Ana Marna

Wächterin


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war unklar. Ihre Leichen waren ausgeblutet, wiesen jedoch keine Stichverletzungen auf. Zumindest nicht an den Stellen, die der Bär unversehrt gelassen hatte. Letztendlich blieben sie unaufgeklärt und landeten auf Valeas „Frust-Stapel“. Sie war daher in einer eher übellaunigen Stimmung, als Rothenstein sie aufsuchte. Er schaffte es trotzdem, sie aus der Reserve zu locken, und Valea hatte ihm, entgegen aller Vorsätze, von ihrer Familie erzählt.

      Von ihrem Sonnenschein und ihrem Helden. Sogar von ihrem Gespräch mit den beiden berichtete sie und das war schon erstaunlich genug. Bisher hatte sie dies nur ihrem damaligen Therapeuten erzählt.

      Roman Rothenstein hatte sie nicht ausgelacht, sondern nur nachdenklich angesehen. Und dann hatte er etwas gesagt, mit dem sie niemals gerechnet hätte, dass es aus seinem Mund kommen würde.

      „Es gibt nur wenig, was man über Geister weiß, Dr. Noack. Vieles davon ist natürlich nur dummes Gerede, Fantasiegespinste. Doch es gibt sie. Soviel steht für mich fest. Und wenn Sie tatsächlich mit ihrer Tochter und ihrem Mann geredet haben, besitzen Sie eine seltene Gabe.“

      Sie hatte gelacht und etwas von verwirrten Neuronen und Stresshormonen gefaselt. Doch seine Augen hatten sie mehr als irritiert. Sie blickten so durchdringend und ernst, dass sie beinahe Angst bekam.

      Warum dachte sie gerade jetzt an dieses Gespräch? Weil sie an einem Platz für Geister war? Natürlich war das Quatsch. Für alles gab es eine rationale Erklärung. Auch für Dinge, bei denen sie zurzeit ratlos war, soviel stand fest.

      Mit entschlossenen Schritten verließ sie den Friedhof und ging auf ihren Wagen zu, der vor der kleinen Kirche parkte. Was auch immer dieser Ort in ihr auslöste, sie würde es heute nicht ergründen.

      Juli 2013

       USA

      Als der fremde Kontinent unter dem Flugzeug auftauchte, konnte Valea nicht umhin, nach draußen zu starren. Weiße Wolkenfetzen behinderten immer wieder ihre Sicht, doch da lag er. Eindeutig. Der neue Kontinent, der für die nächste Zeit ihr Zuhause sein würde. Furcht verspürte sie nicht. Nur Neugierde. Bisher hatte sie zwar schon viele amerikanische Kollegen auf zahllosen Kongressen kennengelernt und war auch nicht zum ersten Mal in den USA. Doch dieses Mal würde es für länger sein. Vielleicht sogar für sehr viel länger.

      Das forensische Institut in Huntsville hatte sie lange umworben. Immer wieder war sie angesprochen worden, von verschiedensten Seiten. Doch sie hatte gezögert. Ihre Wurzeln lagen in Europa und nicht auf dem amerikanischen Kontinent.

      Doch das letzte Jahr in Keele war beengend gewesen. Die Arbeit war zweifelsfrei spannend und abwechslungsreich, doch etwas hatte gefehlt. Sie hatte lange gebraucht, bis sie gewusst hatte, was das war. Erst ihr letzter Kongress in New York und eine anschließende Kurzreise quer durch den amerikanischen Kontinent hatte ihr offenbart, dass es die Weite war.

      Freies Land, ohne Sicht auf Mauern und Menschen.

      Europa hatte seine schönen Seiten und auch wilde Landschaften. Doch alles war klein und eng. Das hatte sie zum ersten Mal gespürt, als sie aus Afrika zurückgekehrt war, doch sie hatte diesem Gefühl damals keine Bedeutung zugemessen. Ihre neue Berufung stand zu der Zeit im Vordergrund und forderte sie ganz und gar.

      Inzwischen waren jedoch acht Jahre vergangen. Acht Jahre, in denen sie sich zielstrebig und erfolgreich einen guten Ruf in der forensischen Fachwelt erarbeitet hatte. Sie hatte nicht vor, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen, doch ihr Blick wurde weiter und berührte inzwischen auch andere Dinge außerhalb ihrer Arbeitswelt.

      Mugai Ryū brachte ihr die Ruhe und Gelassenheit, doch ihr Körper verlangte nach mehr Bewegung. Nach Luft und freier Sicht. Ihre kurze Reise durch die weiten Landschaften Amerikas hatten eine Sehnsucht in ihr berührt, die sie nach Afrika tief vergraben hatte, und die sich jetzt langsam wieder in ihr Bewusstsein drängte.

      Das Angebot aus Huntsville kam dieser Sehnsucht daher entgegen.

      Letztendlich war es die Neugierde und die Lust auf eine neue Herausforderung gewesen, die sie hatte zustimmen lassen, den Lehrstuhl anzunehmen. Zu ihrer Überraschung war man ausnahmslos auf alle ihre Bedingungen eingegangen.

      Sie durfte lehren, sie durfte Fälle übernehmen, sich weiterbilden (was natürlich sowieso erwartet wurde), aber vor allem durfte sie über ihre Zeit frei verfügen. Anscheinend hegte niemand daran Zweifel, dass sie dieses Privileg nicht zu ihrem Vorteil ausnützen würde. Und das hatte sie natürlich auch nicht vor. Die Bezahlung war mehr als gut, und ihr war klar, dass so manche ihrer Kollegen vor Neid erblassen würden, wenn sie wüssten wie gut.

      Doch das war nebensächlich. Wichtig war ihre Arbeit.

      Sie betrachtete die Landschaft unter sich und lächelte zufrieden.

      In ihr lag ein gutes Gefühl. Sie war sich sicher, richtig entschieden zu haben.

      Juli 2013

       Huntsville, Texas

      Nie hätte Dr. Valea Noack vermutet, dass sie einmal eine Freundin haben würde.

      Natürlich besaß sie Freunde. Bekannte, um es besser zu formulieren. Menschen, mit denen sie sich gut verstand, die sie mochte und von denen sie gemocht wurde.

      Doch der einzige Mensch, dem sie sich voll und ganz anvertraut hatte, dem sie auch Peinlichkeiten, Ängste und Wünsche offenbarte, war Daniel gewesen. Ihr Held. Ihr Seelenverwandter.

      Jasmin Lenz fiel sehr überraschend in Dr. Noacks Leben. Und sie tat es auf bizarre Weise, die normalerweise nicht darauf ausgelegt war, Freundschaften zu fördern.

      Jasmin Lenz kotzte Dr. Valea Noack in den Schoß.

      Die Ursache: Ein aufgeschnittener Leichnam, der sich bereits seit einer Woche in Verwesung befand.

      Valea hatte die junge Frau schon länger im Blick, da ihre Gesichtsfarbe während der Autopsie nach und nach eine ungesunde Schattierung annahm. Sie gehörte zu einer Gruppe Studenten, die Einblick in die Welt der Forensik nehmen wollten. Alle hatten bereits Anatomiekurse hinter sich und selbst an Leichen herumgeschnitten. Doch verweste Leichen waren eine Klasse für sich. Es gehörte manchmal sehr viel Selbstbeherrschung dazu, den Anblick, aber vor allem auch die Gerüche zu ertragen. Und überraschend viele angehende Ärzte stellten fest, dass dieser Berufszweig ihre Sinne überforderte.

      Jasmin Lenz gehörte eindeutig dazu.

      Die junge Frau war hübsch, groß und schlank und entsprach mit ihren langen blonden Haaren, die sie natürlich unter einem weißen Haarnetz verborgen hatte, ganz dem amerikanischen Cheerleader-Image. Dazu kam ihre Neigung, unentwegt zu plappern. Zumindest am Anfang der Demonstration. Ihr Redefluss versiegte auffallend schnell, und dann setzte besagte Gesichtsverfärbung ein.

      Valea konnte genau sehen, wann die Studentin aufgab und die Augen verdrehte. Ihr Ruf ließ alle anderen zusammenfahren.

      „Gary, Achtung, Zweite von links.“

      Ihr Assistent hatte die Situation bereits erfasst und war schon im Sprung, als Jasmin Lenz mit einem japsenden Laut in die Knie ging. Er fing sie gerade noch rechtzeitig auf und ließ sie vorsichtig auf den Boden gleiten.

      Valea seufzte und sah zu, wie er die junge Frau kurz checkte und dann auf die Arme nahm, um sie hinaus zu tragen.

      Kichern wurde laut und Valea räusperte sich.

      „Verkneifen Sie sich bitte ihre Schadenfreude und konzentrieren Sie sich. Sensible Nasen sind keine Schwäche, sondern können durchaus von Nutzen sein!“

      Ihre ruhige Stimme brachte sofort alle zum Schweigen und Valea fuhr mit ihren Erklärungen fort, bis Gary wieder auftauchte. Die Übergabe erfolgte einvernehmlich.

      Valea unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. Gary Lee war ein ausgesprochen zuverlässiger Assistent und sie hatten sich auf Anhieb verstanden. So ein Glück hatte sie auf ihren bisherigen Arbeitsplätzen nur selten gehabt. Wäre Jasmin ein Mann