Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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mit neuem Personal aufstocken sollte. Obwohl ihr vor allem Bodishia zuredete, die Mannschaft zu verstärken, um ihre Geschäftsbeziehungen nicht zu gefährden, um Fahrten über die Ozeane machen zu können, und darauf hinwies, dass sie ihren Ruf mit zuverlässigen Warentransporten von Kontinent zu Kontinent erworben hatte, beschloss sie, niemanden zusätzlich aufzunehmen, und segelte mit ihrer Rumpfmannschaft ins Mittelmeer.

      Als Solveig den Schnee kennenlernte und Bodishia eine Wohnung in London suchte, ankerte die Argo vor Alacant, wo Medea einen Auftrag verhandelte und Zugang zur ATA-Niederlassung hatte, die in der Festung Santa Barbara lag. Bouvier hatte ihr einen Code gegeben und angeboten, die sicheren Kommunikationswege der ATA zu benutzen, wenn sie mit Ronit, Bodishia oder Solveig sprechen wollte. Doch Medea verzichtete auf dieses Angebot – aus der Überzeugung heraus, ihre Gespräche würden aufgezeichnet – und vermied es, die Festung zu diesem Zweck aufzusuchen. Auch Besuche in der Altstadt beschränkte sie auf das Notwendigste, weil sie während ihres letzten Aufenthaltes in Alacant, der drei Jahre zurücklag, Opfer eines Überfalls geworden war. Sie war nur deshalb lebend davongekommen, weil die Angreifer sie mit Messern und nicht mit Schusswaffen bedroht hatten. So hatte sie ihr Kontaktgift, das sie stets in kleinen Kapseln unter den Fingernägeln trug, zur Verteidigung einsetzen können.

      Bei der letzten Volkszählung, die zwanzig Jahre zurücklag, hatte man sechshunderttausend Einwohner erfasst. Inzwischen näherte sich die Bewohnerzahl nach Behördenschätzungen der Achthunderttausend-Grenze, wovon mindestens fünfzig Prozent Flüchtlinge aus Afrika nördlich des zehnten Breitengrades waren. Das Stadtgebiet vom Flughafen bis zum Bahnhof am Westrand der Altstadt war zum Ghetto dieser Flüchtlinge geworden, in das sich Polizisten auch am Tag nur in Gruppen und mit gepanzerten Fahrzeugen hineinwagten. Die Zustände in dem Ghetto waren schrecklich – Wasser und Strom gab es nur stundenweise, Banden beherrschten die einzelnen Viertel, verlangten Schutzgelder, zwangen Kinder zur Prostitution und führten gegeneinander Krieg –, aber nicht schlimmer als in den anderen großen Flüchtlingslagern entlang des Mittelmeeres. Das alte Stadtzentrum von Alacant zwischen dem Bahnhof und den beiden Festungshügeln war von Weißen, die es sich leisten konnten, weitgehend geräumt worden. Sie waren nach Santa Faz, San Juan und Mutxamel gezogen. Die Avenida Doctor Gadea und General Marva war tagsüber die Meile, auf der Drogen aller Art gehandelt wurden, nachtsüber aber ein Ort, den zu betreten sich kein Spanier traute. Um das Gewaltpotential der Asylanten besser kontrollieren zu können und einzudämmen, hatte die Stadtverwaltung Schwarzafrikaner und Araber als Polizisten eingestellt. Diese Maßnahme erwies sich jedoch bald als Schuss in den Ofen: Einerseits beschafften sich Gangstergruppen Polizeiuniformen und traten dreist auch tagsüber als Polizisten auf, andererseits machten einige der afrikanischen Polizisten gemeinsame Sache mit kriminellen Banden, so dass weder Einheimische noch Fremde wussten, ob ein sich nähernder Polizist ein Vertreter der Staatsgewalt oder ein Verbrecher war.

      An dem Tag, an dem Bodishia bei McShane Tee trank, verließ Medea Alacant und segelte nordwärts nach Barcelona. Trotz ihrer drei Millionen Menschen hatte die Stadt die durch das Versiegen der Erdölquellen ausgelöste Wirtschaftskrise weit besser als andere Industrieregionen überstanden. Frühzeitig hatte man neue Wirtschaftszweige angelockt, und so war unter anderem in einem streng bewachten Gebiet in den Bergen westlich der Stadt in Richtung Sant Cugat del Vallès die größte legale Organspenderfarm Europas entstanden. In der Folge hatten sich in Barcelona Transplantationskliniken angesiedelt. Nun benötigt man, wo Organe entnommen und verpflanzt werden, bekanntlich nicht nur mikrochirurgische and nanotechnologische Kenntnisse, sondern auch die entsprechenden Geräte und Instrumente. Dieser Bedarf lockte neue Firmen an und schuf Arbeitsplätze, mit denen die Stadt den Rückgang der Steuereinnahmen und der Arbeitsplätze der alten Industrien weitgehend auffangen konnte. Gleichzeitig führte diese Entwicklung jedoch dazu, dass jede Kritik am System der Organspenderfarmen in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stieß und unterbunden wurde, sogar die Proteste der Kirche verhallten ungehört.

      Auch das Problem der Überfremdung durch Klimaflüchtlinge hatte die Stadtverwaltung – teils mit Brutalität, teils mit Geschick – erfolgreicher gelöst als beispielsweise Alacant. Die Entstehung von Ghettos hatte man nicht zugelassen, illegale Siedlungen regelmäßig abgerissen und den Zuzug der Afrikaner von ihrer sprachlichen und beruflichen Qualifikation abhängig gemacht. Ohne Nachweis eines Arbeitsplatzes verlor der Antragsteller nach drei Monaten das Bleiberecht, und politische Verfolgung wurde als Asylgrund nicht anerkannt. Mehrmals hatte die Stadt Prozesse wegen Menschenrechtsverletzung vor dem europäischen Gerichtshof verloren und trotzdem nicht klein beigegeben, unter anderem, weil sie sich mit der islamischen Gemeinde arrangiert und damit auch islamischer Radikalisierung vorgebeugt hatte. Der Gemeinde der Moslems, der etwa dreihunderttausend Menschen angehörten, hatte man nämlich den Bau einer viertürmigen Hauptmoschee gestattet und ihre fünfzig Meer hohe Kuppel klaglos in Kauf genommen, weil die Sagrada Familia mit ihren zwölf Fassadentürmen und dem mächtigen Vierungsturm von einhundertsiebzig Metern Höhe das Stadtbild bestimmte und durch ihr Auftreten die moslemische Geste der Rückeroberung der iberischen Halbinsel in die Schranken wies. Die Aussicht von der obersten Plattform des Vierungsturms war überwältigend, und die Besucher standen Schlange wie früher die Besucher des Empire State Hochhauses in Manhattan. Auch Pokahontas und Li Yuchan, die zum ersten Mal den Mittelmeerraum bereisten, ließen sich einen Besuch der Sagrada Familia nicht nehmen und sagten nach einem anschließenden Bummel durch das gotische Viertel, Barcelona sei eine schöne und sichere Stadt. Worauf sie von Medea zu hören bekamen, die Sicherheit sei nur mit der Politik durchgesetzt worden, keine Toleranz für religiöse Forderungen zuzulassen, die die Werte der spanischen Verfassung in Frage stellten.

      Da sich ein Geschäft in Marseille zerschlagen hatte, segelte Medea nicht weiter nach Nordosten, sondern nahm Kurs auf die Straße von Bonifacio, die Sardinien von Korsika trennt. Ob sie dort einen kleinen Hafen an der Nordküste Sardiniens oder der Südostküste Korsikas anlief, Porto-Vecchio zum Beispiel, haben die Beobachter der ATA nie herausgefunden. Wegen einer zweitägigen Schlechtwetterlage mit tiefer Wolkendecke konnten die Satelliten nämlich keine Fotos liefern.

      Wieder erfasst wurde die Argo an der Küste vor Elba. Auf der Insel traf Medea einen alten Freund, John Campanati, der den Spitznamen Elefantenflüsterer besaß. Campanati war ein Herumtreiber, der zufällig vor achtzehn Jahren nach Elba gekommen und dort hängengeblieben war. Campanati stammte aus Texas, seine Eltern, die sich trennten, als er elf Jahre alt war, hatten mexikanische, finnische, schottische und griechische Vorfahren. Mit dreizehn war er ausgerissen und hatte auf der Straße gelebt. Ohne Schulbildung hatte als er Hilfsarbeiter und Tagelöhner, als Schlachter, Bauarbeiter, Erntehelfer, Drogenkurier, Türsteher und Nachtwächter gearbeitet. Er hatte sich zu Diebstählen verleiten lassen und Menschen betrogen – bei Kartenspielen und Drogengeschäften, aber nie ein Kapitalverbrechen begangen und keine Frau vergewaltigt, nicht einmal im Suff. Aber wenn er sich im Spiegel betrachtete und sich fragte, was er aus seinem Leben gemacht hatte, überkam ihn nur hilflose Wut. Irgendwann war er auf einem Frachter nach Europa gekommen und hatte sich von Rotterdam nach Italien durchgeschlagen. Im Hafen von Livorno hörte er davon, dass auf Elba eine Fernsehserie gedreht werden sollte und dass man Hilfsarbeiter brauche, richtige Kerle, für den Bau der Kulissen, die Haltung der Tiere und alles mögliche, für’s Grobe halt. Da hatte er sein Glück versucht, und sie hatten ihn genommen. Thema der Fernsehserie war Hannibal, aber das war Campanati gleichgültig, den Namen hatte er noch nie gehört, und von der Geschichte wusste er nichts. Aber bei so einem Filmdreh dabei zu sein, in dem Durcheinander, das fand er aufregend – und die Tiere, die Elefanten, Löwen, Leoparden und Kamele, zu beobachten und zu füttern, das fand er interessant. Er begann sich zu wundern, warum ihn die Filmerei so faszinierte, bis er sich plötzlich daran erinnerte, dass er in seiner Kindheit so etwas schon mal gesehen hatte. Ein Filmteam war in seine Heimatstadt gekommen, um Außenaufnahmen für irgendeinen Film zu machen, und er hatte mit seinen Eltern zugesehen. Zwischen seinen Eltern hatte er gestanden, und sein Vater hatte ihm erklärt, was die Leute da machten, welche Geräte sie benutzen und dass der Mann in dem Klappstuhl der Regisseur sei, der alles bestimme. Das war einer der Tage gewesen, an dem sich seine Eltern einmal nicht gestritten hatten.

      Zunächst war die Fernsehserie nur für eine Saison geplant, doch dank eines unerwarteten Erfolges und des Verkaufs der Rechte in viele Länder wurde sie mehrmals verlängert. Campanati beobachtete den Tiertrainer und lernte im Lauf der Zeit viel über die vierbeinigen