Gerlinde Marquardt

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman


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Gesicht wirkte wie versteinert. Sah sie zu Boden oder hatte sie die Augen geschlossen? Isa konnte dies nicht erkennen. Wann war eigentlich die Eiszeit zwischen Mona und ihr angebrochen? Wann nur? Isa fröstelte. Sie zog mit einer Hand den Kragen des schlichten dunkelbraunen Wintermantels enger um ihren Hals und dachte, dass es besser gewesen wäre, wenn sie Handschuhe angezogen hätte. Noch eine weitere Erkenntnis drängte sich durch ihren Kopf, nämlich, dass ein neuer Mantel sie bestimmt vor dieser Kälte besser schützen würde. Dann ärgerte sie sich, weil ihre Gedanken schon wieder abgeglitten waren. Der Pfarrer sprach am Ende der Trauerfeier den Geschwistern Mut zu. „Eure Mutter war eine starke Frau! Lebt in ihrem Sinne weiter.“ Diesen Satz nahm Isa nun ganz bewusst auf. Als sie über den Steinboden Richtung Ausgang gingen, regte sich Isa über Monas hochhackige Schuhe auf. Das Geräusch ist unangebracht, dachte Isa, es ist unwürdig. Konnte ihre Schwester denn keine flachen Schuhe tragen? Musste Mona auch bei diesem traurigen Anlass zur Schau stellen, welche Eleganz sie von ihren beiden Geschwistern unterschied? Isa empfand Monas Verhalten irgendwie respektlos.

      Die Beisetzung fand anschließend im engsten Familienkreis statt. Nur Franz bildete eine Ausnahme, denn er gehörte fast zur Familie. Franz hatte schon seit eh und je in vielen Situationen sich beständig als eine starke Stütze gezeigt. Wie oft, dachte Isa, waren wir ihm schon dankbar für ermunternde Worte, aber auch für seine Hilfsbereitschaft bei Gartenarbeiten oder Instandsetzungen im Haus gewesen. Auch seit dem plötzlichen Tod der Mutter hatte er sie oft durch seinen tröstenden Zuspruch beruhigt. Auch jetzt an Mutters Grab gab er nicht nur Isa die nötige Kraft. Ihre beiden Geschwister bekamen ebenfalls seinen Beistand. Niemand, den ich kenne, kann so gut besänftigen wie Franz. Allein seine Stimme wirkt beruhigend und zugleich aufmunternd, erörterte Isa noch immer, als sie bereits den Friedhof verließen. Abends waren die Geschwister zu Hause. Isa, Hanjo und auch ihre ältere Schwester Mona, die längst in der nördlich liegenden größeren Stadt eine eigene kleine Wohnung besaß. Mona ist hübsch wie immer, stellte Isa für sich fest. Die dunklen welligen, seit einiger Zeit kurz geschnittenen Haare umrahmten elegant Monas Kopf. Isa fand, dass besonders der Mund ihrer Schwester schon seit jeher ein richtiges Juwel in ihrem Gesicht war und ihre Schönheit vollkommen machte. Vor allem wenn sie, wie heute, ihre Lippen dezent geschminkt hatte. Lächelte Mona, dann zogen sich zwei zarte Fältchen links und rechts um die Mundwinkel, die sie ungemein interessant aussehen ließen. Allerdings lächelte sie höchst selten. Insbesondere nicht bei ihren äußerst spärlichen Besuchen hier zu Hause.

      Mona, Isa und Hanjo standen am Fenster und beobachteten schweigend die glutrote Sonne, die zwischen dunklen Tannenzweigen erst bizarr verschoben sichtbar wurde, bis sie kurz vor dem Untergehen noch eine glänzende Spur in die zu dieser Jahreszeit bereits schmelzende Schneelandschaft zeichnete. Danach tauchte sie nach und nach im weißen Flaum unter. Der zur Straße hin abgrenzende Eisenzaun mit seinen oben aufgesetzten scharfen Spitzen schob sich unheimlich dunkel zwischen die Dämmerung. Am Grundstückseingang war großzügig dieses unheilverkündende weiß-rote Band gespannt. An einer Seite hing es, wohl durch einen kräftigen Windstoß verursacht, lasch herunter. Hier war ihre Mutter umgekommen. Franz hatte Isa das furchtbare Geschehen geschildert. Seine genauen Darstellungen liefen vor Isas Augen immer wieder unwillkürlich ab. Isa spürte einmal mehr die Gänsehaut, die sich über ihre Arme verteilte. Sie strich mit etwas zitternden Händen darüber, hatte allerdings keinen richtigen Erfolg.

      Von einer Leiter aus, die gegen das hohe Eisengitter gestellt war, hatte Mutter versucht, einen großen Ballon zu entfernen. Er hatte sich in den Zweigen des nebenan stehenden Baumes verfangen. Mutter war mit ihrem Arm auf eine Eisenspitze gestürzt und hatte sich dabei die ganze Innenseite aufgerissen. Eine Schlagader wurde zerfetzt und im Rhythmus des Herzschlags waren immer wieder größere Mengen Blut in den Schnee getropft. Mutter war dann von der Leiter abgerutscht und ganz unglücklich auf einen unten liegenden kleinen Eisblock gefallen. Dieser hatte ausgereicht, ihr noch eine tödliche Kopfverletzung zuzufügen, an der sie nach kurzer Zeit verstorben war. Hanjo war kläglich schreiend aus dem Haus gerast und hatte erst wild an Mutters Kleid gezerrt. Danach hatte er an der Leiter – als sollte diese bestraft werden – so lange geruckelt, bis sie seitlich ins Kippen gekommen war. Hanjo hatte dadurch das Gleichgewicht verloren und war samt der Leiter in den Schnee gestürzt. Während er wieder aufstand stieß er ständig laute Schreie aus. Franz war bereits vom Nachbarhaus herüber gelaufen und hatte schnellstens nach einem Krankenwagen telefoniert, obwohl er sich schon fast sicher gewesen war, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Dann hatte Franz über den blutigen Schnee, so gut es die geringe Schneemenge gerade eben zuließ, frischen geschoben, damit ihr Bruder sich beruhigen sollte. Dann hatte er Hanjo an den Armen festgehalten, weil dieser immer wieder mit seinen beiden Fäusten gegen seinen eigenen Kopf geschlagen hatte. Allerdings war dann die Brust von Franz noch einige Zeit das Ziel von Hanjos Fausthieben gewesen. Erst nach längerem Zureden hatte Franz auf Hanjo den nötigen Einfluss nehmen können, um ihn zu besänftigen.

      Als Isa nach Hause gekommen war, hatte man die Mutter längst abtransportiert. Schon beim Einbiegen in ihre Straße hatte Isa das blau-grelle Blinken wahrgenommen. Von weißen Schneeresten auf dem bestreuten Gehweg bis zu den nur noch leicht schneebedeckten Bäumen seitlich der Straße war dieser blitzende Schein immer wieder gespenstisch aufgeflammt. Isa hatte sogleich erfasst, dass dieses stumme Signal gefährlich nahe bei ihrem Zuhause aufleuchtete. Nein, nein, hatte sich blitzschnell vom Hirn bis hinter ihre Magengegend hinuntergeschoben und als erschlaffendes Gefühl in ihrem Körper verteilt. An dem blinkenden Polizeiauto war sie starr vorbeigegangen. Und da war dann auch noch der angsteinflößende Mann, auf dessen eindringliche Fragen sie nicht mit klaren Gedanken hatte antworten können. Isa riss sich mühselig aus ihrer Erinnerung. Langsam schlug ihr Hauch sich am Fenster nieder. Es war nicht sehr warm im Zimmer. Isa sah, dass Hanjo ab und zu zusammenzuckte. Sie nahm ihn in den Arm, worauf durch seinen Körper ein stärkeres Zittern lief, das aber bald danach abflaute. Mona stand blass daneben, die ihr immer eigene Kühle ausstrahlend. Sie war in das intensive Betrachten ihrer lackierten Fingernägel versunken. Sogar auch heute kann sie noch keine Gefühle zeigen, dachte Isa. Obwohl die Geschwister nahe beieinander standen, hatte sich um jeden eine eisige Wand gelegt, die sich kreisförmig zu einer gefühllosen Stille schloss. Isa ging in die Küche und bereitete ein kleines Abendbrot zu. Ihre Schweigsamkeit am Fenster nahmen alle drei mit an den Tisch. Das Kauen ohne Appetit zog sich bei jedem von ihnen in die Länge.

      Tage darauf – wie jeden Morgen zuvor – stand schon wieder in aller Frühe, ehe die Sonne noch richtig durch den Morgennebel hervorkam, ein Polizeiauto auf der Straße. Polizisten hielten taktlose Wissbegierige in Schach. Beamte der Spurensicherung, die sich durch ihre Kleidung farblich kaum vom noch winterlichen Bodenbelag abhoben, durchforschten den restlichen Schnee. Sie wühlten dadurch die blutdurchtränkte Stelle beim Baum immer wieder etwas auf. Und Kommissar Wellner, so hatte er sich an jenem Abend äußerst kurz vorgestellt, war mit seinem systematischen Untersuchungswahn schon wieder im Element. Der Kommissar hatte damals fürchterlich geflucht, als er gleich am Unglücksabend die verwischten Spuren entdeckte, die Franz in guter Absicht an der verhängnisvollen Stelle nahezu unsichtbar gemacht hatte. Dieses Handeln war natürlich außerordentlich erschwerend für kriminalistische Untersuchungen gewesen. Wellner hatte seine schmalen Augen seltsam weit geöffnet und außerdem sehr mürrisch eine Vielfalt zermürbender Fragen gestellt. Doch diese waren Isa jetzt nicht mehr im Gedächtnis. Da Mona außerhalb wohnte und zur Unglückszeit nachweislich nicht anwesend gewesen war, wurde sie bald aus der Schussweite von Wellners bohrenden Nachforschungen genommen. Als Wellner Mona zuvor einmal kurz gefragt hatte: „Wohnen sie hier im Ort?“ „Nein, Herr Kommissar“, war Monas forsche Antwort ausgefallen. Und mit einem gekonnten Augenaufschlag hatte sie angehängt: „Sie glauben doch nicht, dass ich mit dem Unglücksfall etwas zu tun habe. Was denken Sie denn von mir. Ich war bis zur Trauerfeier nachweislich über zwanzig Kilometer von hier entfernt.“ Damit war das Verhör auch schon beendet gewesen. Wellner hatte geschluckt und Mona einige Sekunden mit zusammengepressten Lippen betrachtet. Dann war er sichtlich widerwillig verschwunden. Aha, hatte Isa gedacht, Mona hat schon wieder einen Mann bezirzt!

      Dass Isa erst nach dem Unfall zu Hause angekommen war, hatte Hanjo bestätigt. Diese Aussage war jedoch beim Kommissar durch ein kurzes Hochziehen seiner linken Augenbraue angezweifelt worden. Isa wurde getreu ihres Wesens sehr unsicher und hatte zu Boden gesehen. Meistens hatte Isa ein starkes Gespür für die Gefühlswelt