Ana Marna

Wächterin


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die in stabiler Seitenlage auf einer Liege lag, gerade als diese die Augen aufschlug und sich im hohen Bogen übergab. Das Ergebnis landete auf Valeas Schoß und ließ diese irritiert blinzeln. Das war ihr noch nie passiert. Dann sah sie in die erschrockenen hellblauen Augen der jungen Frau und konnte ein schräges Grinsen nicht unterdrücken.

      „Spaghetti wäre nicht meine erste Wahl“, meinte sie dann trocken. „Aber ich bin froh, dass es nichts mit Fisch war.“

      Jasmin Lenz schlug sich erschrocken die Hände auf den Mund.

      „Oh mein Gott, wie peinlich“, piepste sie und ihre wächserne Blässe wich einem Scharlachrot.

      „Bleiben Sie liegen“, lächelte Valea. „Es gibt Schlimmeres als das. Und wie Sie ja sehen, trage ich einen Schutzanzug. Allerdings werden Sie jetzt kurz warten müssen, bis ich Ihnen etwas zu trinken geben kann.“

      Entschlossen entledigte sie sich ihres Schutzoveralls, den sie prinzipiell bei ihren Autopsien trug und packte ihn in eine Plastiktüte. Dann organisierte sie ein großes Glas Wasser und reichte es Jasmin, die es sofort dankbar an die Lippen setzte.

      „Geht es jetzt besser?“

      „Ja, vielen Dank, Dr. Noack.“

      „Dann helfe ich Ihnen mal auf.“

      Kurz darauf saß Jasmin auf der Liege und betrachtete Valea mit einem verlegenen Lächeln, aber auch deutlicher Neugier in den Augen.

      „Sie sind echt cool, Dr. Noack. Stimmt es, dass Sie aus Deutschland kommen?“

      Valea nickte. „Ja, ich bin noch nicht lange hier. Erst wenige Monate.“

      „Oh, dann kennen Sie wahrscheinlich noch nicht viele Leute. Wo wohnen Sie denn?“

      Valea überlegte, ob sie sich über so viel Neugierde ärgern sollte, doch Jasmin Lenz trug ein entwaffnendes Lächeln im Gesicht und versprühte eine Lebensfreude, die ihr sehr gefiel.

      „Ich wohne einige Meilen von hier entfernt auf dem ehemaligen Cummings-Anwesen. Und nein, viele Bekannte habe ich noch nicht“, gab sie zu. „Aber sehr nette Arbeitskollegen.“

      „Das ist doch nicht dasselbe“, grinste Jasmin. „Es geht dabei um quatschen, ausgehen und Spaß haben.“

      Valea musste lachen.

      „Mag sein, Miss Lenz, aber noch fehlt es mir nicht. – Mögen sie aufstehen? Die Autopsie ist noch nicht vorbei.“

      Die junge Frau verzog das Gesicht.

      „Oh je. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das etwas für mich ist. Ich fand ja schon normale Leichen grenzwertig.“

      „Man kann sich daran gewöhnen“, lächelte Valea. „Aber dafür muss man es erst einmal aushalten. – Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

      Sie half der Studentin auf die Beine und führte sie wieder in den Autopsieraum.

      Jasmin Lenz wirkte nicht glücklich, aber sie hielt durch und ertrug die Witzeleien ihrer Kommilitonen überraschend heiter. Nichts schien ihre Fröhlichkeit zu erschüttern und Valea freute sich darüber. Lebensfrohe Menschen gab es viel zu selten.

      Jasmin Lenz war nicht nur ein fröhlicher Mensch, sondern auch ein dankbarer. Bereits zwei Tage später erschien sie abends vor Valeas Tür, bewaffnet mit einer Flasche Wein und einer riesigen Tüte Chips.

      Valea, die ausnahmsweise einmal früher zu Hause war, blickte überrascht in die fröhlichen Augen.

      „Ich hoffe ich störe nicht, Dr. Noack.“ Jasmin schwenkte die Weinflasche. „Aber ich wollte mich noch einmal bei Ihnen entschuldigen und mich für Ihr Verständnis bedanken.“

      Valea zögerte nur einen kurzen Moment, dann öffnete sie die Tür und ließ Jasmin Lenz in ihr Leben ein.

      Bereits nach kurzer Zeit stellten die Frauen fest, dass sie trotz des Altersunterschieds und trotz ihrer konträren Charaktere einen guten Draht zueinander hatten. Die Chemie stimmte und schon bald trafen sie sich regelmäßig.

      Valea genoss Jasmins Fröhlichkeit und wurde ihrerseits für diese ein Ruhepol in ihrem quirligen Leben. Die junge Frau war voller Experimentierfreude und scheute sich nicht, alles auszuprobieren. Natürlich ging dabei auch einiges schief und Valea fand sich schnell in der Rolle, Jasmins Scherben einzusammeln und Trost und Rat zu spenden, wann immer es von Nöten war. Sie nahm es gerne hin, denn Jasmin brachte sie zum Lachen. Außerdem entpuppte sich ihre neue Freundin als intelligent und wissbegierig.

      Forensik kam für sie nicht in Frage, darüber waren sich beide einig. Doch sie hatte keine Schwierigkeit, an einer der Kliniken in Huntsville einen Praktikumsplatz zu finden, und Valea hörte von verschiedenen Seiten, dass die junge Frau fleißig und strebsam war.

      Die Besuche wurden seltener, da Jasmin Schichtdienst hatte. Doch sie sahen sich immer noch regelmäßig, und Valea befand sich in der ungewohnten Situation, ab und zu ausgehen zu müssen. Jasmin war da gnadenlos. Sie genoss gemeinsame Abende auf der Couch und vor dem Fernseher. Aber genauso gerne zog sie durch Kneipen und Discos, um dort Freunde zu treffen und zu tanzen.

      Einige wenige Male ließ sich Valea dazu überreden, doch wohl fühlte sie sich dabei nicht wirklich. Sie brauchte keine Menschen um sich. Gelegentliche Besuche von Jasmin reichten ihr. Aber ihre neue Freundin war hartnäckig und nötigte sie immer wieder dazu.

      Nach wenigen Monaten war klar, dass Valea sie nicht mehr missen wollte.

      Jasmin war eine fröhliche kleine Klette, die Licht in ihren Alltag brachte und immer für Überraschungen gut war.

      Juli 2013

       Walsend, Texas

      Der Regen prasselte beständig auf das Pflaster und die gelben Straßenlaternen spiegelten sich auf dem schwarzen Bürgersteig. Die kleine Stadt Walsend vermittelte einem das Gefühl, hundert Jahre in der Vergangenheit zu leben. Sie hätte auch in Europa liegen können. Die Straßen waren schmal und wiesen uraltes Kopfsteinpflaster auf. Auch die Häuser waren alt und aus Stein gebaut. Untypisch für diese Gegend, doch sehr beliebt. Die Nähe zu Huntsville tat ihr Übriges. Wer hier wohnte, gehörte zu den Besserverdienern.

      Valea starrte durch die Windschutzscheibe auf die andere Straßenseite und murmelte einen leisen Fluch.

      Jetzt würde sie zum dritten Mal an diesem Tag nass werden, und das wegen eines Telefongesprächs, das noch nicht einmal für sie relevant war.

      Sie seufzte und stieß schwungvoll die Wagentür auf. Dann rannte sie los.

      Vor einer großen dunklen Tür hielt sie und suchte nach der Klingel. Als sie keine fand, klopfte sie energisch.

      Fast sofort öffnete sich ein Schiebefenster, das sie bei der schlechten Beleuchtung übersehen hatte.

      „Sie wünschen?“, fragte eine dunkle Männerstimme.

      Valea räusperte sich.

      „Äh, ich suche eine Freundin, die hier zu Besuch ist. Ich habe eine sehr wichtige Nachricht für sie.“

      „Sind sie Mitglied?“

      „Nein. Aber ehrlich, ich will mich nicht einschleichen. Die Nachricht ist wirklich dringend, und ich verspreche Ihnen, ich bleibe so kurz wie möglich.“

      „Einen Moment.“

      Das Schiebefenster wurde verschlossen.

      Valea trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Mittlerweile war sie völlig durchnässt. Nach endlos scheinenden Minuten wurde die Tür aufgeschlossen und sie trat erleichtert ein.

      Neugierig spähte sie durch das Halbdunkel. Der Türsteher war ein hochgewachsener junger Mann, der sie skeptisch von oben bis unten betrachtete.

      Valea konnte ihm das nicht übelnehmen.

      Während er einen Smoking trug und wie geschniegelt aussah, steckte