Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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der Anwalt des Krankenhauses, es sei nicht erheblich, dass der Kranke nicht behandelt worden sei. Er hätte aber nach dem ersten Gerichtsurteil behandelt werden müssen und die Dorfgemeinschaft sei verpflichtet gewesen, ihn behandeln zu lassen. Die Rechnung erfasse also den Einnahmenausfall des Krankenhauses. Nach der Anhörung entschied der Richter, den Fall zuzulassen, wodurch die Bauern Hoffnung schöpften. Doch in der Verhandlung wurde die Klage des Dorfes abgewiesen. Da die Gerichts- und Anwaltskosten weitere fünfzehn Prozent der ursprünglichen Summe verschlangen, musste die Dorfgemeinschaft ein Bankdarlehen aufnehmen, um die Forderungen zu bezahlen.

      „Habe ich es nicht gesagt“, jammerte der Großvater, als Lis Vater davon berichtete, dass die Bank einen Zinssatz von acht Prozent verlangte und als Sicherheit Ackerland pfänden wollte, „gegen den verbrecherischen Staat sind wir machtlos! Er hält uns zum Narren und baut eine Bahntrasse, auf der die Gleise fehlen und keine Züge verkehren.“

      So kam es, dass das Dorf zwanzig Prozent seiner Ackerfläche verlor, ohne jemals Geld für das Land zu erhalten, aber auf Jahre hinaus Zinsen und Gebühren zahlen musste.

      Oft zieht ein Unglück das andere nach sich: In dem Jahr, in dem das Dorf den Prozess verloren hatte, waren die Ernten sehr schlecht, und die Bauern wussten nicht, wovon sie die Bankzinsen aufbringen sollten. Daher wurde ein Brief, den das Dorfkomitee ein paar Monate nach dem Gerichtsurteil von einer der neuen Fabrik erhielt, als Rettungsanker begrüßt. Die Fabrik machte den Bauern das Angebot, in Heimarbeit Metall- und Kunststoffteile zusammenzufügen oder auch kleine Maschinenteile zu fertigen. Die Bezahlung sollte auf der Grundlage der abgelieferten Teile nach einer Qualitätsprüfung in der Fabrik erfolgen. Da die Auftragsmenge von der Nachfrage abhänge, werde die Auftragsmenge wöchentlich festgelegt und könne Schwankungen unterliegen. Voraussetzung für die Tätigkeit der Bauern sei allerdings die Anschaffung der notwendigen Stanz- und Pressmaschinen auf eigene Kosten. Die Fabrik sei leider nicht in der Lage, die Maschinen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Begierig griffen die meisten Bauern nach diesem Strohhalm und schlugen die Warnungen der wenigen Weitsichtigen, sich nicht weiter zu verschulden, in den Wind.

      Inzwischen war Li sieben Jahre alt geworden, und ihre Eltern gehörten zu den großen Verlierern der Veränderungen im Tal. Es ging ihnen schlechter als je zuvor. Eines Tages kam ein luxuriöses Auto ins Dorf, dem vier Männer entstiegen. Es waren Chinesen, aber sie waren westlich gekleidet und verströmten den Eindruck großen Reichtums, sie trugen Schuhe aus Leder mit Silberabsätzen, teure Armbanduhren und schwarze mit Mikrokameras und GPS-Sendern ausgerüstete Sonnenbrillen. Sie stellten sich mit ausgesuchter Höflichkeit beim Dorfkomitee vor und sagten, sie seien Personalberater der großen amerikanisch-chinesischen Hotelgesellschaft Luxor. Die Gesellschaft habe beschlossen, in Südchina mehrere Hotelanlagen mit angeschlossenen Freizeitparks zu errichten, und suche junge Mädchen, die für den anspruchsvollen Hotelservice reicher Gäste ausgebildet werden sollten. Die Mädchen hätten, wenn sie sich gut anstellten, Chancen, nicht nur Zimmermädchen, Kellnerinnen und Köchinnen zu werden, sondern könnten auch die gehobene Hotellaufbahn durchlaufen, die Welt kennenlernen – die Gesellschaft betreibe schon jetzt weltweit über dreißig Anlagen – und später reich heiraten. Außerdem sei die Gesellschaft bereit, den Eltern ein Handgeld zu zahlen. Zum Beweis zeigten sie Fotos und Filme sowie Empfehlungsschreiben von Regierungsstellen Chinas, Indiens und Thailands.

      In der Nacht sprachen Lis Eltern über die Fremden, und Hu sagte zu ihrem Mann: „Wir haben kaum etwas zu essen, und ich weiß nicht, wie ich all die Mäuler ernähren soll. Der Großvater und die Tante sterben einfach nicht, und das vierte Kind verdanken wir nur deiner Unbeherrschtheit. Was soll nur aus uns werden?“

      „Gegen den Staat kann man nichts ausrichten.“

      „Davon können wir uns nichts kaufen.“

      „Was hältst du von den Männern, die heute ins Dorf gekommen sind?“

      „Vielleicht sollten wir ihnen Li geben.“

      „Unsere Tochter lasse ich nicht in die Fremde ziehen“, sagte Yong.

      „Wir wollen sie morgen fragen. Hier hat sie keine Zukunft und bekommt keine Ausbildung.“

      Li hatte vor Hunger nicht einschlafen können und das Gespräch der Eltern gehört. Da sie ihre Eltern liebte, beschloss sie, ihnen zu helfen. Am nächsten Morgen erklärte sie ihrer Mutter, sie wolle mit den Fremden fortgehen. So verkauften die Eltern ihre Tochter an den Hotelkonzern.

      Doch es war kein prachtvolles neues Hotel, wohin die Männer sie brachten, sondern eine schäbige Absteige in einem entlegenen Grenzgebiet. Es war ein Treffpunkt für Drogenhändler auf dem Weg nach Thailand. Außerdem war es ein Bordell.

      Kapitel 21: Carringtons Gästehaus

       Mosul Free Press, 28. Januar 2101: In seiner gestrigen Pressekonferenz kündigte der Regierungssprecher eine Reise des Premierministers nach Teheran an, um mit der persischen Regierung einen Freundschafts- und Beistandspakt zu unterzeichnen und die seit langem zwischen Persien und Kurdistan schwelenden Grenzstreitigkeiten beizulegen. Bedauerlicherweise, fügte der Sprecher hinzu, sei der Abschluss eines entsprechenden Vertrages mit der Türkei nicht abzusehen, und verwies auf die jüngsten Unruhen in den östlichen Provinzen am Van-See.

      Antonio Hector O’Brien hatte sich drei Tage freigenommen, um seinen neunundfünfzigsten Geburtstag zu feiern. Unter falschem Namen hatte er einen teuren Flug gebucht und ihn mit seinem eigenen Geld bezahlt. Am Ankunftsort hatte er öffentliche Verkehrsmittel benutzt und schließlich nach mehrstündiger Fahrt mit einer Bahn und einer Fähre die kleine Hafenstadt erreicht, wo ihn keiner kannte.

      Jetzt saß er auf alten Holzplanken einer Hafenmole, blickte auf das Wasser und hörte dem Klatschen der Wellen zu. Glücklicherweise war der Himmel bedeckt, die Hitze eines wolkenlosen Sommertages wäre im Freien nicht lange zu ertragen gewesen. Noch ein Jahr, dachte er, dann könne er sich zurückziehen. Aber wohin sollte er gehen und was würde er dann tun? Der Frage, womit er sich gerne beschäftigen würde, war er immer ausgewichen. Im Hafen herrschte wenig Verkehr, alle Motorschiffe lagen vermutlich aus Treibstoffmangel vor Anker, aber auf dem Meer zogen einige Segelschiffe vorbei. O’Brien sah ihnen nach; er liebte den Anblick der hohen weißen Segel und stellte sich gerne vor, er wäre Kapitän auf einem der Boote. Doch da er den Wellengang des offenen Meeres nicht vertrug, unternahm er keine Schiffsreisen. Er war sich nicht sicher, ob man ihn am Leben lassen würde; er wusste zu viel. Aber angenommen, sie ließen ihn in Ruhe … was würde er gerne tun? Sein Rücken schmerzte; der Poller, gegen den er sich gelehnt hatte, war keine bequeme Stütze. Er streckte sich und verspürte leichten Hunger. Nach einem streifenden Blick über die wenigen im Hafen vertäuten Boote stand er auf und ging zu einem Holzhaus am Ende der Mole. Es war das einzige Restaurant am Hafen, das durchgehend geöffnet hatte. Auf einem großen, sich drehenden Bildschirm leuchteten der Name „Zur Seejungfrau“ und die Tageskarte, die nur aus vier Gerichten bestand: Fischsuppe mit Schlangenfleisch, gebratene Garnelen mit Reis, gedünsteter Knurrhahn mit Birnen und gegrillter Schwertfisch mit Fenchelsalat.

      O’Brien setzte sich an einen der Tische, die unter einem Vordach standen. Er war der einzige Gast. Ein dunkelhäutiges Mädchen mit breiter Nase, vermutlich eine Maori, nahm seine Bestellung entgegen. Zunächst fragte er nach dem Knurrhahn: „Wo habt ihr den Fisch her? Ich dachte, er sei so gut wie ausgestorben.“

      „Der Chef setzt ihn regelmäßig auf die Speisekarte. Soviel ich weiß, wird er hier irgendwo gezüchtet.“

      „Tatsächlich? Habe ihn noch nie gegessen.“ Aber dann entschied er sich für die Garnelen und bestellte Wasser dazu.

      „Haben Sie die blinde Robbe gesehen?“ fragte die Bedienung, als sie die Garnelen brachte. Sie waren längs aufgeschnitten und mit Schinkenspeck umwickelt.

      „Welche Robbe?“ versetzte O’Brien, der den Duft des gebratenen Specks einsog und bedauerte, keinen Wein bestellt zu haben.

      „Sie kommt fast jeden Tag zur Mole und bettelt um Fischabfälle. Das eine Auge ist