Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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die Tochter der Schwester der Kirke und des Königs Aietes, der über das Land Kolchis am Schwarzen Meer herrschte, im hohen Alter auf der Insel gestorben war und hier auch begraben lag. Die Nachfahren bewahrten die Erinnerung an das Grab und kamen immer wieder auf der Insel zusammen – in Friedenszeiten alle fünf Jahre, in schlechten Zeiten und Kriegswirren auch in größeren Abständen, aber die Tradition wurde bewahrt. Später, als Feinde die Nachkommen des Königs Aietes aus Kolchis vertrieben, siedelte sich sogar ein Zweig der Familie auf der Insel an, und es wurde Brauch, dass die direkten weiblichen Nachkommen Medeas ein Jahr das Grab der Ahnin hüten mussten, bevor sie heiraten durften. Eine Zeitlang nahm das Grab das Ansehen einer Kultstätte an und genoss große Verehrung – Herodot hat darüber berichtet. Doch nach der Christianisierung wurde die Grabwache als heidnische Ketzerei verurteilt und konnte nur noch heimlich durchgeführt werden. Aus diesem Grund baute die Familie Wohnhäuser und Stallungen um den Grabhügel herum und verbarg den Eingang zu Medeas Grab vor den Augen der Öffentlichkeit. In der Zeit der Kreuzzüge kam der Familienbrauch der Grabwache zum Erliegen, und bei einem schweren Erdbeben im siebzehnten Jahrhundert wurden das Grab und die umgebenden Wohnhäuser von herabstürzenden Gesteinsbrocken eines nahen Berges verschüttet. Die Erinnerung an das Grab wurde aber in der Familie Phasias aufrechterhalten und von Generation zu Generation weitergegeben, auch als niemand mehr von ihnen auf Myrrha lebte. Erst im neunzehnten Jahrhundert kehrten Nachkommen auf die Insel zurück, um das verschüttete Grab ausfindig zu machen, hatten jedoch mit ihrer Suche keinen Erfolg.

      Wegen ihrer Schönheiten wurde die Insel in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Urlaubsziel sonnenhungriger Mitteleuropäer entdeckt. Myrrha besaß eine lavaschwarze Steilküste, die von elfenbeinschimmernden Sandstränden unterbrochen wurde, die in Olivenhaine übergingen, zwischen denen vereinzelt Pinien und Lorbeerbäume standen. Die Spitze des Vulkans trug am Ende des Winters bis in den März oft eine weiße Schneehaube. Darüber lagerte eine rosig angehauchte Wolke, die zu beiden Seiten des Berges wie ein Strich in der Luft stand, und die schneeweißen, fast fensterlosen Häuserwürfel der Fischerdörfer kontrastierten aufs Schönste zur tiefblauen See. Anziehungspunkte für Reisende waren außerdem ein griechisches Theater, eine Festung aus der Kreuzfahrerzeit, ein Lustschloss aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Park, der zu Ehren Lord Byrons angelegt worden war, und die Schätze eines Heimatmuseums.

      Das griechische Theater stammte aus dem dritten Jahrhundert vor Christus und war in den Hang des Vulkans geschlagen. Das Halbrund der Sitze öffnete sich Richtung Meer und gab den Blick auf eine kleine unbewohnte Nachbarinsel frei, deren versteckte Sandbuchten gern von Liebespaaren aufgesucht wurden. Da das Theater glücklicherweise nie von den Römern umgebaut oder erweitert worden war, verstellte keine Bühnenwand die grandiose Kulisse.

      Die Kreuzritterfestung hatte Vorgängerbauten gehabt, vermutlich hatte ursprünglich an dieser Stelle sogar ein griechischer Tempel gestanden, denn in den Mauern waren Spolien zu erkennen, Fragmente griechischer Säulen und behauene Steinblöcke. Die Türken hatten die Festung nach der Eroberung der Insel zunächst ausgebaut, später aber im allgemeinen Niedergang des osmanischen Reiches vernachlässigt und zur Ruine verfallen lassen. Das Lustschloss wurde von einem reichen holländischen Diamantenhändler mit Namen Gerard de Ostade in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Alterssitz erbaut. Es war im neugotischen Stil begonnen worden, dann aber hatte ein zweiter Architekt romanische und maurische Elemente hinzugefügt, wodurch nach Meinung der Kritiker ein Baumonstrum entstanden war, das aber von jedem unbefangenen Betrachter als phantastisches Märchenschloss bewundert wurde. Besonders, wenn ein Besucher den Vulkan bestieg und dann vom Berghang aus das entfernt liegende Lustschloss betrachtete, wurden die Sinne zu Phantasien und Träumereien angeregt. Der nach Lord Byron benannte Park grenzte an das Schloss. Er war etwa zur gleichen Zeit angelegt worden und wäre ohne großzügige Spenden des Holländers nicht zustande gekommen. Wie allgemein bekannt ist, hatte sich der englische Dichter dem griechischen Freiheitskampf gegen die Türken angeschlossen und aus eigenen Mitteln ein Regiment aufgestellt. Die Fama will es, dass Byron kurz vor seinem Tod an rheumatischem Fieber in Mesolongion geäußert haben soll, er wolle das schöne Myrrha befreien.

      Die größten Attraktionen der Insel waren jedoch im Heimatmuseum versammelt: Taucher hatten in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg im Meer die überlebensgroße Bronzestatue einer schreitenden Frau geborgen. Da sie in der linken Hand einen Köcher mit Pfeilen hielt und die rechten Hand den Griff eines Bogens umschloss, wurde die Statue als Abbild der Artemis erkannt, der Göttin der Jagd und wilden Tiere. Aus der Gestaltung des Körpers und der Bearbeitung der Bronze zogen Kunsthistoriker den Schluss, die Statue müsse im fünften Jahrhundert entstanden sein, also zu der Zeit, als Myron seine Werke schuf. Aber ein derartiger Nachweis konnte nie erbracht werden. Da der Kopf der Göttin leicht zur Seite geneigt war, äußerten einige Experten die Ansicht, die Figur könne Teil einer Gruppe gewesen sein – Artemis und Kallisto oder Artemis und Aktaion zum Beispiel –, und veranlassten eine gründliche Durchsuchung des Meeresgrundes an der Fundstelle, die jedoch erfolglos blieb. Nach der Bergung war die Bronzestatue zur Reinigung und Restaurierung ins Nationalmuseum nach Athen gebracht worden und wurde anschließend dort auch ausgestellt – trotz der Proteste der Bewohner Myrrhas. Erst vierzig Jahre später kam es zu einer Rückführung der Artemis nach Myrrha, nachdem man bei Bauarbeiten unterhalb der Festung auf Reste der Via sacra gestoßen war und eine Marmorfigur entdeckt hatte, einen Kuros mit mandelförmigen Augen und geperlten Locken. Die Gestalt, der nur ein Bein unterhalb des Knies fehlte, hatte eine Größe von über zwei Metern und war so gut erhalten, dass man die Entstehung auf die Zeit um das Jahr sechshundert datieren konnte. Nach dieser Entdeckung bildete sich eine Gruppe von Förderern eines neuen Museums für Myrrha, der nach heftigen Auseinandersetzungen und Verhandlungen schließlich die Rückführung der Artemis gelang.

      Als die Einheimischen mit dem Umbau ihrer Häuser zu Herbergen und bald danach mit dem Neubau von Hotels begannen, fasste der Phasias-Familienrat den Beschluss, in der Gegend, in der sie das verschüttete Grab Medeas vermuteten, zu seinem Schutz bebaute und unbebaute Grundstücke zu kaufen. Wieder siedelte sich ein Zweig der Familie auf der Insel fest an, renovierte die gekauften Häuser, vermietete einen Teil während der Saison an Urlauber und Gastwirte, bebaute die freien Grundstücke und verband die selbst genutzten Wohnungen mit unterirdischen Gängen. Wegen der labyrinthischen Anordnung der Häuser, die inzwischen ein ganzes Stadtviertel bedeckten, war es für einen Beobachter unmöglich festzustellen, ob eine Person, die eines dieser Häuser betrat, dort blieb oder sich gerade anschickte, an einer anderen Stelle das Viertel zu verlassen.

      Medea hatte die Insel aufgesucht, um den Familienrat über die Drohung der ATA zu unterrichten und um eine Zustimmung über Art und Umfang der Risiken zu erhalten, die die Familie, die einen Teil des Vermögens in die Argo gesteckt hatte, bereit war einzugehen. Außerdem fühlte sie sich verpflichtet, eine Prognose über den Rückgang der Kapitalrendite abzugeben. Aufträge und Lieferungen im Mittelmeer brachten weniger ein als Warenlieferungen zwischen Kontinenten. Nach ihrer Ankunft stellte sich heraus, dass wichtige Ratsmitglieder nicht auf der Insel weilten und zurückgerufen werden mussten. So hatte sie Zeit, ihren Gefährtinnen die schönsten Plätze Myrrhas zu zeigen, ohne zu offenbaren, dass Myrrha ihr geheimer Ort war, ihr Nest, von dem niemand etwas wissen durfte. Als bei einem der Ausflüge die Frauen zum griechischen Theater gewandert waren und den Ausblick genossen, wandte sich Pokahontas an Medea: „Auf Sizilien erzähltest du uns, der Dichter Euripides habe den Kindermord erfunden. Warum tat er das?“

      „Er war von den Korinthern bestochen worden.“

      „Was hatten die damit zu tun?“

      „Medeas Geschichte ist die alte und immer neue Geschichte vom naiven Mädchen, das sich in den erstbesten Fremden verliebt, sich an ihn hängt und alles für ihn aufgibt, ihre Erziehung vergisst, Moral und Familienbande in den Wind schlägt, für den Mann betrügt und sogar tötet. Und dabei war der Fremde im Grunde nichts weiter als ein Dieb …“

      „Was wollte er stehlen?“ fragte die Massai, während sie dem Flug eines Raubvogels folgte, der nach langem Gleiten plötzlich zur Erde schoss, um eine Beute zu greifen.

      „Ein Fell, das Fell eines Widders.“

      „Ein Fell? Wegen eines Fells hat deine Ahnin Menschen getötet?“