Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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war auf einem anderen Kontinent aufgewachsen. Als er zwölf Jahre alt war, hatte sein Vater eines Abends seiner Frau erklärt, er werde ausziehen, er habe einen Freund, mit dem er zusammenleben wolle. Den Schock, einen schwulen Vater zu haben, hatte O’Brien nie vollständig überwunden. Jahrelang hatte er nach Zeichen gesucht, die darauf hinweisen könnten, dass auch er eine Neigung zum eigenen Geschlecht besitze, und aus diesem Grund alle Freundschaften mit Jungen aus seiner Klasse und der Nachbarschaft abgebrochen. Als einmal sein Sportlehrer nach dem Unterricht eine Hand freundschaftlich auf seine Schulter gelegt hatte, hatte er ihn angeschrien: „Fassen Sie mich nicht an!“

      Nach Beendigung der Schule hatte er seinen Heimatort verlassen und sich freiwillig zum Militär gemeldet. Während seiner Militärzeit war er bei einem UN-Einsatz nach Neuguinea geschickt worden und hatte sich dort eine malariaähnliche Erkrankung zugezogen, die in Schüben immer wieder ausbrach. Aus diesem Grund hatte er später ein Medizinstudium begonnen.

      Als er die Mahlzeit beendet hatte, kam die Bedienung, um das Geschirr abzuräumen, und fragte: „Haben Sie noch einen Wunsch?“

      „Vielen Dank. Vielleicht noch ein Glas Wasser, es ist sehr heiß.“

      Das Mädchen brachte das Wasser, blieb am Tisch stehen und sagte beiläufig: „Wollen Sie Sex?“

      O’Brien, der aufs Meer geblickt hatte, sah auf und musterte die Bedienung. Sie trug einen sehr kurzen Rock, unter dem die Beine bis zum Schritt zu sehen waren. Durch einen transparenten Slip leuchteten rote Schamlippen, die zweifellos aufgespritzt waren. Obwohl die Oberschenkel für seinen Geschmack etwas zu dick waren, überkam ihn für einen Augenblick die Begierde, sie anzufassen und die Feuchtigkeit ihres Geschlechts zu prüfen. Um sich abzulenken, fragte er: „Wie heißt du?“

      „Meine Eltern nannten mich Roimata, aber für die Weißen heiße ich Julita.“

      Er kannte die Wortbedeutung von Roimata und sagte: „Du stammst von Neuseeland?“

      Sie nickte.

      „Wie alt bist du?“

      „Einundzwanzig.“

      Das nahm er ihr nicht ab. Sie war höchstens siebzehn.

      „Sehe ich so aus, als ob ich Sex bräuchte, Julita?“

      „Ja, diesen Eindruck machen Sie.“

      „Du scheinst die Männer ja gut zu kennen.“

      „Ich arbeite hier schon seit drei Jahren. Man spürt sofort, ob Männer hungrig sind.“

      Unvermittelt tauchte bei O’Brien die Erinnerung an seinen Sportlehrer auf. Nach der Begegnung im Umkleideraum hatte Antonio über ihn Gerüchte ausgestreut, die seiner Laufbahn sehr geschadet hatten.

      „Ich werde es mir überlegen.“

      Sie kam etwas näher und lehnte sich gegen die Tischplatte: „Ich mache es Ihnen, wie Sie es haben wollen. Klassisch oder anal. Wenn Sie wollen, pisse ich Ihnen auch in den Mund, die Geschmacksrichtung können Sie sich vorher aussuchen.“

      Er dachte an seine Frau, sie war bei einem Tsunami umgekommen und sagte: „Bring mir die Rechnung.“

      „Ist schon fertig“, antwortete Julita und zog ein Eingabegerät aus ihrer Schürze.

      „Kein Transfer, ich zahle bar.“

      Erstaunt verzog sie ihr Gesicht und sagte: „Wenn Sie bar zahlen, bekommen Sie von mir einen Rabatt. Wo sind Sie abgestiegen?“

      „In Carringtons Gästehaus.“

      „Hätte ich mir denken können. Die Fremden kommen entweder mit dem Schiff hierher und übernachten auf ihrem Schiff, oder sie mieten sich bei Carrington ein. Und da Sie nicht wie ein Schiffer aussehen …“

      „Bietest du dich allen Gästen an?“

      „Nur Männern, die einen einsamen Eindruck machen. Davon gibt es aber reichlich …“, sie brach in Lachen aus und fuhr dann fort, „glücklicherweise. Von dem Bedienungsgeld könnte ich nicht leben.“

      O’Brien stand auf und ging zu seiner Unterkunft zurück. Carringtons Gästehaus bestand aus zwei Teilen. Im Erdgeschoss befand sich ein Laden, wie man ihn in kleinen Hafenstädten weitab von Ballungsgebieten oft finden konnte, eine Gemischtwarenhandlung, die teilweise mehr einem Kramladen glich als einem Warenhaus, was das Schild über der Eingangstür versprach. Angeboten wurden Freizeitkleidung, Wander- und Tauchausrüstungen, Jagdwaffen, Sprengstoffe, Schiffsbedarf, Taue und Seile, Netze, Energiespeicher, Computerteile, Kommunikatoren, Arzneimittel, Getränke und abgepackte Lebensmittel. Zusätzlich zum Laden befand sich im Erdgeschoss ein Frühstückszimmer für die Hotelgäste. Das Hotel bestand aus einem Dutzend Zimmer, die sich auf die obere Etage und das Dachgeschoss verteilten. Neben dem Haus lag eine aufgegebene Tankstelle. Ein kleiner Flur mit anschließender Treppe trennte das Geschäft von dem Frühstückszimmer und bildete den Hoteleingang. In dieser Lobby war der Empfang nichts anderes als ein kleines Fenster mit Klingel in der Wand zum Laden. Der Inhaber von Hotel und Geschäft war ein Mann unbestimmten Alters mit ergrauten Haaren und einer altmodischen Brille. Trotz der Hitze trug er eine gelbe Jacke zu weißen Hosen. Wenn man mit ihm redete, vermied er den direkten Blickkontakt und sah in irgendeine unbestimmte Entfernung. Auf O’Brien machte er mehr den Eindruck eines Sammlers als eines Händlers.

      Neben der Klingel hing ein Monitor, der einen GPS-Zugang hatte. Nach seiner Rückkehr von der Mole schaltete O’Brien diesen Monitor ein und sah sich Satellitenaufnahmen der Stadt und der näheren Umgebung an. Dann druckte er sich eine Hybridkarte aus. Am Abend aß er in seinem Zimmer eine Kleinigkeit aus dem Laden und ging früh zu Bett.

      Am nächsten Tag unternahm er eine lange Wanderung, die ihn vom Meer landeinwärts führte. Gegen Mittag erreichte er den Fuß eines Bergrückens, dessen Hänge teilweise aus rötlichen Felsen bestanden. In halber Höhe war schon von weitem ein stattliches Haus zu sehen, dessen Mauern fast vollständig von Efeu überwuchert waren. Beim Näherkommen musste jedoch jeder Wanderer die Entdeckung machen, dass das Haus nur eine ausgebrannte Ruine mit leeren Fensterhöhlen war und kein Dach mehr besaß. O’Brien schritt um das Haus herum und betrachtete es von allen Seiten. Dann setzte er sich auf die Stufen einer Treppe, die vom Haus in den Garten führte, blickte auf das entfernte Meer und dachte an seine Frau Saska. Ein massives Erdbeben im Südpazifik hatte einen Tsunami mit fünfzehn Meter hohen Wellen ausgelöst. Das Epizentrum lag nur vierzig Kilometer westlich der Insel, auf die er mit seiner Frau und dem zweijährigen Sohn zum Tauchen gekommen war. Es war der erste gemeinsame Urlaub nach der Geburt des Kindes und einer Organtransplantation bei seiner Frau. Das Geld für diese Reise hatten sie sich nach den Kosten der Operation buchstäblich vom Munde abgespart. Die Welle hatte Saska und das Kind am Strand überrascht, er selbst hatte nur überlebt, weil er in einem höher gelegenen Ort einkaufen gegangen war. Die Welle hatte Saska und das Kind mitgerissen, die Leichen hatte man nie gefunden. Nach Saskas Tod hatte er sein Medizinstudium abgebrochen und eine Tätigkeit in einem anderen Land gesucht. So war er mit der Organisation in Kontakt gekommen und hatte seine moralischen Prinzipien nach und nach aufgegeben.

      Nach seiner Rückkehr begann er ein Gespräch mit Carrington und fragte ihn nach dem Haus.

      Das Ereignis, bekam er zur Antwort, liege zwanzig Jahre zurück. Eines Nachts sei ein Feuer ausgebrochen. Da das Anwesen, wie er sich sicher habe überzeugen können, sehr weit entfernt von der Stadt liege, sei jede Hilfe zu spät gekommen.

      Ob die Bewohner überlebt hätten, wollte O’Brien wissen.

      Die seien alle umgekommen.

      Wo sie begraben seien, fragte O’Brien nach.

      Man hätte keine Leichen gefunden.

      Ob er die Leute gekannt habe.

      Nein, er habe sie nicht gekannt, er sei erst ein Jahr nach dem Brand in die Hafenstadt gekommen. Er habe nur gehört, es habe sich um ein Ehepaar gehandelt und der Mann sei ein Wissenschaftler gewesen. Den Namen kenne er nicht, der habe ihn nie interessiert, aber den könne man in der Stadtverwaltung erfragen.

      Ob sich irgendjemand in der letzten