Gerlinde Marquardt

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman


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obwohl wir uns schon so lange täglich bei der Arbeit sehen und uns gut kennen. Meine Verzweiflung stellt sich niemand vor, dachte Isa enttäuscht. „Danke, Sabine.“ Sabine nahm übergangslos Anlauf und reckte ihren schlanken, wahrscheinlich innen bis zum Rand vollen Hals. Sie wuchs zu einem Sitz-Riesen. Isa kannte die Anzeichen nur allzu gut. Komm schon, dachte Isa, bringen wir es hinter uns. „Ach Isa, es tut allen so leid, was mit deiner Mutter passiert ist. Auch die Probleme mit deinem Bruder. Hast du denn keine Ahnung wo er ist? Na, ja, er soll ja immer etwas anders geartet gewesen sein. Ich mache mir, entschuldige bitte, darüber meine eigenen Gedanken. Und stell dir vor, wo ich auch hinkomme werde ich gefragt, ob man nun weiß, wieso dein Bruder verschwunden ist. Es werden ja allerhand Theorien aufgestellt. Die Gerüchteküche brodelt! Viele denken ja, er hätte deine Mutter vielleicht wirklich …“, Sabine räusperte sich lauernd in ihrer kurzen Sprechpause, „du weißt schon! Aber ich gebe darauf keine Antwort. Es ist ja noch nichts bewiesen, deshalb denke ich steht es keinem zu, Theorien aufzustellen, denn…“ Ab hier schaltete Isa genervt ab und suchte sich ihren eigenen Gedankengang. Sie kannte Sabine nur zu genau. Alles konnte man ihr nicht glauben, denn Sabine wurde bei ihren Ausführungen nicht selten abschweifend. Dann konnten sich Sachverhalte dazwischen schieben, die nicht unbedingt der Realität entsprachen. Freilich war Sabine beständig von ihren fantasievollen Darstellungen überzeugt. Ihre Trugbilder waren ihre Wirklichkeit; ein Widerlegen war total zwecklos. Isa zwang sich irgendwann, die Aufmerksamkeit wieder auf ihre schwatzhafte Kollegin zu richten. Sie bemerkte dass Sabine bereits zu einem ganz anderen Thema gewechselt hatte.

      „...ist er einfach gegangen. Dabei läuft diese Sache erst kurze drei Wochen. Da kann doch noch keine endgültige Entscheidung getroffen werden. Mir geht es gar nicht gut. Seither habe ich ständig Kopfschmerzen, aber das will ja keiner wissen. Es nimmt auch niemand Rücksicht auf mich! Von meinen Eltern bekomme ich keine Hilfe, die schieben eher mir alle Schuld zu. Ich weiß nicht mehr ein noch aus, was soll ich denn nur tun?“ Sabines Stimme wurde weinerlich, sie presste auch tatsächlich so etwas wie eine Träne aus einem Auge. Isa nahm ihre Arbeitskollegin einfach in den Arm. „Es wird sich schon alles wieder geben“, versuchte sie zu trösten, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was Sabine wirklich bedrückte. Aber diese schien sich damit zufrieden zu geben, denn sie wischte sich kurz mit einem Taschentuch über die Augen und fragte nur noch: „Meinst du?“ „Sicher, Sabine, ich mache uns jetzt einen starken Kaffee, der bringt uns beide auf die Beine“, fiel Isa ein. Sabine sah auf die Uhr. „Oh, so spät schon, dann muss ich bald gehen.“ Den Kaffee wartete sie, plötzlich sehr in sich gekehrt, aber noch ab. Dann trank sie ihn erstaunlich schnell aus und verabschiedete sich.

      Der Vorhang bewegte sich wieder. Diesmal wurde er ein bisschen mehr zur Seite geschoben, aber Isa konnte keine ihrer Nachbarinnen wahrnehmen. Gleichzeitig öffnete sich die Haustür und Helmine trat aus dem Haus. Als sie Isa erblickte, steuerte sie direkt auf sie zu. Helmine hatte eine eigenartig gegerbte Haut. Ihr Gesicht war total mit Sommersprossen übersät. Und Isa wusste aus Sommertagen, dass dies auch für Helmines Arme galt. Diese Merkmale unterschieden sie, genauso wie auch ihre Frisur, sehr von dem Aussehen ihrer beiden Schwestern. Ihre sehr langen Haare trug sie zu zwei einzeln geflochtenen Zöpfen. Diese gaben, obwohl ineinander geschlungen, doch nur einen dünnen Kranz um ihren Kopf. Die Enden bildeten als Halsabgrenzung unten am Hinterkopf einen kleinen Knoten. Einzelne spärliche Strähnen rutschten jedoch immer heraus und hingen lose am Nacken hinunter. Manchmal entzog sich auch seitlich der Stirn ein kleiner Teil, von Helmines sonst so streng zusammengerafften Haaren. Der ließ sich dann locker vor ihren Sommersprossen nieder, was ein häufiges Zurückstreifen durch ihre Hand zur Folge hatte. Ihr Haar zeigte zwischen den grauen Strähnen noch eine leicht rötlichblonde Färbung. Und ihre rundliche Gesichtsform räumte einen weiteren Unterschied zu ihren Schwestern ein.

      Helmines Mantel war nicht unbedingt modisch. Farblich glich er der Kleidung eines Försters. Ein sattes Dunkelgrün, über dem sich im Schulterbereich ein bunter Schal mit Fransen schlang, leuchtete Isa entgegen. Die Farben sehen an Helmine gut aus, bestimmte Isa für sich, auch wenn ihr Mantel bereits älter ist. Das konnte man am teilweise abgenützten Stoff an den Ärmeln erkennen. „Mein Beileid, Frau Rieffert zum Tode Ihrer lieben Frau Mutter.“ Helmine sprach immer sehr geschwollen. „Haben Sie von Ihrem Herrn Bruder etwas gehört?“ Die Nachricht verbreitet sich ja wirklich blitzschnell, dachte Isa. Sie sah Helmine an. „Nein, leider noch nicht, ich hoffe, ihm ist nichts zugestoßen. Ich bin mit meinen Nerven am Ende. Ich schlafe nachts kaum.“ Zum ersten Mal artikulierte Isa, wie verzweifelt sie war und wie sehr sie litt. Warum gerade zu Helmine? „Quälen Sie sich nicht so. Ihr Herr Bruder kann bestimmt auf sich aufpassen. Soll ich Sie einmal massieren? Das brächte Ihrem Körper etwas Entspannung. Ich mache es gerne! Ihre Nerven sind zurzeit bestimmt nicht die besten!“, wollte Helmine helfen. „Ich habe schon vielen Menschen beigestanden. Einen kleinen Jungen, den seine kranken Beine nicht tragen konnten, habe ich auch geheilt. Heute ist er ein sehr guter Sportler.“ Diese Geschichte kannte Isa schon, sogar noch ausführlicher mit genauesten Platzierungsangaben von einzelnen Disziplinen. Helmine fasste sich heute kurz. Isa sah zum Fenster hoch. Es war jetzt geöffnet. Hilma lächelte zu ihr herunter. Helmine folgte Isas Blick und rief nach oben: „Mach das Fenster zu, Hilma, es wird kalt im Wohnzimmer!“ Hilma veränderte ihren Gesichtsausdruck. Der Fensterflügel schloss sich klirrend. Wenn ich mit Mona zusammenleben müsste, ginge es uns genauso, dachte Isa. Dann fiel ihr ein, dass Helmine zuvor eine Frage gestellte hatte, die einer Antwort bedurfte: „Vielen Dank für Ihr Angebot, vielleicht komme ich einmal darauf zurück.“ Helmine drehte sich unvermittelt, auch seltsamerweise grußlos, um und stampfte davon. Sie trug Schuhe, die an der Innenseite auffallend verformt waren. Die Gelenke der Großzehen drückten nach außen; genau an diesen Wölbungen war das Leder abgeschabt. Isa dachte: Helmine ist nicht gut zu Fuß. Es sieht aus als hätte sie viel von ihrer Trittsicherheit eingebüßt. Als Isa sich zur anderen Richtung drehte, wusste sie, warum Helmine ohne Gruß gegangen war. Heidwig war auf dem Heimweg und kam direkt auf sie zu. Isa winkte ihr höflich und verschwand aber vorsorglich rasch in Richtung ihres Hauses. Ich habe die drei Schwestern wirklich noch nie zusammen auf der Straße gesehen, ging es ihr durch den Sinn. Kaum hatte Isa die Haustür geschlossen, klingelte es. Sicher kommt Franz auf einen Sprung herüber, dachte Isa noch beim Öffnen der Tür. Aber es war nicht Franz, Heidwig hatte geläutet und sang vor sich hin. Es war ein unverständliches wirres Singen. Isa war einen Moment entgeistert und Heidwig nutzte diesen Augenblick schamlos aus. Sie schlängelte sich geschickt an Isa vorbei in die Diele und nagelte sich dort fast triumphierend fest. „Schlaf, Kindlein, schlaf“, wurde das Singen deutlicher und gleich ging die unerwünschte Nachbarin über zu: „Sieh die gold`nen Sterne dort!“ Isa fühlte sich hilflos. Feuchtigkeit stieg in ihre Augen. Sie wurde mit dieser Situation nicht fertig und fuhr unter Tränen Heidwig barsch an: „Hören Sie auf mit Ihrer Singerei und lassen Sie mich alleine.“ Sie öffnete die Haustür und zeigte der alten Dame deutlich den Weg nach draußen. „Nicht weg..ssicken, Helmine tuts immer.“ Isa war verblüfft. Heidwig konnte sprechen! Und sogar verlangen: „Möchte hier bleiben, bitte!“ Pause! Eine Pause, während der Isa ihre unerwünschte Besucherin nur fragend anblicken konnte. „Ich weiß..sss“, danach erstarrte Heidwig. Als ob sie sich erschrocken hat, dachte Isa, und sicher hat sie schon lockere Zähne oder ein nicht gut haftendes Gebiss. Oder einen Sprachfehler? Aber beim Singen bemerkt man dies nicht, wälzten sich Isas Gedanken vor und zurück. Sie konnte sich keinen Reim auf Heidwigs Verhalten machen. „Oh, helfen`sss mir, ich helf` Ihn`n! Nicht weg..ssicken, Helmine tut immer“, wiederholte sich Heidwig. Nun stand sie da, das zierliche Persönchen. Was muss ich denn noch alles ertragen, dachte Isa, sagte dann aber: „Kommen Sie mit in die Küche, wollen Sie ein Glas Wasser?“ Heidwig trudelte ihr hinterher. Ohne Isas Aufforderung bemühte sie sich wendig, ihren Körper auf die Sitzfläche eines Stuhles zu schieben. Ihre kurzen Beine reichten, als sie endlich saß, kaum bis zum Boden. Isa fürchtete sich fast ein bisschen. Sie konnte Heidwigs Verhalten nicht einschätzen. Zudem war sie noch nie alleine mit ihr in einem Raum gewesen. Sie stellte ein Glas Wasser auf den Tisch, das Heidwig gierig austrank. „Wollen Sie etwas essen?“, fragte Isa. Heidwigs Gesicht entspannte sich freudig. Ihr Kopf nickte. Isa stellte eine mit Wurst belegte Brotscheibe auf den Tisch. Die gealterten Finger griffen schnell zu. So isst jemand, der ausgehungert ist, dachte Isa. „Möchten Sie noch eines?“ Wieder Nicken. Nach dem zweiten Brot stand Heidwig auf. „Danke, b`sss bald, Rösslein, Rösslein, Rö..hösslein.“ Sie sang nicht