Peter Rogenzon

Adieu Justitia


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der Mafia oder der RAF zu tun gehabt hatte, aber dann hatte er doch gefunden, dass er sozusagen ein „Soldat des Rechts“ sei und keine Angst haben dürfe. Wie sollte er denn auch mit einer Pistole einen Attentatsversuch abwehren?

      Doch dieses Mal war alles anders: Vor drei Jahren hatte er einen Perser (heute würde man wohl „Iraner“ sagen) verurteilt, der Rauschgift in einem LKW einschmuggeln wollte. Das Rauschgift war in den hohlen Wänden des Laderaums versteckt gewesen und dort von den Zollbeamten entdeckt worden. Natürlich hatte der Perser bestritten, etwas vom Vorhandensein des Rauschgifts gewusst zu haben, aber er war dadurch überführt worden, dass auf der Verpackungsfolie seine Fingerabdrücke gefunden worden waren. Dennoch war der Perser nicht zu einem Geständnis bereit gewesen. Als er dann zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde, war er ausfällig geworden: Er schrie Dr. Prell an:

      „Das wirst du büßen, du Hurensohn! Dir schlitze ich den Bauch auf wie einer Sau!“

      Dr. Prell hatte den Perser sofort aus dem Sitzungssaal entfernen lassen. Noch während der Wachtmeister den Mann zwangsweise hinaus transportierte, brüllte dieser weiter herum:

      „Streich dir den Tag meiner Entlassung rot im Kalender an: Dann komme ich wieder, um mich zu rächen. Wenn ein Perser hasst, dann sieht er darin eine Lebensaufgabe, die er zu erfüllen hat.“

      Dr. Prell hatte den Wortlaut der Äußerungen ins Sitzungs­protokoll aufnehmen lassen, weil er gefunden hatte, dass hierfür eine zusätzliche Strafe angebracht war (die dann auch verhängt worden ist). Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben eine Drohung durchaus ernst genommen, so hemmungslos bösartig war der Hass, der ihm von diesem Mann entgegengebracht worden war. Deshalb hatte Dr. Prell drei Jahre lang die bevorstehende Entlassung des Persers von einem Jahreskalender auf den nächsten übertragen und jeweils rot notiert: „Waffe kaufen“. Er hatte sich irgendwann einmal im Gefängnis erkundigt, wann der Mann entlassen würde. („Gefängnis“ nannte man damals so treffend jene Institution, die heute mit der scheußlichen Abkürzung „JVA“ bezeichnet wird.) Man hatte ihm mitgeteilt, der Strafgefange­ne würde praktisch bis zum letzten Tag sitzen, weil er das Bösartigste gewesen sei, was man dort je hinter Gittern verwahrt habe; anschließend werde der Mann nach Persien abgeschoben.

      Dr. Prell war trotzdem beunruhigt. Auf einmal fiel ihm ein, was sein Vater, ein tief religiöser Mann, einmal zu ihm gesagt hatte:

      „Die Prells stehen unter dem besonderen Schutz Gottes!“ Womit sich seine Familie diese besondere Auszeichnung verdient haben sollte, war Dr. Prell inzwischen entfallen, aber er konnte sich daran erinnern, dass ihm sein Vater eine Reihe von Beispielen aufgeführt hatte, aus denen er diesen besonde­ren Schutz Gottes hergeleitet hatte. Eines davon war so skurril, dass es ihm noch in Erinnerung war:

      Ein Lehrer hatte seinen Vater mit den Worten beschimpft: „Nehmen Sie eine Titelgestalt von Schiller und setzen Sie Ihren Namen ohne das ‚r‘ dahinter: Dann wissen Sie, was Sie sind!“ (Ein bisschen kompliziert, aber wir befinden uns ja auch auf dem Gymnasium. Haben Sie, verehrter Leser, erkannt, wovon die Rede war? Der Tölpel (Tell-Pell) war gemeint!) Kaum waren diese bösen Worte dem Munde des Lehrers entfahren, brach er zusammen und starb unter fürch­terlichen Qualen.

      Aber Dr. Prell erinnerte sich nicht nur an dieses merkwür­dige Beispiel, sondern auch daran, dass sein Vater nach dem letzten Krieg von früheren Angehörigen seiner Kompanie besucht worden war, wobei alle ungefähr das Gleiche berich­tet hatten: Erst hätten sie insgeheim gelacht, als sie von seinem Vater gehört hätten, sie bräuchten an seiner Seite keine Angst zu haben, weil er unter dem besonderen Schutz Gottes stehe. Dann hätten sie aber immer wieder durch die merkwürdigs­ten Wunder die schlimmsten Situationen überlebt. So waren sie gekommen, um sich bei ihm zu bedanken.

      Dr. Prell kehrte zum Ausgangspunkt seiner Gedanken zurück: Sollte er sich nun eine Waffe kaufen oder nicht? Inzwischen wandte er sich seinem Akteneinlaufsfach zu. Das war jeden Tag der spannendste Augenblick: Dr. Prell konnte Pech haben, dass der Aktenstapel die Höhe von einem Meter überschritt. Einmal hatte er sogar sein ganzes Zimmer voll von Akten vorgefunden und geglaubt, er habe sich in der Tür geirrt. Tatsächlich aber hatte man bei ihm Straftaten aus einem umfangreichen Konkursstrafverfahren angeklagt, mit denen er sich dann ein Vierteljahr lang befassen musste.

      Heute aber staunte Dr. Prell nicht schlecht, als in seinem Fach nur ein Brief auf ihn wartete. Irgendwie wollte der Brief schon auf den ersten Blick überhaupt nicht zum billigen Plastikfurnier des Akteneinlaufregals passen. Das Couvert war aus Büttenpapier und doppelt so groß wie normal. Es trug ein großes Wappen und exotische Briefmarken. Adres­siert war es an „Seine Exzellenz, Herrn hochwohlgeborenen Richter Dr. Prell“. Die Justizeinlaufstelle hatte vor diesem Brief offenbar einen solchen Respekt, dass sie ihn nicht wie sonst üblich geöffnet hatte. Ein Wachtmeister hatte nur ein Zettelchen mit dem Vermerk angeklammert:

      „Bitte Briefmar­ken an mich!“

      Dr. Prell öffnete den Umschlag vorsichtig, um die Marken nicht zu beschädigen, und entnahm den Brief. Die erste Seite bestand aus einem goldenen Pfau mit arabischen Schriftzei­chen. Genauso waren wenige Zeilen auf der zweiten Seite geschrieben.

      Dr. Prell ging mit dem Brief zu einer Angestellten, die aus Persien stammte und einen Deutschen geheiratet hatte. Er ließ sich von ihr den Brief übersetzen und war mehr als über­rascht:

      Auf der ersten, eng beschriebenen Seite stand:

      „Der Schah von Persien, der größte Herrscher unter der Sonne, das Stammesoberhaupt aller... usw., usw.“ Hier waren alle seine Titel aufgeführt. Die eigentliche Mitteilung des Schahs bestand nur aus einem Satz auf der zweiten Seite und dieser lautete: „...beehrt sich, hochwohlgeborenen Richter Dr. Prell zu grüßen und ihm mitzuteilen, dass der dort verurteilte Delinquent sofort nach seinem Eintreffen noch auf dem Flugplatz in Teheran erschossen wurde.“

      Dr. Prell, der nun sein Tagespensum erledigt hatte, gönnte sich einen herrlichen freien Tag. Und er dachte daran, was sein inzwischen verstorbener Vater wohl dazu gesagt hätte:

      „Da siehst du wieder mal: Das ist der besondere Schutz Gottes.“

      3. Vaterschaftsprozesse

      Richter Dr. Prell schloss die Tür zu seinem Sitzungssaal des Amtsgerichts Dornberg auf und warf nebenbei einen Blick auf seinen „Speisezettel“, wie er scherzhaft seine Aushangtafel neben der Eingangstür zu nennen pflegte, auf der genau aufgelistet war, wann welches Verfahren zum Aufruf kommen würde. „Nicht öffentlich!“ stand groß darüber in roter, von hinten beleuchteter Schrift, denn von 8.00 bis 9.00 Uhr hatte er lauter Vaterschaftsprozesse angesetzt. Er ließ immer etliche zusammen kommen, damit die Vertreterin des Jugendamts als Amtsvormund der nichtehelichen Kinder nicht wegen jedes einzelnen Verfahrens bei Gericht erscheinen musste. Heute hatte er sich besonders viel vorgenommen:

      Es begann ganz schlicht mit einem Vater, der brav 16 Jahre lang für seine nichteheliche Tochter Unterhalt bezahlt hatte und sich nun auf einmal einfallen ließ, die von ihm anerkann­te Vaterschaft anzufechten. Er berichtete, es habe sein Gewis­sen belastet, dass er dieses Kind in die Welt gesetzt habe, ohne sich darum kümmern zu können, denn er sei ja schon damals verheiratet gewesen und habe für seine Familie sorgen müssen. Er habe es nicht einmal fertig gebracht, seine nichteheliche Tochter auch nur ein einziges Mal anzuschauen.

      Als er gerade mitten in seinem reuigen Bekenntnis war, ging die Tür des Sitzungssaals auf und eine bildhübsche junge Dame schaute herein.

      „Dies ist eine nicht öffentliche Sitzung, wie draußen ange­schlagen ist!“ bemerkte Dr. Prell.

      „Darf ich nicht vielleicht doch rein? Ich bin nämlich das Streitobjekt.“

      Dr. Prell musterte das junge Mädchen und wandte sich an den Vater (der es vielleicht doch nicht war):

      „Schauen Sie sich das Mädel an! Jeder andere wäre froh, so eine Tochter zu haben. Und da wollen Sie die Vaterschaft bestreiten?“

      Das „Streitobjekt“ errötete wegen dieser Bemerkung, was ihr recht gut stand, wie Dr. Prell fand.

      Der