Till Angersbrecht

Allah und die Klavierspielerin


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auf diese Weise ihr Leben beenden. Und deswegen führt er seine Rituale und Gebete aus, um die Hilfe der Götter gegen den Tod zu suchen.

       Wie steht es also mit diesem Vogel, der größer, massiger und mächtiger ist als alle anderen, die er jemals gesehen hat?

       Natürlich ist dem Gast aus der Urzeit nichts davon bekannt, dass ein die Evolution den Reiher gefertigt hat, und zwar in einem mühevollen Prozess voller Umwege, Engpässe und plötzlichen Überraschungen, weil einmal das Auge erfunden wurde, ein anderes Mal die Atmung der Lungen und schließlich auch noch das warme pulsierende Blut. Und noch weniger kann er wissen, das dies alles wie in einem Puzzle exakt aufeinander abgestimmt werden musste - stimmte eines der Teile mit den übrigen nicht zusammen, dann war es nötig, den ganzen Prozess an einem früheren Punkt von vorn erneut zu beginnen. Wie soll unser Gast da ahnen, dass der unförmige Airbus, dessen Anblick ihn vor Schrecken und Ehrfurcht erstarren ließ, nicht von einer blind experimentierenden Evolution in Millionen von Jahren geschaffen, sondern von gewöhnlichen Menschen ersonnen wurde, Menschen wie seinesgleichen. Die haben den gewaltigen Vogel in der erstaunlichen Zeitspanne von nur dreißig Jahren geschaffen.

       Wenn unser früher Verwandter sich verwundert die Frage stellt, warum seine späten Erben ihm mit einem so herrischen Stolz begegnen, dann mag er hier nach der Antwort suchen. Der heutige Mensch kann es kaum fassen, dass die Evolution an einen einfachen Silberreiher Millionen von Jahren verschwenden musste, während er selbst einen tausendfach größeren und schnelleren Vogel in drei Jahrzehnten erfand!

       Aber man glaube nicht, dass der Mensch die Natur deswegen matt zu setzen vermochte. Reiher und Airbus sind sich auf unheimliche Weise ähnlich. Der neue Mensch möchte das gern vergessen, aber der Steinzeitmensch hat sich davon eine Ahnung bewahrt, weil er sich so genau an die Flecken von Blut in der Lache erinnert und an das Entsetzen, mit dem er das erste Mal daran vorüberging. Der heutige Mensch weiß wenig oder will auch nichts davon wissen, dass Airbus und Reiher trotz ihrer unterschiedlichen Abkunft und Entwicklungsgeschichte dennoch ein und dieselbe Zukunft teilen. Er will von dieser Zukunft nichts wissen, aber er täte gut daran, immer an die gesamte Geschichte seiner künstlichen Reiher zu denken.

       Zunächst wird der große Vogel in einer Fabrikhalle ausgebrütet, aus der man seinen schimmernden Leib von Traktoren langsam ins Freie ziehen lässt. Dann kommt der Moment, da er sich zum ersten Mal in die Lüfte erhebt, und zwar nicht unsicher und zögernd wie sonst jeder Nestling, der sich erst noch auf seine Instinkte besinnt, sondern gleich mit der Majestät der Vollendung. Ein Airbus tritt sozusagen seit dem ersten Moment seines Daseins als Erwachsener in die Welt; er braucht nicht aus Erfahrung zu lernen und die neue und fremde Wirklichkeit vorsichtig zu ertasten. So wie er sich beim ersten Mal in die Höhe hebt, unbeirrbar in seiner Richtung, verlässlich und stolz in seinem Auf- und Höhenflug, wird er es danach unzählige Male tun, weder besser noch schlechter als am ersten Tag seines Jungfernflugs.

       So tritt er als Vollendeter in das Dasein wie ein singender, tanzender, mit sicherem Flügelschlag federleicht in die Höhe geschwungener Silberreiher, wie ihn nach Meinung unseres Gastes ein poetischer, die Schönheit liebender Gott und nach Auskunft unserer Wissenschaften die prosaische Evolution an einem unsichtbaren Reißbrett geplant und geschaffen hat. Dies ist der makellose Zustand eines A340-300, aus dessen in der Länge sechzig Meter zählendem silbrig glänzenden Leib zwei Schwingen von etwa fünfundzwanzig Metern Länge zu beiden Seiten abstehen, um ein Gewicht zu tragen, das insgesamt etwa dem von hundertzwanzig Autos zu je einer Tonne entspricht, wobei man allerdings hinzusetzen muss, dass dies erst seine unbeladene und unbetankte Daseinsform ist, denn vor der Fahrt frisst die Maschine noch einmal hundertfünfzig Tonnen Kerosinfüllung in sich ein. Danach lässt sie bei vollständiger Buchung bis zu zweihundertfünfundneunzig Menschen in ihrem Leib verschwinden, Menschen, deren gesamtes Lebendgewicht sich im Schnitt auf 25 Tonnen beläuft, während das sie begleitende Gepäck mit etwa sechs Tonnen zu veranschlagen ist.

       Man darf sich den Flug eines voll beladenen Airbus A340 deshalb ruhig mit dem etwas merkwürdigen Bild vorstellen, als würden auf einem Parkplatz etwa 300 Pkws gemeinsam Flügel bekommen, um sich in die Luft zu erheben.

       Die Maschine D477 von Hamburg nach München, planmäßiger Abflug von Hamburg um 11 Uhr 10, planmäßige Ankunft in München um 12 Uhr 25, hat soeben eine volle Tankfüllung aufgenommen. Sie entspricht somit der eben beschriebenen kraftstoffgefüllten Daseinsform. Die Maschine ist bis auf den letzten Platz ausgebucht.

      10 Uhr 55 vormittags

      Einem Silberreiher zucken die Muskeln seiner Flügel, selbst wenn er langbeinig durch Wasser oder über Wiesen stolziert. Man sieht es ihm an, dass seine Bodenhaftung gering ist. Ein Airbus aber unterscheidet sich in wartendem Zustand in nichts von einem phantasievoll gestalteten Gebäude, wie es moderne Architekten entwerfen. Liegt das Ungetüm noch dazu im Flughafen vor der Abfertigungshalle, mit der es durch einen überdachten Laufsteg verbunden ist, dann ist es nichts als ein langgestreckter Magen oder Darm, der die Zusteigenden in seinen trägen Körper schluckt. Wie Briefe, die man durch den Kanal einer Rohrpost bläst, werden die Passagiere in den wartenden Hohlkörper geschleust, an dessen Funktionsfähigkeit sie einfach glauben müssen – was die meisten von ihnen ja auch bereitwillig tun.

       In der Abfertigungshalle 13C herrschte noch die übliche Aufbruchsstimmung, nervös irrten die Augen der Wartenden zwischen der Uhr und der blinkenden Tafel mit den Angaben über Abflugs- und Ankunftsdaten. Da klickten die Ziffern, Frauenstimmen ertönten über die Lautsprecher in Englisch, Deutsch oder Französisch, je nach Destination. Der heutige Tag unterscheidet sich in keiner Hinsicht von dem üblichen Montagsbetrieb an einem kühlen Oktobermorgen. Maschinen steigen und landen in anhaltendem Gedröhn, das in das Innere der Ankunfts- und Abflugshallen freilich nur nachhallt wie fernes Rauschen und leichtes Donnern, während es draußen in der wirklichen Welt rings um das Flughafengelände den Hausfrauen in den einförmigen und blassen Einfamilienhäusern den Schweiß auf die Hände treibt oder ihre Babys zum Weinen bringt.

       Ein leichter Nieselregen verhängt die Sicht mit einem trübgrauen Schleier, auch auf das Gemüt der eintreffenden Passagiere für den Inlandflug Hamburg-München scheint sich die Nässe gelegt zu habe. Einige von ihnen sind gerade eben in Bus oder Taxi eingetroffen, andere mit der Hamburger S-Bahn. Die letzteren zählen zu den wenig begüterten Gelegenheitsfliegern, denn in der Hamburger S-Bahn treiben sich seit einigen Jahren Diebe und aggressive Schüler herum, nicht zu reden von den zahlreichen Alkoholikern, die in lallendem Zustand nach Kontakt zu ihren nüchternen Mitbürgern suchen. Wären da nicht die in grauer Uniform gekleideten Ordnungskräfte mit ihren Hunden und bösen Blicken, womit sie unterschiedslos potentielle Störenfriede ebenso wie Reisende mustern, dann würde sich kein friedliebender Bürger diesem Verkehrsmittel anvertrauen, schon gar keiner von denen, die sich für eine Reise von Hamburg nach München ein Flugticket leisten.

       Aber Frau und Herr Meierdom sind es gewohnt, jeden einzelnen Euro, bevor sie ihn opfern, zwei oder dreimal umzuwenden. Aufgrund eines kürzlich gewonnenen Quiz über das Seelenleben der Hunde haben sie den Flug von den Vier Pfoten geschenkt bekommen, andernfalls hätten sie die Bahn nicht bloß von Bahrenfeld bis zum Flughafen Fuhlsbüttel benutzt, sondern sich gleich noch in den Zug vom Hauptbahnhof bis nach München bringen lassen.

       All diese Leute – die Bus- und die S-Bahnfahrer und jene, die im letzten Moment eintreffen, wie z.B. Prof. Stockfuß und Frau, die natürlich im eleganten BMW, oder Herr Alexander Draschke, der im schwarzen Mercedes gekommen ist - werden von Stewardessen mit geübtem Lächeln gleich hinter der Bordtür empfangen. Welch angenehmer Gegensatz zum nebligen, nieselnden Wetter da draußen! Man könnte meinen, die freundlichen Damen hätten auf nichts anderes gewartet als auf die Gelegenheit, Herrn Draschke oder Herrn und Frau Meierdom an diesem Morgen persönlich zu begrüßen.

       Leider beruht dieser Eindruck auf Täuschung. In Wirklichkeit hält sich die gegenseitige Freude in recht engen Grenzen. Ein Inlandsflug verspricht weder den abwechslungsreichen Blick auf Meer oder Küsten noch die heimliche Spannung, die ein Sprung von einem Kontinent auf den anderen allen außer den Gewohnheitsfliegern immer noch verschafft. Nein, ein Inlandsflug bietet noch weniger Abwechslung als die Taxifahrt in einer Großstadt. Man kann darin eine ziemlich unverblümte Aufforderung zur