José Luis de la Cuadra

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers


Скачать книгу

bin das Instrument des Herrn.

       Hier, im Untergeschoss, ist das wahre Zuhause des Ikonenmalers. Der ganze Raum ist erfüllt von Mystik. An den Wänden hängen Ikonen an kleinen Haken. Von der Decke pendeln sie an Schnüren. Der Boden ist übersät von Skizzen mit Motiven der Heiligen. Wo der Raum es zulässt, lagern Tafeln aus Linden-, Pinien- und Olivenholz. Auch Nadelhölzer sind dabei. Dazwischen stehen kleine Tische mit in Eigelb gelösten Farbpigmenten, Blattgoldfolien, Pinseln und Versiegelungslacken. In der Mitte des Raumes steht eine Staffelei, in die eine Ikone eingespannt ist. Das ist die Ikone, deren Geheimnis darin besteht, nicht zu verraten, woher sie kommt, wem sie gehört, und ob es einen Auftrag zu ihrer Restauration gibt. In der Luft liegt die Frage, ob das Kunstwerk mit dem Mord am Fluss zu tun hat.

       Alex nähert sich der Ikone gemächlichen Schritts, als würde er sich direkt zum Allmächtigen begeben. Es ist das Bild einer Gottesmutter mit dem Christuskind auf dem Schoss. Eine Darstellung vom Typ der Hodegetria, ein Bild der Madonna von Konstantinopel, einer Maria griechisch-byzantinischer Herkunft. Es ist die Fürsorgende Gottesmutter.

       Alex hat genügend Erfahrung, um zu erkennen, dass die Ikone alt ist. Er vermutet allerdings, dass sie übermalt wurde und dass sich das Original unter der oberflächlichen Farbschicht verbirgt. Dafür spricht der durchscheinende Rand aus Blattgold.

       Der Auftrag dürfte darin bestehen, das ursprüngliche Bild freizulegen, denn niemand würde verlangen, eine Übermalung zu bearbeiten.

       Alex setzt sich auf einen Schemel und versucht, sich in den Zustand der Demut eines Dieners höherer Mächte zu versetzen. Als er die Augen schließt, beginnen sich seine Lippen zu bewegen. In seinem Inneren hört er das unablässige Gebet altrussischer Pilger. Er ist nun auf dem Weg des Lichts. Er ist das Werkzeug ...

       Plötzlich blitz ein Messer vor seinem inneren Auge auf. Ein blutiges Messer. Sein Puls schnellt in die Höhe und sein Kopf scheint zu bersten. Er hält sich die Ohren zu um das Trommelfeuer zu unterbrechen, das sein Gehirn martert. Wie konnte es geschehen? Was hat ihn angetrieben? Woher hatte er das Messer? Warum Tanja? Alles wegen einer Ikone, wegen DIESER Ikone?

       Alex öffnet die Augen und starrt auf die Madonna. Ihr Blick ist emotionslos, streng. Sie schaut geradeaus, neben ihm vorbei in die Unendlichkeit. Es bleibt ihr Geheimnis, was die Entfernung der Übermalung enthüllen wird. Ist die Ikone wirklich so wertvoll, dass sich ein Mord rechtfertigen lässt?

       Tanja sagte, die Ikone sei kostbar. Und sie könnte mein Leben in Gefahr bringen. Glaubte sie, dass mir dasselbe Schicksal bevorstehen würde wie ihr? Kannte sie das originale Bild unter der Übermalung?

       Jetzt ist Alex zu aufgeregt, um an der Ikone zu arbeiten. Die Stimmung ist vorbei. Er bedeckt das Bild mit einem Tuch, geht zum Weihrauchkessel, der zwischen den Ikonen von der Decke hängt, und setzt ihn in Schwingung. Qualm entweicht den Öffnungen. Der Weihrauch ist für ihn eine Droge. Er beruhigt ihn und steigert seine schöpferischen Kräfte. Deshalb ist er stets darum bemüht, die Glut im Innern am Glimmen zu halten.

       In diesem Augenblick klopft es an der Türe.

       Das muss Claudia sein! Sie wird meine fahrige Stimmung sofort bemerken.

       Alex setzt sich geräuschlos auf den Schemel und hofft, dass die Frau sich wieder entfernt.

       Es könnte ja sein, dass ich nicht da bin.

       Das Klopfen wird energischer.

       «Alex, ich weiß, dass Sie da sind. Ich spüre Sie. Bitte öffnen Sie die Türe.»

       Sie spürt mich?

       «Alex, Sie wollen mich nicht zurückweisen, oder? Ich habe den Wein bei mir.»

       Der Ikonenmaler schleicht zur Türe. Er hört die beschleunigten Atemzüge seiner neuen Nachbarin. Seine Hand gleitet zum Türriegel, schiebt ihn zur Seite, dann drückt er die Klinke.

       Claudia hält zwei Gläser tiefroten Weins in den Händen. Sofort fällt Alex wieder das Spezielle ihrer Augenstellung auf. Durch die dezent aufgetragene Schminke wirkt die Asymmetrie noch tiefgründiger, beinahe verführerisch. Der Ikonenmaler findet keine Worte.

       Sie schiebt sich neben ihm vorbei und stellt die Gläser auf den Tisch mit dem Blattgold. Die Spiegelung überzieht den Wein mit einem goldenen Schimmer. Dann setzt sie sich auf den Schemel vor der Staffelei. Alex holt einen zweiten Stuhl, sodass sie sich gegenübersitzen und gegenseitig mustern.

       «Da bin ich. Haben Sie mich nicht erwartet?»

       Claudia blickt sich im Raum um. Ihre Augen erglänzen in freudiger Überraschung. Alex ist peinlich berührt.

       «Toll, einfach toll. Das muss ein Vermögen wert sein. Ich habe noch nie so viele Ikonen auf einmal gesehen. Diese Farben! Sie scheinen die Bilder lebendig zu machen, als könnten die Heiligen aus den Rahmen springen. Sind Sie ein Maler? Ein Künstler?»

       «Ich restauriere Ikonen. Ab und zu male ich selbst.»

       «Sie müssen echt begabt sein, Alex. Ich ... Kommen Sie, wir stoßen an. Auf Ihre Kunstwerke ... und auf Sie.»

       Claudia reicht ihm sein Glas.

       «Halten Sie das Glas am Stiel, dann klingt es schöner.»

       Es klingt nicht nur schön. Der Klang widerhallt tausendfach. Die von der Decke hängenden Ikonen geraten in Schwingung, pendeln, kreisen ... und tragen die Echos durch den ganzen Raum. Der Ikonenmaler hört Glocken unzähliger Kathedralen. Claudia kann sich auf dem Schemel kaum halten vor Begeisterung. Sie strahlt über das ganze Gesicht.

       Irgendetwas gefällt Alex an der Frau. Vielleicht ist es ihre Begeisterungsfähigkeit. Ihre Direktheit. Oder ist es die Faszination, die ihren Augen entspringt?

       Sie hat die Glocken gehört, ich bin ganz sicher. Wie ist es möglich, dass sie meine Welt teilt?

       Meistens sehen die Leute in ihm einen Spinner, glaubt Alex. Aber Claudia ist anders. Sie kann ihn fühlen, sein Inneres wahrnehmen.

       Wir sind Seelenverwandte.

       «Ich habe Schizophrenie.»

       Schweigen.

       «Nicht jetzt, aber grundsätzlich.»

       «Was heißt das? Haben Sie nun Schizophrenie oder nicht?»

       «Im Allgemeinen schon. Aber ich habe gute Phasen, wie heute, und vielleicht morgen. Mein Psychiater sagt, ich könnte eines Tages geheilt sein.»

       «Ich habe Ikonomanie. Mein Psychiater sagt, das sei unheilbar.»

       Claudia berührt seine Hand. Es ist eine freundliche Geste, nichts Geschlechtliches. In die Bewunderung mischt sich Traurigkeit. Sie hat noch nie von Ikonomanie gehört. Nur von Manie. Und das klingt bedrohlich. Sie ist sich nicht sicher, ob Alex ihr die Wahrheit sagt oder sich ihr zuliebe eine Diagnose andichtet. Jetzt ergreift sie die Hände ihres Nachbarn vollumfänglich. Sie streichelt sie. Plötzlich zieht sie ihre Hände zurück.

       «Entschuldigen Sie. Es bedeutet nichts. Die Wahrheit ist, dass ich Sie so besser spüre. Das ist ein Teil meiner Krankheit. Man sagt, schizophrene Menschen seien gläsern. Ihre Seelen lägen herum wie die Waren im Einkaufszentrum. Zudem scheuten sie sich nicht, in die Seele anderer hineinzuschauen. Ich weiß, das kann für Sie beängstigend sein. Wir sind einfach offen für alle und alles, vielleicht zu offen. Es hat etwas mit Toleranz zu tun. Manchmal sind wir überschwänglich, vor allem wenn wir glücklich sind. So wie ich heute.

       Ich mag Sie, Alex. So wie Sie sind. Einfach so. Es kümmert mich nicht, ob Sie krank sind oder nicht. Und ich will Ihnen keine Angst machen. Nur ..., ab und zu eine kleine Berührung. So sind Sie mir nah. Mir ist es wichtig, die Menschen auf allen Ebenen wahrnehmen zu können.

       Wie steht es mit Ihnen? Wie lebt man mit einer Ikonomanie?»

       «Für mich ist es keine schwere Krankheit. Ich lebe ganz gut mit meiner Diagnose. Nur mein Psychiater findet, dass