José Luis de la Cuadra

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers


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Fanatiker? Ein Krimineller?

       Alex begibt sich auf den Weg zu seinem Atelier. Es befindet sich unweit der russischen Botschaft in einem ruhigen Wohnquartier.

       Als er vor fünfzehn Jahren mit seiner Frau in den vierten Stock des Mehrfamilienhauses einzog, konnte er im Untergeschoss des Gebäudes einen Lagerraum dazu mieten. Dort richtete er sein Atelier ein. Dort sind seine Ikonen.

       Wie sollte er damals wissen, dass die Ehe mit Natalie in die Katastrophe führen würde? Ihre jugendliche Schönheit hielt ihn gefangen. Mit ihr zusammenzuleben, erfüllte ihn mit Stolz und Genugtuung. Er liebte sie masslos.

       Sie half ihm, das Atelier einzurichten und bewunderte seine künstlerische Begabung.

       Zu Beginn arbeitete er im Auftrag. Man brachte ihm Ikonen, die er liebevoll restaurierte. Zudem verfügte er über Wissen und Geschicklichkeit, übermalte Bilder zu behandeln. Er machte sich einen Namen. Während der Finanzkrise bekam er weniger Aufträge. Als das Geld knapp wurde, entschloss er sich, die eigene Ikonenmalerei wieder aufzunehmen.

       Natalie mischte ihm die Farbmischungen und Lösemittel. Sie besorgte den Einkauf der Materialien und überwachte die Zahlungseingänge. Seine eigenen Werke wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Etliche konnte er verkaufen.

       Trotz unerfülltem Kinderwunsch waren es unbeschwerte Jahre. Die Liebe schien fest verankert und auf die Ewigkeit angelegt. Das Glück hielt an, bis eines Tages dunkle Wolken aufzogen und der geistige Zustand des Ikonenmalers Risse bekam. Er spürte erste Anzeichen melancholischer Abstürze. Immer häufiger begab er sich in sein Atelier. Manchmal blieb er über Nacht. Er fühlte sich in eigenartiger Weise vom Motiv der Gottesmutter angezogen und verfiel dem Mystizismus der russisch-orthodoxen Geisteswelt. Es fehlte nicht viel und er hätte sich, wie die Starzen im alten Russland, in die Einsiedelei eines Höhlenlochs verkrochen.

       Natürlich blieb das nicht ohne Folgen. Der anfängliche Glanz des Ehelebens blätterte ab und in der Beziehung nisteten sich Störgeräusche ein. Alex begann, Natalie mit der heiligen Gottesmutter zu vergleichen. Es war ein Prozess, der nur in den Abgrund führen konnte. Er mündete in Vorwürfe und Demütigungen.

       Natalie reagierte auf ihre eigene Art. Sie schwieg, anstatt ihn zum Teufel zu jagen. Ihre Liebe war ungebrochen und sie vergab ihm seine Launen.

       Der Ikonenmaler begann, das Bild, das er von Natalie in sich trug, zu hinterfragen. Die Übermalung, einstige Faszination, hatte sich gelöst und das darunter liegende Original erschien ihm fremd und unwirklich.

       Der Prozess der Ernüchterung war so schmerzhaft, dass Alex immer häufiger bei seinen Ikonen Zuflucht suchte.

       Er sah die Katastrophe kommen, konnte die unselige Entwicklung aber nicht aufhalten. Es war zu spät.

       Und dann kam die Tragödie.

       Sie war unvermeidlich. Ich musste es tun. Wie hätte Natalie gegen die Gottesmutter bestehen können?

       Schon von Weitem sieht Alex den Zügelwagen vor dem Haus stehen. Zuerst versteht er nicht, was hier vor sich geht. Die absurde Idee, die Polizei hole bereits seine Habseligkeiten für einen Gefängnisaufenthalt, verwirft er nach kurzem Stirnrunzeln. Dank eines winzigen Fensters in seinem Gedächtnisdurcheinander erinnert er sich, dass der Verwalter den Einzug einer Dame angekündigt hat.

       Die vorherige Mieterin, eine dreiundachtzig jährige Alte, war eines Tages tot im Bett liegend aufgefunden worden. Sie hatte sich mit einer Schachtel Schlafmittel das Leben genommen. Zuerst hiess es, möglicherweise habe ihr Neffe sie gezwungen, die Tabletten einzunehmen, da sie an den Armen und Beinen blaue Flecken aufwies. Den Neffen erwartete ein Erbe. Schliesslich war der Staatsanwalt aber zur Auffassung gelangt, dass die Alte mehrmals gestürzt war und es sich um einen freiwilligen Suizid gehandelt hatte.

       Es dauerte mehrere Monate, bis die Nachbarswohnung des Ikonenmalers geräumt war, denn es gab, wie sich herausstellte, noch weitere Erben. Sie lagen sich alle in den Haaren.

       Alex freut sich, dass wieder jemand einzieht. Die stets verschlossene Nachbarstüre wirkte unheimlich auf ihn. Manchmal fragte er sich, ob man vergessen hatte, die Leiche abzuholen.

       Im Treppenhaus steht er plötzlich vor der neuen Mieterin. Sie hält sich rücklings am Geländer fest, um die Zügelmänner vorbeizulassen. Als sie Alex erblickt, lächelt sie. Sie hat ein freundliches Gesicht. Kein alltägliches, wie man es an jeder Strassenecke sieht. Es hat etwas Geheimnisvolles an sich, etwas Tiefgründiges. Als läge hinter dem Gesicht das Bilderbuch einer verletzten Seele. Und da ist noch etwas: Es weist eine leichte Asymmetrie der Augenachse auf, was den Ikonenmaler zuerst irritiert. Aber dann fasziniert ihn die kleine Anomalie. Er sieht in ihr das Tor zu einer inneren Schönheit.

       «Ich bin Ihre neue Nachbarin, falls Sie der Herr sind, der jetzt gleich die Wohnungstür mir gegenüber öffnen wird. Sehr erfreut, Claudia Rossi.»

       Die Frau reicht ihm die Hand.

       «Alex Popow. Ja, ich werde diese Türe gleich öffnen. Wir sind Nachbarn. Es freut mich, dass wieder etwas Leben in dieses Stockwerk einkehrt. Und falls ich irgendwie behilflich sein kann ...»

       «Vielen Dank, es geht schon. Sie sehen nicht danach aus, als wären Sie in der Verfassung, mir zu helfen. Sind Sie dem Teufel begegnet?»

       Die Frau gefällt mir. Es war nicht gerade der Teufel, aber ...

       «Ja, so könnte man das sehen. Ein kleines Malheur. Nichts Besonderes.»

       Lügner!

       «Ein Unfall. Morgen geht es mir besser. Ich hoffe, ich mache keinen allzu schlechten Eindruck auf Sie.»

       «Machen Sie sich nichts daraus. Ich werde morgen bei Ihnen anklopfen, wenn Sie ausgeruht sind. Mit einem Gläschen Wein. So können wir uns kennlernen.»

       «Es könnte schwierig sein. Ich muss arbeiten. Morgen bin ich in meinem Atelier im Untergeschoss.»

       «Toll, dann besuche ich Sie dort. Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist.»

       «Ich ..., nun ...»

       Die Augenachse ...

       «Nein, ich habe nichts dagegen. Würde mich freuen.»

       «Also dann ...»

       Alex öffnet die Türe zu seiner Wohnung und blickt kurz zurück. Claudia lächelt, was ihre Augenachse in Schwingung versetzt. Sie erinnert ihn an jemanden, ohne dass er weiss an wen.

      5

       Das Atelier gleicht auf den ersten Blick einer Abstellkammer.

       Sie müssen wissen, dass es für mich in jedem Durcheinander eine strenge Ordnung gibt. Wir befinden uns gewissermaßen in einer Kathedrale der Seelenbilder. Um die Kunstwerke, die Sie nun erblicken, in ihrer Vollkommenheit zu erfassen, müssen Sie alle Sinne offenhalten. Gewiss werden Sie mir beipflichten, dass Ihnen der Duft des Weihrauchs in die Nase steigt. Sie spüren das sanfte Lüftchen, das durch den Raum schleicht. Es ist der Wind des Engelschlags. Sie hören die Bässe des Männerchors, welche die Wände zum Vibrieren bringen und von der Auferstehung des Messias künden. Sie sehen die leuchtenden Farben, die den Ikonen Russlands eigen sind. Am Ende fühlen Sie aus den Tiefen der Bilder die Wahrheit aufsteigen.

       Wenn Sie alle Eindrücke in sich aufgenommen haben, werden Sie begreifen, wie ein Ikonenmaler seinem Auftrag nachkommt. Denn er ist kein Künstler. Er ist die Hand des Allmächtigen. Seine Arbeiten gehören ihm nicht. Er ist nur das Instrument. Die Ikonen bedürfen der Segnung eines Geistlichen. Erst dann entfalten sie ihre Wirkung auf die Menschen. Und nur so ermöglichen sie die Verbindung der Gläubigen zu Gott. Wenn der Gläubige die Ikone berührt oder küsst, taucht er in die himmlische Welt des Schöpfers ein.

       Jetzt wissen Sie, wer ich bin und was in mir vorgeht, wenn ich eine alte Ikone restauriere. Mein Pinsel bewegt sich, als würde er geführt. Ich gleite in Sphären,