Gerlinde Marquardt

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman


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ihr Bruder immer trotziger wurde und geahnt, wie stark die Fragerei ihn belasten würde. Denn bei allen bisherigen Vernehmungen hatte Wellners starrkalter Blick fast immer nur Isas Bruder gegolten. Unzählige Male war Hanjos Aussage mit nur ganz knappen Worten von ihm wiederholt worden. Einmal hatte sich Wellner während seiner Befragung unvermittelt umgedreht und war mit raschen Schritten zu ihrem Nachbarn hinüber gegangen. Obwohl Isa diese ausführliche Unterredung aus einiger Entfernung beobachtet hatte, schwieg Franz eisern. Er hatte ihr gegenüber niemals ein Wort darüber verloren. Und Isa hatte gespürt, dass sie nicht fragen sollte. Diesen Vormittag war Hanjo deutlich unruhig. Als Wellner ins Haus kam und ihn wieder mit ähnlichen oder sogar gleichen Fragen wie Tage zuvor überschüttete, reagierte Hanjo plötzlich sehr heftig. „Ich habe meiner Mama nichts getan“, schrie er, „lass mich endlich in Ruhe!“ Wenn Hanjo wütend war, benutzte er als Anrede stets die vertrauliche Du-Form. Der Kommissar ließ sich auf das Du ein. „Warum hast du dann die Leiter umgeworfen?“, drang Wellner weiter in ihn. „Ich habe sie nicht umgeworfen, ich wollte doch nur...", Hanjo hielt inne, verschob seine Augenbrauen, lief rot an und drehte sich mit zu Fäusten geballten Händen weg. Er drückte beide Arme noch ruckweise nach unten. Dann ging er sichtlich erregt davon. Gedankenvoll sah Wellner ihm nach und schob eine Hand in seine Manteltasche. Isa wurde wütend. Sie musste Hanjo beschützen, Mutter war ja nicht mehr. Sie nahm all ihren Mut zusammen. „Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?“, fauchte Isa diesen mageren etwas nach vorne gebeugten Kommissar an. Der hielt Isas Blick mit seinen eisigen blauen Augen stand und presste wiederum seine Lippen zusammen. Seine Wangenmuskeln arbeiteten dementsprechend. Selbst seine knochigen Finger, die sich – fast wie Spinnenbeine – ständig bewegten, schienen in den Denkapparat seiner Untersuchung tastend eingeschlossen zu sein. Trotzdem gelang Isa noch: „Lassen Sie doch endlich Hanjo mit ihren Fragen in Ruhe, er hätte Mutter niemals etwas antun können! Es ist doch klar erkennbar, dass es sich um einen unglücklichen Sturz handelt. Das sieht doch ein Blinder! Sie können sich überhaupt vorstellen, wie uns zumute ist!“ Isas Wut steigerte jetzt sogar die Lautstärke ihrer Stimme. „Sie sind mit Ihren sonderbaren Gedankengängen bei uns hier total verkehrt am Platz!“ Kaum hatte sie ausgesprochen, bedauerte sie ihr Aufbrausen. Sie wurde innerlich wieder ganz klein. Schließlich tat der Kommissar doch nur seine Pflicht. Doch entschuldigen wollte Isa sich nicht. Aber es lag so etwas wie Bedauern in ihrem Blick. Ich habe ihm nicht einmal einen Platz angeboten. Wie unhöflich von mir, schämte sich Isa. Der Kommissar bemerkte Isas Befangenheit nicht, er starrte in diesem Moment aus dem Fenster. Dann drehte er sich behäbig zu Isa um. Kleine Querfältchen liefen über seine Stirn, um in der Verlängerung seitlich von seinen Augen zu den Schläfen auszustrahlen. Sein Gesicht war leicht gebräunt. Zu seinem blonden nicht gerade üppigen Haarwuchs bildete die Gesichtsfarbe einen fast attraktiven Gegensatz. Wellners Nase ragte scharfkantig aus dem Gesicht. Schnüffler ist die richtige Bezeichnung für ihn, dachte Isa, doch seine magere Figur mildert durch eine unübersehbare Schlichtheit das interessante Erscheinungsbild des Kopfes erheblich. Ein Auge drückte Wellner jetzt wieder zu einem schmalen Strich zusammen und sein Mundwinkel auf derselben Seite schien, leicht nach oben gezogen, etwas zu lächeln. Aber Isa entging trotzdem Wellners stechender Blick nicht. Wie ein Pfeil mit Widerhaken schoss er auf sie zu. „Sie waren doch nicht zu Hause, oder?“ Keine Antwort abwartend drehte sich Wellner um und stapfte hinaus, um seinen Leuten weitere Anweisungen zu geben. Angstvoll blickte Isa ihm nach. Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Sie fragte sich, warum Wellner so unendlich lange seitlich der Absperrung stehen blieb und vollkommen regungslos dem Untersuchungstrupp zusah. Geh weg, geh doch schon weg, dachte sie verzagt.

      Mona hatte schon gepackt. Sie durfte wieder abreisen. In einem eleganten Hosenanzug trug sie ihren Koffer zu dem luxuriösen Auto. Isa mochte ihre Schwester gar nicht ansehen. Solch vornehme Kleidung hatte ihr eigener Schrank noch nie aufbewahrt. Kurz durchzog Isa der Gedanke, wie sie wohl in Monas Kleidern wirken würde. „Ich halte es hier nicht mehr aus!“, waren Monas Worte zum Abschied. Isa bekam ein überraschend kurzes Streicheln über einen Arm, Hanjo einen leichten Schlag auf die Schulter. Er drehte sich sofort um und ging ins Haus. Franz aber, der geradewegs auf Mona zukam, durfte rechts und links auf seinem Gesicht das flüchtige Anlegen von Monas Wange fühlen. Na ja, wenigstens er, dachte Isa und hob roboterartig kurz ihre Hand, als Mona in ihrem Sportwagen davon fuhr. Allerdings war sie sich sicher, dass ihre attraktive Schwester nicht in den Rückspiegel sehen würde.

      Franz nahm Isa in die Arme. Sie waren gute, sehr gute nachbarliche Freunde. Beide lebten ohne feste Beziehung. Irgendwie war immer eine gefühlte kleine Schranke zwischen ihnen. Diese ließ es nicht zu, ihrer freundschaftlichen Zuneigung mehr Innigkeit zu geben. Doch seit Mutters Unglück hatte Isa nun das Gefühl, als keimte immer mehr eine neue, nie gekannte, Vertrautheit zwischen ihnen auf. Eine Vertrautheit, die keiner Worte bedurfte. Isa spürte, dass Franz sich um sie sorgte. Er war ihr in diesen trostlosen Tagen abermals eine wirklich große Hilfe. Vielleicht wird einmal später mehr aus…, brach Isa ihren Gedanken ab und sagte: „Danke Franz, für alles, ich muss zu Hanjo.“ Weil Isa in Franz` Armen etwas irritiert war, machte sie einen kleinen Schritt nach hinten. Franz spürte durch diese Bewegung Isas Unsicherheit. „Nichts zu danken!“, erwiderte Franz und öffnete seine Arme wesentlich weiter als zur Beendigung der Umarmung nötig gewesen wäre. Dann ging er langsam in sein Haus zurück. Er war eine beträchtliche Anzahl von Jahren älter als Isa. Und erfahrener! Er wusste, dass er sie sehr behutsam behandeln musste, denn der Tod ihrer Mutter hatte in ihr eine tiefe Verzweiflung hinterlassen. Und die nun auf sie übergegangene Verpflichtung für Hanjos Betreuung belastete Isa gewiss. Franz wusste auch, dass er lange Zeit benötigen würde, um endlich ihr vollständiges Vertrauen zu ihm erfolgreich wachsen zu lassen. Isas Gedanken schweiften, als sie zu ihrem Haus ging, sehr weit in die Vergangenheit zurück. Franz hatte seit dem jähen Tod seiner Eltern weiterhin in dem zweistöckigen Nachbarhaus gewohnt. Ganz früher, als Isas Vater noch bei ihnen zu Hause war, hatte er häufig Besuch von Franz. Die beiden Männer hatten sich meistens – die Welt vergessend – in ein Schachspiel verbissen. Isa glaubte sich zu erinnern, dass eine Störung durch sie nicht geduldet gewesen war. Zu gerne hätte sie damals die hübschen Holzfiguren selbst über die schwarz-weißen Karos geschoben. Damit die Männer aber nicht gestört wurden, hatte sich Isas Mutter während des Brettspiels stets liebevoll mit ihr beschäftigt. Als Vater seine Familie verlassen hatte, waren Schachspiele und somit auch nachbarliche Besuche von Franz total abgebrochen. Die Menschen in der kleinen Ortschaft waren Franz damals sicher zu klatschfreudig gewesen. Jedenfalls hatte es Isa einmal nach Jahren für sich so zurecht gelegt. Hanjo stand an einem Fenster und Isa winkte ihm automatisch zu. Als Isa ins Haus kam, lag Hanjo auf der Couch. „Hanjo, weshalb bist du so plötzlich ins Haus zurückgegangen? Du hättest wenigstens auf mich warten können!“ „Warum? Keine Lust dazu!“ Isa war klar, dass Hanjo jetzt sein Sperrschild benutzte. Weitere Anfragen würde er über die Reling seiner Mitteilungsbereitschaft werfen. Also schwieg Isa. Hanjo ahnte nicht, dass er seiner Schwester gerade das Gefühl gab, auch ihm gleichgültig zu sein. Isa schleppte sich ins Bad, um sich etwas zu erfrischen. Ihr Spiegelbild war nicht gerade vorteilhaft, musste sie sich eingestehen. Sie sah abgespannt aus. Ihre Augenringe unterstrichen ihre Erschöpfung. Aber das war heute der einzige Unterschied zu ihrem üblichen Aussehen. Ihre Frisur umrahmte wie stets ihr blasses Gesicht. Wie Mona einmal sagte, mit einer „Prinz-Eisenherz-Frisur“. Zum waagrecht geschnittenen Pony über der Stirn hingen ihre aschblonden Haare seitlich glatt herunter. Und niemand – sofern es nicht bekannt war – käme auf den Gedanken, dass sie eine Schwester Mona hatte. Beim Zurückgehen ins Wohnzimmer fiel Isa noch ein, dass sicher auch niemand Hanjo als ihren Bruder vermuten würde. Verdrießlich ging sie zum Fenster des Zimmers und sah zu ihrem Nachbarn Franz hinüber. Er stand an seinem Haus und begutachtete seinen Garten. Regungslos, mit seinen beiden Händen in den Hosentaschen wirkte er im momentanen Gegenlicht wie eine Skulptur. Isas Gedanken schweiften zu dem schrecklichen Unglück ab, das die Eltern von Franz ereilt hatte. Isa hatte zu jener Zeit kaum verstanden, worüber sich alle Nachbarn unterhielten. Doch der unheilvolle Klang, der in den Stimmen gelegen hatte, ließ sie heute noch jene Angst von damals verspüren. Während ihres allgemeinen Schockzustands war bei den grauenhaften Darstellungen des Unglücks nie auf Isas Anwesenheit geachtet worden. Über die kleine verwundbare Kinderseele hatte sich niemand Gedanken gemacht. Und kein Mensch hatte sich dafür interessiert, ob die Vorstellung, die sich fantasievoll in ihren Kinderkopf eingebrannt hatte, der Wirklichkeit entsprach. Erst Jahre später hatte Isa mit ihrer Mutter einmal über den