Gerlinde Marquardt

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman


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ich habe große Angst, dass ihm etwas passiert ist!“ Isa sprach nicht weiter und Franz legte ebenfalls eine Pause ein. Dann kam endlich: „Komm mal schnell rüber!“ Die Stimme von Franz war jetzt eine Wohltat für Isas Ohren. Sie zog schnell den Mantel an und ging hinüber. Franz kam ihr von der Rückseite seines Hauses entgegen. Hinter ihm wirbelte ein kleines mehrfarbiges Etwas über den Rasen. „Du hast einen Hund?“ Isa staunte. Wusste sie doch, dass Franz nicht unbedingt der geborene Hundenarr war! Isa fixierte das Tierchen. Seine Ohren waren wie die Schlagzeile einer Zeitung, man erblickte sie zuerst. Dunkelbraun waren beide und im Verhältnis zum Kopf viel zu lang. Auf dem dazugehörenden Körper gab es mehrere Färbungen. Das Braun der Ohren wiederholte sich an den beiden langhaarigen Flanken. Den Rücken zierte ein helleres Braun. Vom Hals an bis über den Kopf war das Fell eher grau-braun meliert. Einige wenige graue Punkte verteilten sich unregelmäßig über den Rücken bis zu seiner Rute. Und die hellbraunen Läufe waren einfach drollig. Sie waren fast so kurz wie die Ohren lang waren.„Wie heißt er denn?“ „Nero!“, antwortete Franz nicht ohne Stolz in der Stimme. Es entstand ein kurze Pause. Dann sagte Isa stichelnd: „Toller Name, passt ausgezeichnet zu deinem riesigen reinrassigen Hund! N e r o ! Franz, wie bist du denn darauf gekommen?“

      Quietschende Reifen rissen die Antwort von Franz weg. Das Auto kam direkt auf sie zu. Wellner sprang mit einer unglaublichen Sportlichkeit aus dem Wagen und griff nach Isas Arm. „Dachte ich mir doch, dass ich Sie hier finde. Ich muss Sie auf das Revier mitnehmen!“ Isa wollte sich wehren, aber Wellner lockerte seinen Griff nicht. „Soll ich mitkommen?“, fragte Franz. „Nein!“, schnappte Wellner glashart, fast atemlos, und zog Isas Arm fester zu sich, sodass sie ihm folgen musste. Der Kommissar war sehr hektisch. Seine dürren Finger hatten typische Arthrose-Gelenke und pressten sich so fest in das Lenkrad, als müsste er sich daran festhalten. Hoffentlich fährt er besser als er das Lenkrad züchtigt, dachte Isa. Als sie neben ihm saß entpuppten sich ihre Bedenken als unbegründet. Wellner konnte äußerst gut Auto fahren.

      Neugierige Augen beäugten Isa, als sie mit Wellner das Gebäude betrat. Zum ersten Mal sah Isa eine Polizeidienststelle. Sie war mit Polizisten bisher nie in Berührung gekommen. Wellner führte sie wieder am Arm haltend durch den Raum. Ihr Herz klopfte spürbar und sie war froh, als sie im abgetrennten Büro des Kommissars angekommen waren. Wellner schob ihr, mit einer von Isa unerwarteten Höflichkeit, einen Stuhl zu. Er selbst nahm ihr gegenüber hinter seinem Schreibtisch Platz, fasste nach unten und zog ein blaues Bündel hervor. Wortlos, aber mit wachsamen Augen, schob es Wellner zu Isa hinüber. Isa schrie auf: „Hanjos Jeansjacke!“ „Eindeutig?“, forschte Wellner. Isa nickte, schluckte schwer und hatte Furcht, diese eine Frage zu stellen. Doch Wellner kam schon mit der Erklärung: „Wir haben die Jacke in dem kleinen Waldstück gefunden, das hinter dem Haus Ihres Nachbarn liegt.“ „Und Hanjo?“ Isa erblasste. „Ansonsten waren keine verwertbaren Spuren zu finden. Aber meine Leute suchen weiterhin das Gelände großräumig ab.“ Wellners Stimme klang jetzt sehr mild. Isas Augen füllten sich mit Tränen. Wellner überging ihre, ihm sehr wohl aufgefallene, Gemütsbewegung mit seiner weiteren Frage: „Fehlt bei Ihnen zu Hause sonst etwas von Hanjos Sachen?“ Isas Kopf bewegte sich verneinend und sie hob ihre Schultern. „Ich weiß nicht genau, was er bei seinem Verschwinden getragen hat.“ Abrupt stand Wellner auf. Er legte Hanjos Jacke, wie er sagte, für weitere Gutachten in den Schreibtisch zurück. Dann kam er schnell um den Schreibtisch an Isas Seite, fasste an ihre Stuhllehne und zeigte somit, dass sie wieder gehen konnte. „Ich bringe Sie nach Hause.“ Wie aus weiter Ferne hörte Isa Wellners Stimme und folgte ihm durch die Revierräume zurück. Blicke nahm sie nicht mehr wahr, ihre Augen waren noch sehr feucht. Wellner fuhr zügig an. „Haben Sie eigentlich im Zimmer Ihres Bruders noch etwas Auffälliges entdeckt?“, prallte die unerwartete Frage gegen Isas Verunsicherung. „Der kleinste Anhaltspunkt kann wichtig für uns sein.“ Wellner sah Isa ganz kurz an. „Nein“, musste sie kleinlaut eingestehen. „Seit Hanjo verschwunden ist, war ich nicht mehr in seinem Zimmer.“ Wellner war erstaunt: „Wieso nicht?“ „Es geht nicht! Mir wird übel, wenn ich nur daran denke. Ich kann es wirklich nicht!“ „Das sollten Sie aber, je eher Sie das Zimmer betreten, desto besser ist es für Sie. Sie können nicht ständig vor sich selbst davonlaufen!“ Isa zuckte zusammen. Sie war im Innersten getroffen. Der hat kein bisschen Verständnis, dachte sie und bemerkte, dass Wellner ihr von der Seite aus schmalen Augen seinen einmaligen durchbohrenden Blick zuwarf. Auch seine Augenbraue veränderte sich wieder forschend. Isa sank immer mehr in den Autositz. Hatte Wellner sie etwa als Verdächtige aufs Revier mitgenommen? Saß sie deshalb jetzt neben ihm im Auto? Als Wellner angehalten hatte, ging er zur anderen Seite des Autos und öffnete für Isa die Wagentür. Er streckte ihr seine Hand als Hilfe zum Aussteigen entgegen. Sie war angenehm warm. Seine Finger sind wirklich sehr lang; und er hat einen festen Händedruck, dachte Isa. „Also, übersehen Sie nichts! Schönen Abend noch, Frau Rieffert.“ Es war das erste Mal, dass er Isa bei ihren Namen nannte.

      Isa war gerade eben ins Haus gegangen, da schrillte schon wieder das Telefon Das laute Klingeln ließ Isa jedes Mal zusammenzucken. Ich muss es leiser stellen, dachte sie und gab ihren Namen bekannt. „Mona!“, meldete sich darauf forsch ihre Schwester. „Hallo, Mona“, grüßte Isa etwas verhalten. „Wieso erreiche ich dich jetzt erst?“ Mona bellt schon wieder, dachte Isa und hielt es nicht für nötig, zu antworten. Aber Mona sprach sowieso sofort weiter: „Und?“, klang grell ihre Stimme. „Ist Hanjo inzwischen aufgetaucht?“ „Nein! Ich melde mich sofort, wenn er kommt!“, versprach Isa. Dann entstand eine verblüffend lange Pause. Durch die Leitung rauschte nur Monas heftiges Atmen. „Was ist mir dir?“, fragte Isa deshalb nun doch etwas besorgt. „Nichts!“ Dann war die Leitung wieder tot. Aha, dachte Isa, sie ist beleidigt, weil ich das letzte Gespräch einfach unterbrochen habe. Mona hat noch nie akzeptieren können, dass ihre Belange einmal nicht im Mittelpunkt standen. In dieser einen Hinsicht war sie, die Weltgewandte, mimosenhaft.

      Isa fühlte, dass sie immer mehr von ihrer Energie verlor. Sie sehnte sich einfach nach Ruhe. Nach Ruhe und ausheulen können, was sie schon wieder tat, während sie den Hörer auflegte. Irgendwann wurde Isa ruhiger. Frühere Zeiten gingen durch ihren Kopf. Mutter hatte immer behauptet, dass Mona ihr selbst zwar sehr ähnlich sähe, aber das Naturell ihres Vaters hätte. Isa erinnerte sich nur ganz schwach an ihn. Er war groß; war, entgegen Mutter und Mona, hellhaariger gewesen und hatte sehr gut ausgesehen. Ein Foto, das Isa einmal von ihm gefunden hatte, stimmte ihrer Erinnerung bei. Sie war damals gerade mal etwas über vier Jahre alt, als ihr Vater nicht mehr nach Hause gekommen war. Verblassend hatte Isa heftige und lautstarke Auseinandersetzungen in Erinnerung. Sie hatte aber nie verstanden, weshalb die Eltern in Streit geraten waren. Der Versuch, sich jetzt die Stimme des Vaters ins Gedächtnis zu rufen, gelang nicht. Isa erwog weiter: ich glaube, er hatte eine dunkle Stimme. Und plötzlich keimte ein lautes Türzuschlagen in ihrer Erinnerung auf. Und jene seltsame Stille danach. Ebenfalls die Traurigkeit, die sie ab dieser Zeit in den Augen ihrer Mutter gesehen hatte. Damit endete nun Isas Erinnerungsvermögen. Sie schloss ihre Augen, weil jene eigenartige Angst sie wieder befiel. Dann schlief sie auf dem Sessel ein.

      Sabine kam am Tag darauf natürlich ohne Voranmeldung, aber auch ohne Kaugummi im Mund, zu Besuch. Sie küsste Isa auf beide Wangen, ging dicht an ihr vorbei ins Wohnzimmer und warf sich, ohne Isas Aufforderung abzuwarten, auf die Couch. Und sie schlug die buntbestrumpften Beine übereinander, was ihren engen Rock fast peinlich in die Höhe rutschen ließ. Ihre langen kleinen rotgefärbten Locken umsäumten bis zu den Schultern ihr hübsches Gesicht, das durch die üppige Haarpracht sehr schmal wirkte. Richtung Schultern wurde ihre Frisur buschiger. Außerordentlich trapezförmig, dachte Isa. Als ob Sabine Gedanken lesen könnte, streifte sie rechts und links ihre Lockenpracht zurück, wobei Isa ihre genauestens passend zu den Strumpffarben lackierten Fingernägel sah. Isa sah an sich herunter. Sollte sie sich vielleicht etwas mehr um ihre Kleidung kümmern? Sie ging lieber lässig angezogen, musste aber ehrlicherweise zugeben, dass sie nicht nur gegen Mona, sondern auch gegen Sabine eintönig aussah und ihre Figur nicht zur Geltung kam. Ihre Arbeitskollegin dagegen hatte stets den neusten Schrei, den man aus Modezeitschriften ausgiebig entnehmen konnte.

      Sabine rekelte sich lauernd in ihre Plauderstellung. Isa war allerdings auch heute wenig nach Unterhaltung zumute. „Der Chef grüßt dich. Du sollst dich erst vollständig erholen, bevor du wieder zur Arbeit kommst. Bis die ganze Angelegenheit ausgestanden ist, kannst du zu Hause bleiben“,