Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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dem Zettel stand: „Große Veränderungen.“

      Als Lis Vater am Abend die Neuigkeiten erzählte, sagte seine Frau: „Ist das nicht gut für uns? Vielleicht brauchen die Straßenbauer auch ein Stückchen von unserem Reisfeld. Das Endstück ist nicht sehr fruchtbar, wir könnten es entbehren. Das Geld wäre mir sehr willkommen.“

      „Werden wir dann reich?“ hatte Li ihre Mutter gefragt, „können wir dann das neue Haus bauen?“

      „Aber nein, mein Schätzchen“, hatte Hu geantwortet, „dafür wird es nicht reichen.“

      Zwei Wochen später erschienen die Landvermesser, um die Trasse festzulegen. Drei Monate später wurde der Plan im Gebäude des Dorfkomitees ausgelegt. Als Yong an diesem Abend sehr spät nach Hause kam, war er bleich und aufgeregt.

      „Dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen“, sagte er zu seiner Frau, „aber anders, als du dir es erhofft hast, die geplante Trasse durchschneidet unsere Reisanbaufläche in der Mitte und nimmt uns den besten Boden weg.“

      „Dann müssen wir protestieren.“

      Auch andere Bauern protestierten gegen die Planung, aber die Planungskommission war nicht bereit, Änderungen vorzunehmen. Man könne zwar die Straße verlegen, nicht aber die Trasse für die Bahnlinie, weil die Züge zur Erreichung hoher Geschwindigkeiten Gleise ohne enge Kurven benötigten. Bald zeigte sich, dass sich das Dorf in zwei Lager gespalten hatte: in Befürworter und Gegner der neuen Straße. Für die Straße waren alle, die bei der Landnahme gut wegkommen, gegen die Straße die Bauern, die wie Lis Vater wertvolle Teile ihres Landes verlieren würden. Nach mehreren heftigen Diskussionen im Dorfkomitee wurde schließlich mit knapper Mehrheit ein Beschluss gefasst, mit einer Menschenkette den Arbeitsbeginn der Straßenbauer zu verhindern. Auch Yong befürwortete die Blockade, doch der Großvater zeigte große Skepsis und sagte, gegen den Staat könne man nichts ausrichten. Dann erzählte er die Geschichte seines Großonkels Sun Xiaodi, der in einem vom Militär geleiteten Uranbergwerk gearbeitet hatte und später versuchte, die Behörden auf die Missstände aufmerksam zu machen. Er prangerte die nukleare Verschmutzung durch den Uranabbau im ursprünglich tibetischen Kreis Gannan an. Vieh starb, Menschen wurden krank, Missbildungen bei neugeborenen Tieren und Menschen traten auf, Fälle von Leukämie und Krebs häuften sich. Wenn den armen tibetischen Bauern eine Kuh starb, war dies ein großer Verlust für sie. Aber die Gesellschaft, der das Uranbergwerk gehörte, zahlte keine Entschädigungen und leitete auch keine Maßnahmen ein, um die Sicherheit zu verbessern.

      „Aber diese Geschichte, die du mir schon so oft erzählt hast“, wandte Lis Vater ein, „ereignete sich vor achtzig Jahren. Seitdem hat sich viel verändert.“

      „Papperlapapp“, entgegnete der Alte, „China ist ein Steinblock aus Granit, in China verändert sich nichts – vielleicht im Osten, in den großen Städten an der Küste. Aber bevor eine Klage aus den fernen Provinzen die Hauptstadt erreicht, vergehen Jahrhunderte. Du willst nur nicht hören, wie es Sun Xiaodi erging.“

      Für Sun Xiaodi war offenkundig, dass beim Uranabbau gegen Sicherheitsregeln verstoßen und dass Vorsichtsmaßnahmen missachtet wurden. Kontaminiertes Wasser wurde ohne Aufbereitung aus der Mine in den nächsten Fluss geleitet. Uranerz wurde auf offenen Lastwagen transportiert, wodurch der Wind den radioaktiven Staub in der Umwelt verteilen konnte. Gebrauchte Werkzeuge und Rohre, die in der Mine kontaminiert worden waren, wurden an ahnungslose Handwerker und Bauern in der Umgebung verkauft. Vor allem aber wurden die Arbeiter ohne Schutzkleidung in die Mine geschickt und zogen sich durch das beim Abbau auftretende Radon-Gas Vergiftungen zu. Zunächst sprach Sun Xiaodi bei der Geschäftsführung der Mine vor. Doch die wollte von seinen Vorwürfen nichts hören und behielt mit der Begründung unbotmäßiger Aufsässigkeit seinen Lohn ein. Außerdem wurde er mehrmals von Unbekannten verprügelt und dabei schwer verletzt. Daraufhin wandte er sich an das Umweltbüro des Kreises, doch die Mitarbeiter wagten es nicht, sich mit dem Militär anzulegen, und warnten ihn, die Sache weiterzuverfolgen. Aber Sun Xiaodi wollte nicht aufgeben und trug seine Klagen der Provinzregierung vor. Daraufhin wurde er entlassen. Nun reiste er nach Peking, um das nationale Umweltamt auf den Skandal aufmerksam zu machen, und reichte eine Petition ein, die unbeantwortet blieb. Als die Behörden in seiner Heimatstadt merkten, dass er trotz aller Einschüchterungsversuche nicht mundtot zu machen war, begannen sie, Druck auf die Familie auszuüben. Die Tochter wurde in der Schule schikaniert, und die Banken wurden angewiesen, der Familie kein Geld mehr zu leihen. Um das Schulgeld für seine Tochter bezahlen zu können, verkaufte Sun Xiaodi sein Blut an Blutsammler, die durch die Provinzen zogen, obwohl er damit seinem schon angegriffenen Gesundheitszustand Schaden zufügte. Nach einer weiteren Petition an das nationale Umweltamt wurde er in Peking festgenommen und wegen Gefährdung der Staatssicherheit angeklagt. Im Gefängnis wurde er gequält und geschlagen. Als er sich auf das in der Verfassung verbriefte Recht auf Petitionen und das Bürgerrecht, Korruption und Versagen von Behörden anzuklagen, berief, sagte ihm ein Offizier der Staatssicherheit, während er ihm die Finger brach: „Wir sind das Recht! Beuge dich oder du wirst zerbrochen.“

      Als der alte Mann so weit in seiner Geschichte gekommen war, verlor er vor Aufregung den Faden und schrie nur noch: „Halunken Spitzbuben, Betrüger, Verbrecher!“

      Sun Xiaodi wurde verurteilt und nur entlassen, weil Ärzte inzwischen einen Magentumor diagnostiziert hatten. Er blieb aber unter Hausarrest; Wasser, Strom und Telefon wurden ihm unregelmäßig abgestellt. Im Hausarrest ist er im Alter von siebenundfünfzig Jahren gestorben, und solange er lebte, wagte niemand, seiner inzwischen erwachsenen Tochter Arbeit zu geben. An den Arbeitsbedingungen in der Mine änderte sich nichts. Die einzige Neuerung bestand darin, dass die Verwaltung nur noch Wanderarbeiter einstellte, die nicht wussten, wie gefährlich ihre Arbeit war, und sie alle drei Jahre auswechselte. Das kontaminierte Wasser wurde noch jahrelang in den nächsten Fluss geleitet.

      Obwohl Yong die traurige Geschichte von Sun Xiaodi kannte, wurde er zu einem Anführer der Protestbewegung und verhinderte den Baubeginn der Straße nach Kräften. Doch dann kamen Soldaten, gaben Warnschüsse in die Luft ab und drohten, auf die Protestierer zu schießen. Als sich die Bauern nicht zurückzogen, prügelten die Soldaten mit elektrischen Schlagstöcken auf sie ein und trieben sie auseinander. Am nächsten Tag rollten Bagger über die Reisfelder, und die Trasse wurde ohne Rücksicht auf die Bewässerungswege aufgeschüttet. Nach einem Jahr waren Straße und Bahnlinie mit Ausnahme der Gleisarbeiten fertiggestellt. Zur Einweihung kam ein Minister der Provinz und hielt eine Rede, in der er den Fortschritt pries und darauf hinwies, dass jetzt endlich die Provinzhauptstadt mit der Bahn erreichbar sei, aber auch ausführte, dass das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung mit großer Besorgnis auf die Bauverzögerungen reagiert habe und kein Verständnis für die Rückständigkeit einiger Dörfler aufbringen könne.

      Danach vergingen einige Monate, während der die Dorfgemeinschaft auf die Fertigstellung der Gleise und die Entschädigungszahlungen für die Landnahme wartete. Als nach einem halben Jahr immer noch kein Geld eingetroffen war, beschloss das Dorfkomitee, die Auszahlung des Geldes anzufordern. Ein weiteres halbes Jahr wurde der Antrag zwischen Behörden und Ministerien hin und her geschoben, dann traf ein Brief der Provinzregierung ein, der eine Berechnung der zu erwartenden Auszahlung, aber auch eine Kostenaufstellung enthielt. Zur Bestürzung des Dorfkomitees wurde der Einsatz der Soldaten in Rechnung gestellt und von dem für die Fläche der Trassen vereinbarten Preis abgezogen. Als weitere Kostenpositionen wurden die durch die Dorfbewohner verursachten Zeitverzögerungen beim Straßenbau geldlich bewertet und die Bereitstellungskosten der Baumaschinen berechnet, schließlich wurde eine Rechnung der Krankenanstalt für drei Jahre Behandlung des Kranken Chen Zhisheng aufgeführt. Nach Abzug der Kosten und weiterer Bearbeitungsgebühren lag der Auszahlungsbetrag bei einem Viertel der ursprünglich zugesagten Summe. In einem kleinen Nachsatz war die Mitteilung vermerkt, dass die Provinzregierung leider vergessen habe, den Betrag in den ordentlichen Haushalt aufzunehmen, und ihn wegen finanzieller Engpässe in den nächsten zwei Jahren nicht werde auszahlen können.

      Voller Empörung erhob die Dorfgemeinschaft Einspruch, der von der Bezirksregierung nach fünf Monaten abgelehnt wurde. Dem Ablehnungsscheiben war eine Rechnung für den Zeitaufwand der Bearbeitung der Ablehnung beigefügt.

      In ihrer Not nahmen die betrogenen Dorfbewohner einen Anwalt,