Till Angersbrecht

Allah und die Klavierspielerin


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Rauschzustände. Damals hatte er, Behrends, sozusagen eine ganz persönliche Ahnung davon gehabt, wie dem Weltenherrn zumute gewesen sein musste, als er am ersten Tag seiner Schöpfung mit einem einfachen Wort und Fingerdruck die Lampen im All anknipste. Ja, im ersten Jahr seines Dienstes als Flugkapitän war er sich bei jedem Start wie der verkörperte Gott der Maschine vorgekommen, wie ihre Seele oder ihr dirigierender Geist, denn nur seinem Willen und Befehl war es zu danken, dass alle Leute in ihrem Bauch zehntausend Meter aufwärts zum Himmel gelangten.

       Bei solchen Gedanken hatte er zwischen Hirn und Bauch immer ein Gefühl des Triumphes verspürt, der seinen Höhepunkt in dem Augenblick erreichte, wenn die Maschine plötzlich ganz ruhig wurde, fast lautlos, weil sie den letzten Kontakt mit dem Boden verlor und sich dann, fast senkrecht wie eine Rakete, nach oben hinauf in den Himmel bohrte.

       Das alles war damals. Heute sind diese Erinnerungen verblasst, Vergangenheit, kalter Kaffee. Damals ist er eben ein anderer gewesen. Natürlich auch jünger. Die ersten Jahre war das bei jedem Start so gewesen, aber er hatte nie mit einem anderen darüber gesprochen. Über solche Dinge redet man nicht, so wenig wie über die Liebe, die wirkliche Liebe, nicht die beiläufigen Abenteuer, die man vor den Kollegen ausbreitet. Vielleicht verbirgt man solche Gefühle deswegen in seinem Inneren, weil man nicht weiß, ob sie eher lächerlich oder erhaben sind. Vermutlich sind sie ja beides zugleich.

       Ja, so war das früher einmal gewesen. Damals war er jung, heute spürt er nichts mehr in seinem Bauch, keinen Triumph, kein Gefühl von Überlegenheit über diesen Brocken Materie, obwohl er ihn nach wie vor mit leichter Hand dirigiert. Äußerlich ist alles so wie früher, ja, eigentlich sogar besser, die Maschinen sind technisch ja viel vollkommener geworden, da haben wir außerordentliche Fortschritte gemacht, aber das ist eine andere Geschichte, und sie geht ihn schon nichts mehr an, denn das Wichtigste ist doch nicht mehr so wie früher. Er, Norbert Behrends, spürt nichts mehr, wenn er abhebt - schon lange nicht. Als er diesen Umschwung, diesen Verlust zum ersten Mal bemerkte, war er entsetzt gewesen. Er kam sich wie ein Liebhaber vor, der aus bloßer Routine weiterhin mit der Frau schläft, die ihm einmal so viel bedeutet hatte, obwohl sie längst keine tieferen Gefühle mehr in ihm erregt. Oder er dachte an die Geschichte von dem Musikliebhaber, die er vor einigen Tagen im Radio hörte. Seltsame Geschichte. Der Mann hatte sich jahrelang an den Goldberg-Variationen berauscht, immer dann wenn er ihren Trost nötig hatte. Aber eines Tages legt er die Platte auf, hört die vertrauten Töne, nur empfindet er nichts mehr dabei. Absolut nichts. Es sind dieselben Melodien und Harmonien, da besteht gar kein Zweifel. Sie sind dem Musikliebhaber ja bis in die letzten Einzelheiten bekannt, er kann darüber noch genauso fachmännisch reden wie früher, nur bringen sie seine Seele nicht mehr zum Schwingen, lassen sie tot und gefühlslos – gerade so, als wenn die Töne an seinen Ohren vorüberwehten. Die Musik war ihm von einem Augenblick auf den anderen gleichgültig geworden. Seltsame Geschichte, normalerweise hatte Behrends für solche Gefühlsmalereien wenig übrig, aber in diesem Fall nahmen sie ihn gefangen. Es kam ihm vor, als wäre da von ihm selbst die Rede.

       Eine Zeitlang hatte Behrends geglaubt, dieser Verlust habe etwas mit der verlorenen Jugend zu tun. Liegt es an mir?, fragte er sich. Bin ich in diesen Jahren ein anderer geworden? Nein, das ist nicht der wahre Grund. Ich selbst habe mich nicht verändert. Die Welt da draußen hat sich gewandelt. Das Fliegen ist nicht mehr dasselbe. Es ist einfach nicht mehr, was es in der Vergangenheit war: Abenteuer, Spannung, Erneuerung. Es ist Routine geworden, ein Job wie alle anderen.

       Nach wie vor sitzt Behrends auf dem Pilotensessel, weil das nun einmal der Beruf ist, in dem er sein Geld verdient, das einzige Metier, das er beherrscht. Aber er verrichtet diesen Beruf ohne Spaß, die schönen Gefühle von früher wurden zerrieben. Fliegen ist für ihn nur noch Gewohnheit und tägliche Pflicht. Kein Schauer läuft ihm über den Rücken, wenn sich unter ihm der schwere Körper vom Boden hob, kein Gefühl des Triumphs. Nur die Erinnerung daran ist ihm als Souvenir an eine andere Zeit geblieben.

       Nein, an seiner eigenen Person hat sich nichts geändert. Das wird ihm niemand vorwerfen können. Er, Norbert Behrends, ist gewissenhaft wie er es immer war. Nie haben sie an ihm auch nur das Geringste aussetzen können. Zwanzig Jahre Berufserfahrung, das merkt man einem Piloten natürlich an. Einen Fehler würde sich ein Mann wie er niemals leisten. Er ist verlässlich und absolut berechenbar, so wie diese Maschine, die für ihn zu den besten zählt, besser noch als die amerikanischen Fluggeräte.

       Und dennoch weiß Behrends, dass er sich selbst betrügt. Auch mit ihm ist etwas passiert. Es stimmt nicht, dass er noch derselbe wie früher sei. Da ist doch nicht mehr als die äußere Hülle geblieben.

       Auch solche Gedanken kommen ihm an diesem nebligen Tag. Vielleicht bin ich innen schon hohl. Ist es nicht so? Man ändert sich doch langsam von innen, so wie ein Haus, das die Termiten von innen zernagen. Von außen merken die Leute lange Zeit gar nichts. Ich handle wie eine mechanische Gliederpuppe, die im Cockpit ihre einstudierten Bewegungen absolviert: eine schön nach der anderen. Aber mein Kopf hat damit nichts mehr zu tun. Im Kopf herrscht gähnende Leere. Wie nennen sie das in Amerika? Living Zombies! Na, vielleicht ist es nicht ganz so schlimm. Kapitän Behrends ist doch hervorragend geschult, gut gedrillt, verlässlich abgerichtet. Aber ist es nicht ein bedrohliches Zeichen, dass mir solche Gedanken überhaupt kommen? So weit ist es mit mir, dass ich mich selbst schon für eine Gestalt aus dem Fernsehen halte.

       Genauso kommt es mir manchmal vor, genauso als würde sich das Leben von Norbert Behrends nur im Fernsehen abspielen, wobei dem Herrn Kapitän der Sinn für die Wirklichkeit allmählich abhanden kommt. Die Leute, für die ich die Verantwortung trage, die dreihundert Gestalten, die da in meinem Rücken sitzen, sind für mich ja auch bloß Nummern, nicht besser als die Leute, die auf einem Schirm vorüberflimmern. Das sind Schemen, Geister, Gespenster. Ich kenne sie nicht, sie kennen mich nicht. Gemeinsam ziehen wir durch den Äther und bleiben doch Fremde vom Start bis zur Landung, auch wenn sie meine Stimme ein paar Sekunden lang hören.

      „Hier spricht zu ihnen Kapitän Behrends, ich begrüße Sie herzlich zum Flug Nr. usw.“ Diese Worte könnte auch ein Roboter sprechen. Die Leute hören da sowieso nicht hin. Wer erinnert sich schon nach einem Flug an den Namen des Kapitäns?

       Und zu allem Überfluss noch dieser Ausblick in die Hamburger Nebelsuppe. Was ist wirklich an dieser Welt? Ist das etwa realer als ein Fernsehbild? Alles huscht an dir vorüber, Erscheinung des Augenblicks, Gespenster und Nebel und aus dem Nebel düstere Massen von Stein und Beton.

       Woher kommen diese Gedanken? Sie waren doch früher nie da? Du bist krank hätte ich mich damals gescholten und sie mit einer Bewegung der Hand von mir gescheucht. Aber jetzt nützt keine Bewegung, sie kommen wieder, irgendwo aus dem Nebel oder dem Dunkel und lauern mir auf. Vielleicht bin ich jetzt fortwährend krank, obwohl mir organisch nichts fehlt und mich meine Umgebung nach wie vor für ganz kerngesund und noch dazu für tüchtig hält. Irgendetwas ist mit mir geschehen. Das Fliegen und ich, alles zusammen hat sich geändert. Damals war ich ein Held, so wie Saint Exupéry. Jeder natürlich auf seine eigene Weise, ich will keine falschen Vergleiche ziehen. Aber ich fühlte mich als ein Held, und darauf kommt es ja schließlich an. Und jetzt, was ist von dem Helden übrig geblieben? Jetzt bin ich nur noch ein Arbeitssklave, der statt am Fließband zu sitzen an den Sessel im Cockpit gefesselt ist. Ein Arbeitssklave erlebt und entdeckt nichts mehr, für ihn ist jeder Tag wie der andere. Selbst den Sonnenschein erlebt er als Nebel und Nieselregen. Für mich stehen noch zehn weitere Jahre bevor - zehn lange, unendliche Jahre nichts als Nebel und Nieselregen.

       Zehn Jahre lang werde ich auf diesem Sessel wie ein Roboter sitzen und meine Pflicht erfüllen. Die Leute, die mich hier sehen, werden mich als Kapitän Behrends begrüßen, ganz wie in der Vergangenheit. Sie werden nicht einmal merken, dass ich in Wirklichkeit längst ein Roboter bin.

       Ob das jedem einmal passiert? Ob Saint Exupéry plötzlich auch genau diese schrecklich Ahnung hatte, und sich dann dazu entschloss, die Maschine mit dem Bug auf den Himmel zu richten, bis sie senkrecht nach oben zeigte, denn da wollte er ja hin? So könnte das schon gewesen sein. Jedenfalls ist ja bis heute nicht klar, warum sein Flieger über dem Mittelmeer abgestürzt ist.

       Wenn Norbert Behrends in diesem Augenblick innerlich lacht, eine Regung, die er sich natürlich nach außen nicht anmerken lässt, dann deshalb weil er sich diese merkwürdige