Gerlinde Marquardt

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman


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Sache ereignet. Sie hatte einmal den Eltern ihr turnerisches Können beweisen wollen, indem sie sich auf der Kuhweide zu einem Handstand aufschwang. Allerdings hatte sie versehentlich eine Hand in die Hinterlassenschaft einer Kuh gesetzt. Mit einem weit von sich gestreckten Arm und weinerlich verzogenem Gesicht war sie schreiend zur Mutter gelaufen. Doch das Malheur war durch einen Gang zur Toilette bald Vergangenheit. Hanjo hatte noch Tage später seine Schwester deshalb verspottet und über ihr Missgeschick gelacht. Natürlich hatte er seinen Spaß daran gehabt, Mona als „Handstandplatsche“ zu bezeichnen. Isa fragte sich, ob die hübsche Mona wohl heute noch ihren Handstandversuch in Erinnerung hatte. Vielleicht sollte sie sich gelegentlich einmal danach erkundigen. Aber sicher würde sie, wenn Mona irgendwann wieder einmal erschien, das Vorhaben längst vergessen haben.

      Als Isa bereits nahe am Haus war, lief ihr Heidwig entgegen, die mit ihren Schwestern Hilma und Helmine schräg gegenüber im Obergeschoss eines älteren Gebäudes wohnte. Das Haus hätte dringend einer Renovierung bedurft. Aber das gab das Budget der drei älteren Damen nicht her. Denn wie Isa beobachtet hatte, lebten die drei betagten Damen recht bescheiden. In ihr Haus gelangte man über zwei Sandsteinstufen und durch eine dunkle Holztür. Diese stand bei schönem Wetter manchmal offen und gab den Blick in einen den ganzen Hausgrundriss umfassenden Raum frei. In dessen hinterer rechten Ecke führte eine recht abgenutzte Holztreppe nach oben zur Wohnung. Bis auf eine Luke besaß der erdgeschossige Eingangsbereich keine Lichtquelle. Er lag in entsprechendem Dunkel. Und er wirkte durch abgestellte, teilweise durch Tücher abgedeckte Möbelstücke wesentlich kleiner als er tatsächlich war. Isa hatte einmal gedacht, dass man sicherlich einiges als Sperrmüll entsorgen könnte. Und dann, etwas mit hellerem Mobiliar geschmackvoll hergerichtet, würde der Raum bestimmt sein düsteres Aussehen verlieren.

      Heidwig war nun fast bei Isa angekommen. Sie war klein, zierlich und hatte altersgerechte O-Beine. „Säbelbeine“, dachte Isa immer belustigt. Beim Gehen ließ Heidwigs Körperhaltung die Gebrechlichkeit ihrer Knochen erahnen. Isa dachte, dass jeder Schritt Heidwigs Hüfte wehtun müsste. Es gab für Isa keine Möglichkeit, auszuweichen. Ihr dazu angesetzter Versuch misslang kläglich. Heidwig konnte trotz ihres hohen Alters sehr flink sein. Sie stellte sich nahe vor Isa und begann auch schon zu singen: „Röslein, Röslein, Rö-höss-lein tot“, dabei drückte sie ihre Finger in Isas rechten Arm und sah sie listig an. Durch ein kurzes Angrinsen vermehrten und vertieften sich Heidwigs Gesichtsfalten. Normalerweise fing Isa mit ihr eine Unterhaltung an. Dadurch gelang es meistens, Heidwigs Gesang in einem Murmeln verstummen zu lassen. Dann wackelte ihr kleiner, mit zarten lila-grauen Löckchen überzogener Kopf beständig auf und ab, als würde er allem Gesagten zustimmen. Der leichte violette Ton, der auch in ihrer gesamten, teilweise etwas verblassten, Bekleidung zu finden war, vollendete zusammen mit ihren lila Strümpfen und dunkel-lila Schuhen bestens Heidwigs einheitlich farbiges Erscheinungsbild. Hanjo betitelte Heidwig stets nur als „Lila-Tante“. Diese Bezeichnung schob sich zuweilen auch in Isas Gedanken.

      Heute widerstrebte Isa die Begegnung. Sie empfand keine Lust, sich mit ihrer Nachbarin abzugeben. Deshalb zog sie unhöflich ruppig ihren Arm aus der Umklammerung und drehte sich wortlos weg. Weiterhin unter Heidwigs Blicken und ihrer musikalischen Begleitung flüchtete Isa zu ihrem Haus. Als sie sich an ihrer Haustür nochmals umdrehte sah sie, dass ein Fenster der Wohnung der drei Schwestern geöffnet war. Kurze scharfstimmige Worte drangen durch die üppige winterharte Grünbepflanzung auf dem Fenstersims nach unten. Isa konnte sie nicht verstehen. Anders aber Heidwig. Während sich eben noch ihre Arme dirigierend im Takt ihres Gesangs bewegten, ließ sie diese plötzlich fallen, drehte sich wie ein Kreisel einmal um ihre Achse und eilte auf ihren kurzen Beinen kopfnickend Richtung ihres Hauses. Isa grübelte, ob Heidwigs Lied einen besonderen Sinn hatte? Bestimmt wäre, selbst wenn sie nachgefragt hätte, von der „Lila-Tante“ keine aufklärende Antwort gekommen! Hanjo lag schlafend auf der Couch, als Isa nach ihm sah. Sie dachte, dass Wellners Fragen ihn wirklich total überfordert hatten. Vorsichtig schloss sie wieder die Zimmertür. Sie wollte ihn nicht aufwecken.

      Isa besaß noch ein altes Telefon, bei dem sie nicht ersehen konnte, wer anrief. Die Überwindung, sich den Neuerungen auf diesem Gebiet anzuschließen, war zu groß. Franz hatte sie deshalb schon oft geneckt, allerding immer nur, wenn Mutter nicht zugegen war. „Mensch, Isa“, hatte er vor einiger Zeit gesagt, „was das Telefon betrifft, seid ihr richtige altmodische Drahtamseln!“ „Was ist das?“, hatte Hanjo verdutzt gefragt. „Franz meint, wir haben für neue Dinge eine zu lange Leitung“, war damals. Isas lachende Antwort gewesen. „Ach?“, hatte sich Hanjo zufrieden gegeben. Natürlich könnte der Apparat längst gegen eine moderne Anlage ausgetauscht sein. Isa waren damals nur starke Bedenken gekommen, ob ihre Mutter mit der Erneuerung überhaupt umgehen könnte. Deshalb wurde die Entscheidung stets hinausgeschoben. Isa schrak aus ihren Gedanken auf, als das Telefon klingelte. Mona rief an. „Du brauchst mir den Wellner nicht mehr zu schicken!“, schrie diese in den Hörer. „Ich habe ihn doch überhaupt nicht…," setzte Isa gerade mit ihrer Antwort an, als ihre Schwester die Leitung auch schon wieder getrennt hatte. Wellner bei Mona? Was sollte sein Besuch in der Stadt? Woher kannte er bloß Monas Adresse, grübelte Isa und nahm sich vor, ihn demnächst danach zu fragen. Abends klingelte Franz. „Na, Hanjo, wollen wir Computer spielen?“, fragte er, um Hanjo aus seinen offensichtlich trüben Gedanken zu reißen und krabbelte ihm den Nacken. Hanjo schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Dann drehte er sich um und warf Franz einen kurzen Blick zu, den Isa nicht zu deuten wusste. Ihr Bruder griff zu einer Flasche Mineralwasser. Und er ging, ohne ein weiteres Wort, mit geräuschvollen Schritten die Treppe hinauf. Gleich darauf schloss sich seine Zimmertür. Isa und Franz sahen ihm verständnislos hinterher. Isa empfand die Situation als sehr peinlich. Ganz so unhöflich kannte sie Hanjo nicht. „Entschuldige Franz, er will bestimmt nicht unhöflich sein. Er vermisst Mutter sehr und ich denke, dass die Fragerei des Kommissars ihn enorm verunsichert hat. Er geht wahrscheinlich schon zu Bett. Ich glaube, dass es lange Zeit dauern wird, bis er Mutters Tod verarbeitet hat.“ „Bestimmt Isa, das denke ich auch! Er ist sehr sensibel, wir müssen ihm einfach äußerst viel Zeit lassen“, war Franz nachdrücklich ihrer Meinung.

      Hanjo

      Am nächsten Morgen war Hanjo plötzlich verschwunden. Ohne Vorankündigung, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Es war Sonntag. Isa hatte etwas länger geschlafen. Sie hatte nachts irgendeinen schlechten Traum, erinnerte sich aber nicht mehr daran. In ihr hing nun nur noch ein eigenartiges bedrohendes Gefühl. Ihre Beine und Arme lagen schwer auf der Unterlage Sie musste sich zum Aufstehen zwingen. Die Sonne war schon ein ganzes Stück am Firmament nach oben gestiegen. Oh, dachte sie, jetzt muss ich mich beeilen. Bald danach hatte sie den Frühstückstisch gedeckt. „He, Hanjo!“, rief sie laut. „Möchtest du heute nicht aus den Federn? Das Frühstück ist fertig!“ Als ihr Bruder nach einiger Zeit nicht erschien, rief Isa erneut. Aber Hanjo antwortete nicht. „He, du Langschläfer“, rief Isa, während sie ins obere Stockwerk ging. Sie klopfte an Hanjos Schlafzimmertür. Als immer noch keine Antwort kam, drückte Isa auf die Klinke. Der Raum war leer und das Bett unbenutzt. Die Bettdecke lag ordentlich zusammengefaltet. Isa suchte das Schlafzimmer der Mutter auf. Aber auch dort war das Bett unberührt. So wie es nach dem Zurechtmachen an jenem verhängnisvollen Tag hinterlassen wurde. Isa lief in Monas Zimmer. Vielleicht hatte Hanjo dort geschlafen. Doch Hanjo war nicht aufzufinden. Auch diese Bettdecke lag wie immer peinlichst geglättet. Mona würde ihr Zimmer nie unordentlich verlassen, das wusste Isa. Hanjo entgegen hatte in dieser Hinsicht eher eine lässige Art; also hatte er auf keinen Fall hier genächtigt. Angst und Übelkeit durchzogen nun Isas versteinerten Körper. Minutenlang konnte sie ihre Gedanken nicht ordnen. Als sich ihre Erstarrung löste, stürzte sie die Stufen hinunter und rannte, so schnell es die Beine zuließen, zum Nachbarhaus. Franz hatte sie wohl schon erblickt, denn bevor sie läuten konnte, öffnete er die Haustür. Isas Aufregung war für Franz nicht zu übersehen. Er machte einen Schritt vorwärts und schon wieder hatte Franz Isa im Arm. „Hanjo ist weg!“ „Wie weg? Ist er spazieren gegangen?“ Franz sah Isa verwundert an. „Er ist nicht in seinem Zimmer! Auch nicht in Monas.“ Isas Übelkeit verstärkte sich immer mehr. „Ich muss zur Toilette“, konnte sie gerade noch sagen und verschwand, um sich zu übergeben. „Es gibt sicher eine einfache Erklärung. Hanjo geht vielleicht wirklich nur spazieren und wird bestimmt bald wieder hier sein. Mach dir keine Sorgen!“,