich krank – und das sagt Ihnen eine Schizophrene – oder Sie sind in die Hände von Kriminellen geraten.»

       «Das sehe ich genauso. Beides scheint mir zuzutreffen. Nun, das Erstere etwas weniger.»

       Alex prostet seiner Nachbarin zu und nimmt einen Großen Schluck Wein.

       «Wir sind also zwei Kranke, die versuchen, die Welt so zu sehen wie sie ist und dabei vergessen, dass es nicht ihre Welt ist.»

       «Wenn Sie mich fragen, Alex, interessiert mich die reale Welt sowieso nicht. Ich fühle mich wohl in meinem selbst gebastelten Universum.»

       «Ich könnte Ihnen dasselbe erzählen. Nur, wenn man einen Schlag auf den Schädel bekommt und ohne Gedächtnis im Spital aufwacht, dann hat man gar nichts mehr. Weder die reale noch die andere Welt.»

       Alex hat schon zweimal Wein nachgefüllt. Er fühlt sich erstmals seit seiner Bewusstlosigkeit richtig wohl in seiner Haut. Er ist Claudia dankbar, dass sie in sein Leben getreten ist und ihn versteht. Wenn er sie anschaut, glaubt er, in ihren leicht schiefstehenden Augen eine Tiefe zu erkennen, in die er leicht hineinstürzen könnte. Mit aller Kraft krallt er sich an den Stuhl. Dabei beginnt etwas in ihm zu gären. Er spürt eine Ahnung. Die Frage liegt ihm auf der Zunge.

       «Claudia?»

       «Alex?»

       «Also, Claudia, etwas würde mich interessieren. Ich hoffe, nicht indiskret zu sein. Was spielt sich genau ab, wenn Sie in Ihrer, sagen wir mal, schizophrenen Phase sind? Sehen Sie Dinge?»

       «Nun ja, ich sehe und höre, was andere nicht wahrnehmen können: Halluzinationen. Manchmal sind es Stimmen, bedrohliche, befehlerische, verletzende. Es kommt vor, dass hinter einer Stimme Tiere zum Vorschein kommen. Je nachdem, was die Stimme mir vorwirft, kann es ein Schwein sein, oder ein wolfsähnlicher Hund. Einmal kam ein Affe und kreischte mich an. Häufig präsentieren sich menschliche Gestalten, manchmal ein Lehrer mit einer Peitsche in der Hand. Am unheimlichsten finde ich den Geistlichen, so eine Art Messias mit Bart. Ich nenne ihn Barty. Er wirft mir vor, ich sei eine Hure.

       Stellen Sie sich vor, kürzlich habe ich seine Stimme vernommen. Sie war tiefer als sonst, aber er war es. Ich habe die Stimme ganz klar erkannt. Es fällt mir erst jetzt auf, nachdem wir über Ikonen gesprochen haben. Er sagte wortwörtlich: GEH UND ÜBERGIB DAS BILD. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Was für ein Bild sollte ich übergeben? Das Hurenbild, das er sich von mir macht? Das gibt es nicht. Ein Selfie von mir? Ich habe hunderte. Und wem sollte ich überhaupt ein Bild übergeben?»

       Die Gesichtsfarbe des Ikonenmalers weicht einer zunehmenden Blässe. Sein Schädel brummt und Alex versucht krampfhaft, sich zu erinnern, was am Tag des Mordes geschehen ist, als er noch auf der Bank sass. Tanja hatte ihm, als sie wieder lebte, gesagt, sie habe ihm eine Ikone übergeben.

       «Claudia, was haben Sie nach dieser Halluzination gemacht? Sind Sie dem Befehl in irgendeiner Art und Weise nachgekommen?»

       «Ich war verzweifelt. Es war vor dem Umzug. Ich war dabei, meine Sachen zu packen und suchte krampfhaft nach einem Bild, ohne zu wissen, was ich eigentlich suchte. Da kam mir die Ikone in den Sinn, die ich während einer Russlandreise erworben hatte. Nichts Besonderes. Billiges Touristenzeug. Immerhin war das Bild auf eine Holzplatte aufgezogen. Wahrscheinlich eine Fälschung oder ein fotografischer Abzug. Ich verstehe ja wirklich nichts davon und habe sie gekauft, weil mir die Gesichtszüge der Gottesmutter gefielen. Ich stellte mir vor, wie schön es wäre, eine solch reine Frau zu sein. Vielleicht habe ich sie zu meinem Vorbild gemacht. Glauben Sie, Barty meinte dieses Bild?»

       «Haben Sie die Ikone jemandem übergeben? Um Gottes Willen, Claudia, sagen Sie mir, wohin Sie die Ikone gebracht haben. Gehen Sie manchmal am Fluss spazieren?»

       «Ich verstehe Ihre Aufregung nicht. Eine solche Ikone kann Sie doch nicht interessieren. Ich kann mich übrigens nicht erinnern, was aus der Ikone geworden ist. Denn noch während des Packens bin ich aus Übermüdung eingeschlafen. Als ich dann weitere Kisten füllte, ist mir die Ikone wieder in den Sinn gekommen. Aber ich habe sie nicht gefunden. Sie ist weg.»

       «Oder, Sie haben ...»

       «Nein, nein, ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie irgendwem übergeben habe. Das meinen Sie doch, oder?»

       «Es tut mir leid. Sie haben Recht. In meiner Verzweiflung, die Ereignisse in klärendes Licht zu rücken, reime ich mir die unmöglichsten Dinge zusammen.»

       «Sie stehen unter Druck, Alex. Ich werde den Verdacht nicht los, dass alles mit Ihren Schuldgefühlen gegenüber Ihrer Frau zusammenhängt. Sie müssen mir gelegentlich mehr über Ihre Ehe erzählen. Auch wenn ich nie verheiratet war – wer will schon eine Schizophrene ehelichen? –, bin ich doch eine Frau. Meine übergrosse Empathie macht mich zu einer guten Beraterin. Wer ist eigentlich Ihr Psychiater?»

       «Professor Eugen Wiesel, ein guter Freund von mir.»

       Bevor Claudia antwortet, nimmt sie einen kräftigen Schluck Wein. Sie verschluckt sich und beginnt zu husten. Es kann kein Zufall sein, denkt sie. Eher ein Fingerzeig des Schicksals. Ein Zeichen der Verbundenheit mit der kranken Welt des Ikonenmanns.