Gerlinde Marquardt

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman


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Isa drehte sich um. Hanjo war aufgestanden und ging bereits Richtung Diele. „Hanjo, wohin gehst du?“ Isa erwartete eigentlich keine Antwort. Hanjo gab auch keine; er hob nur lässig eine Hand und winkte ab. Kurze Zeit später kam er zurück, stellte sich ein Glas Mineralwasser auf den Couchtisch und legte sich behäbig wieder nieder. Isa wurde etwas wütend. „Du hättest mir auch ein Glas Wasser mitbringen können!“ Auch darauf kam keine Reaktion. Hanjo drehte sich nur um und streckte Isa nun seinen Rücken entgegen. Isa atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie spürte, dass es nutzlos war, das Verhalten ihres Bruders zu beanstanden.

      Isa sah wieder zu Franz. Er pflückte vereinzelte unschöne Pflanzenzweige ab. Isa dachte, dass auch Franz schon lange ein düsteres Verhängnis verkraften müsste. Ob es ihn auch immer noch beschäftigte? Und, ob dieser plötzliche Unglücksfall von Mutter wieder eine schmerzende Erinnerung bei ihm wachgerufen hätte? Die Eltern von Franz waren in den Dolomiten bei einer Bergtour abgestürzt. Durch ein plötzlich aufkommendes Gewitter mit Platzregen waren sie vom glitschigen Weg abgerutscht. Sehr lange hatte die Bergwacht nach ihnen gesucht. Als man sie endlich gefunden hatte, lagen sie mit verschlungenen Händen nebeneinander. Kurz danach war Isas Vater dann unerwartet verschwunden. Jedes Haus hatte damals einen Schicksalsschlag erlitten!

      Franz war nach dem Tod seiner Eltern lange Zeit nicht ansprechbar gewesen und deutlich erkennbar seinen Nachbarn aus dem Weg gegangen, als wollte er übersehen werden. Und er hatte geflissentlich auch Mutter, Mona, Isa und Hanjo unbeachtet gelassen. Daran erinnerte sich Isa nur vage. Nur das Unglück hatte sich eingeprägt. Mona hatte ihr lange Zeit später erzählt, dass Franz nach dem Tod seiner Eltern seinen Garten total zerstört hätte. Und, dass ihre Mutter einmal zu einer Nachbarin gesagt hätte: „Das Haus von Franz sieht schrecklich aus, wie unbewohnt. Und seinen Garten lässt er total verwildern!“ Die Nachbarin wäre beipflichtend gewesen: „Tja, und man könnte meinen, er hätte seine freundliche und gesellige Art verschluckt. Ich denke, es fehlt ihm eben eine Frau! “ „Ja, ja“, war die Erwiderung ihrer Mutter ausgefallen. Dann wurde das Gespräch abgebrochen und Mutter hatte Mona an der Hand genommen und sich eiligst von der Nachbarin entfernt. So schnell, dass Mona kaum hatte mithalten können. Mona hatte auch einmal ihre Mutter gefragt, ob Franz nicht mehr mit ihr spricht, weil sie etwas Falsches zu ihm gesagt hätte. Mutter hatte sie dann auf ihren Schoß hin und her gewiegt und gesagt: „Nein mein Mädchen, du hast bestimmt keine Schuld daran, Franz ist eben traurig.“

      Isas Gedanken wanderten nun zu jener Zeit, als Franz hinter seinem Haus einen kleinen Pool installiert hatte. Mona, Isa sowie Hanjo hatte es natürlich zu diesem Pool hingezogen. Doch von ihrer Mutter wurde dies offensichtlich nicht so gerne gesehen. Weshalb war niemals erwähnt worden. Mutter hatte nur fortlaufend Ausreden gefunden, die ihren Kindern den Gang zu Franz hinüber verhindern konnten. Aber Kinder waren von jeher erfindungsreich. Und meist erfolgreich beim Durchsetzen ihrer Begehren. Kurzum, da Franz seinen Beruf von zu Hause ausführen konnte, gab es den ganzen Tag über Möglichkeiten, um zu planschen. Doch bald war für Franz die Pflege zu kostspielig geworden und auch zu lästig. Deshalb hatte er den Pool verkauft und an der Stelle Bodenplatten ausgelegt und Gartenmöbel aufgestellt. Wie es sich später ergeben hatte, dass Franz in Mutters Garten den Rasen mähte und die Hecken schnitt, blieb für Isa ein Geheimnis. Hauptsache, Franz war wieder da! Für Isa war das wichtig gewesen. Allmählich hatte Franz seine schweigsame Zurückhaltung verloren. Doch an die unbeschwerte kindliche Verbundenheit vorheriger Zeiten konnte nie ganz angeknüpft werden. Isas Vermutung war, die Zeitspanne zwischen Kindheit und Erwachsenwerden hatte die Veränderungen gebracht. Denn Menschen entwickeln sich in diesen Lebensabschnitten enorm, sie werden feinfühliger. Zwischen Franz, Mona und Isa war damals eine etwas andersartige Freundschaft entstanden. Und für Hanjo war Franz zum männlichen Berater und zu seinem Vorbild geworden.

      Isa sah nach ihrem Bruder. Er war nicht mehr da. Aber auf dem Couchtisch stand ein Glas mit Mineralwasser. Isa erschrak. Sie war so tief in Gedanken versunken und hatte nicht einmal wahrgenommen, dass Hanjo weggegangen ist. Sie fühlte sich für ihren Bruder jetzt verantwortlich. Sie, die lieber zurückgezogen lebt, musste nun die Mutterrolle übernehmen. Ob sie das schaffen konnte, fragte sich Isa immer wieder und eilte in die Diele. Sie rief: „Hanjo!“ Sogleich wurde im oberen Stockwerk eine Tür zugestoßen. Na, wenigstens ist er noch im Haus, beruhigte sich Isa aber wie wird sich die Zukunft mit Hanjo gestalten? Mit dem ihrer Meinung nach nicht unbegründeten Bedenken kehrte sie ans Fenster zurück.

      Franz hatte inzwischen schwerere Gartenarbeit aufgenommen hat. Er war fast zu jeder Jahreszeit im Freien tätig. Isa bewunderte auch jetzt wieder seine muskulöse Figur. Die Körperhaltung von Franz deutete, genauso wie sein Gesicht, auf eine mächtige Willensstärke hin. Vielleicht empfand Isa deshalb seine Nähe stets als sehr angenehm und irgendwie wohltuend. Dunkle, etwas struppige, am Oberkopf auseinander fallende Haare machten ihn interessant. Manchmal fielen Strähnen über seine Augen, die er durch eine Kopfbewegung lässig zur Schläfe hin wegschüttelte. Franz` Augenfarbe war undefinierbar. Bei näherer Betrachtung fand sich ein Mischmasch aus grau und grün mit leicht bräunlichen Tönungen; also farblich kaum zu entschlüsseln, wusste Isa. Seine akkurat gewachsenen Zähne dagegen zeigten besonders beim Lachen ein makelloses Weiß. Entsprechend korrekt war stets, außer bei der Gartenarbeit natürlich, auch seine Kleidung. Sie passte immer bestens zu seinem sportlichen Typ. Allerdings spannte sich um seinen Bauch seit neustem manches Hemd; ganz besonders, wenn es tailliert war. Franz versuchte zwar, den Umfang zu vertuschen. Es gelang jedoch nicht immer. Plötzlich sah Franz zu ihr herüber. Als er Isa am Fenster stehen sah hob er winkend seinen Arm. Isa winkte zurück und fragte sich, wie schon so oft: komisch, dass Franz keine feste Beziehung hat. Warum lebt er so ganz alleine? Aber das könnte Franz ja auch sie fragen! Und ein bisschen ungern musste Isa sich eingestehen, dass Franz gut zu Mona passen würde. Sie selbst dagegen würde neben ihm sehr fad und bescheiden aussehen. Aber irgendwie fühlte Isa ein Begehren. Sie konnte nur nicht genau deuten nach was sie sich sehnte.

      Einige Tage später taute es kräftig. Überall fanden kleine Rinnsale ihren Weg zu tiefer liegenden Abzugsgräben. Letzte Schneereste hafteten aber noch vereinzelt wie weiß-graue wahllos verstreute Tupfer an Schattenplätzen. Isa musste einfach hinaus an die Luft, sie hielt es im Haus nicht aus. Sie zog ihre Jeanshose an. Dann holte sie ihre Gummistiefel, denn draußen sah es sehr nass aus. Und sie schlüpfte in ihre Regenjacke. Hanjo war immer noch kaum ansprechbar. Er saß regungslos am Fenster und stierte fortwährend nach draußen zu dem Baum, von dem Mutter den Ballon herunterholen wollte. Isa legte ihre Hand auf Hanjos Schulter und redete auf ihn ein, dass er zu dem Spaziergang mitgehen sollte. Hanjo wich jedoch keinen Millimeter von seinem Blickfeld ab. Er brachte nur ein kurzes „Nein!“ zustande und zeigte durch schnelles unmissverständliches Schulterzucken, wie unangenehm ihm Isas Berührung gerade war. Isa hat einmal das kleine Wohnviertel umrundet und kam von dem kurzen Spaziergang in ihre verkehrsberuhigte Straße zurück. Zwischen einzelnen Häusern gab es noch nicht bebaute Grundstücke, die meistens mit sehr alten Obst- und Nussbäumen bestückt waren. Das Wohnhaus von Isa stand, wie auch das Haus von Franz, auf der Straßenseite, die erst viele Jahre später als Baugebiet erschlossen wurde. Auf der zuerst bebauten Seite hatten alle Häuser nahezu einen ähnlichen Baustil. Früher hatte diese Häuserzeile die Ortsgrenze gebildet. Es war angenehm, hier am Rand dieses beschaulichen Schwarzwaldortes zu wohnen. Knapp eine halbe Stunde Gehzeit wurden benötigt, um nicht nur erste höhere Hügelketten bewältigen zu können, sondern auch, um in der Gegenrichtung die im Flachland liegenden Flussauen zu erreichen. Egal welche Richtung eingeschlagen wurde, es gab überall schöne idyllische Gebiete, in denen man sich einfach im Nichtstun räkeln konnte. Isa liebte ihre heimatliche Landschaft sehr. Ich möchte mit niemand tauschen, dachte sie gerade. Ich möchte in keiner größeren Stadt wohnen, so wie Mona. Obwohl, manchmal wäre es auch gut, es würden mich nicht so viele Leute kennen, waren Isas weitere Gedankengänge. Sie schüttelte diese ab und dachte wieder an frühere Zeiten, bei denen es im Rahmen der Familienspaziergänge viele geographische Erklärungen von den Eltern gab. Isa hatte damals noch nicht so viel davon verstanden. Mona hingegen hatte immer fleißig mit ihrem Kopf genickt.

      Eines Sonntags war die gesamte Familie auf tannen- und buchengesäumten Waldwegen steil bergauf gewandert. Dadurch hatte sie eine waldfreie langgezogene Hochebene erreicht, die weite Aussicht über den Heimatort und in die Rheinebene zuließ. Nach Wanderungen hatte es als Belohnung für den Aufstieg in einer Gartenwirtschaft