Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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er wisse, herrenlos. Er könne es erwerben.

      „Sie können es kaufen, wenn Sie wollen. Die Aussicht ist sehr schön“, sagte Carrington und sah dabei zum erste Mal während des Gesprächs O’Brien in die Augen.

      „Vielleicht keine schlechte Idee“, antwortete O’Brien, „in einem Jahr höre ich auf zu arbeiten und suche noch einen Alterssitz. Ich könnte mir vorstellen, Orchideen und andere Blumen zu züchten; mir fiel auf, dass das Gewächshaus neben der Ruine fast unbeschädigt ist. Gibt es eine Preisvorstellung?“

      „Keine Ahnung. Erkundigen Sie sich bei der Stadtverwaltung.“

      Am Abend suchte er das Restaurant im Hafen auf, weil er beschlossen hatte, sich aus Anlass seines Geburtstages eine Flasche Wein zu genehmigen. Obwohl diesmal die meisten Tische besetzt waren, kam Julita sogleich zu ihm, um seine Bestellung aufzunehmen. Sie trug einen noch kürzeren Rock als am Vortag, er war dunkelblau und glänzte metallisch im Licht der vom Abendwind leicht bewegten Lampen, die unter dem Vordach hingen.

      „Hallo Fremder“, begrüßte sie ihn, „haben Sie doch Sehnsucht nach mir?“

      „Vielleicht“, antwortete er ausweichend, bevor er nach einer Getränkekarte fragte.

      „Haben wir nicht“, antwortete das Mädchen, „es gibt Bier, Gin, Sake, Whisky, einen billigen Weißwein aus Australien und einen teuren aus Neuseeland. Außerdem einen Rotwein aus Südafrika, aber der taugt nichts; der macht Kopfschmerzen, den kann ich nicht empfehlen!“

      Sie hatte ihre Handflächen auf die Tischplatte gelegt und sich leicht nach vorn gebeugt. Ein tief ausgeschnittenes weißes Hemd zeigte viel von ihren Brüsten, und der Rock endete oberhalb der Tischkante.

      „Gut, dann bring mir den Weißwein aus Neuseeland … und zwei Gläser.“

      „Zwei Gläser? Erwarten Sie noch jemanden?“

      „Nein, ich möchte mit dir anstoßen!“

      „Mit mir? Das erlaubt der Chef nicht!“

      „Aber er erlaubt dir, ohne Unterwäsche herumzulaufen! Du zeigst wirklich alles, was du hast.“

      „Das gehört zum Geschäft, zu seinem und zu meinem.“

      Als sie den Wein brachte und neben seinem Stuhl stehend einschenkte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seine Hand zwischen ihre Oberschenkel zu schieben. Sie stellte die Weinflasche ab, sah ihn schräg von oben an und sagte, während sie sich ihm entzog: „Sie sind ja ein unanständiger Junge. Das kostet extra.“

      Zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich antworten: „Bist du heute abend noch frei?“

      „Statt die Zeit mit der Bedienung zu vertrödeln, sollten Sie die Speisekarte studieren und eine Wahl treffen. Heute hat die Küche viel zu tun.“

      „Bist du heute abend noch frei?“

      „Wer weiß … vielleicht.“

      Sie zog mit seiner Bestellung ab und verschwand in der Küche. Danach kümmerte sie sich um andere Tische. Nach einiger Zeit streifte sie jedoch wieder an O’Brien vorbei und sagte: „Das Essen braucht eine Weile. Damit sich der Herr in der Zwischenzeit nicht langweilt, habe ich etwas für ihn.“

      Nach diesen Worten stellte sie einen kleinen Hologrammprojektor auf den Tisch und schaltete ihn an. O’Brien erblickte eine Gruppe von drei Personen, eine Frau und zwei Männer. Sie waren nackt und lagen auf einem Bett. Die Frau bediente einen der Männer mit dem Mund, während der zweite Mann sie von hinten nahm. Zwischendurch blickte die Frau wiederholt in die Kamera, sie war zweifellos Julita. Die Szene dauerte etwa eine Minute. Danach schaltete sich das Gerät aus.

      Als sie das Essen gebracht hatte, nahm Julita das kleine Gerät wortlos an sich und wendete sich sogleich zum Gehen. In der folgenden halben Stunde beachtete sie O’Brien nicht, bis sie durch seine lauten Rufe nach der Bedienung gezwungen wurde, an seinen Tisch zu treten. Er verlangte nach einer zweiten Flasche Wein und sagte dann: „Nun … bist du heute abend frei?“

      „Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen, mein Herr“, gab sie zur Antwort.

      „Meinen Namen? Ich heiße …“, er zögerte, er hatte seit Jahren keinen Alkohol mehr zu sich genommen und war schon leicht betrunken, „Churchill, aber du kannst mich … Winston nennen.“

      Als Julita später in seinem Zimmer auf seinem Bett den Kopf nach unten beugte und ihre Haare nach vorne fielen, erblickte er auf der Haut ihres Nackens eine Tätowierung, die aus vier Buchstaben und acht Ziffern bestand. Er kannte die Bedeutung dieser Tätowierung. Die Buchstaben waren ein Kürzel einer Organfarm, die Zahlen ein Schlüssel mit Geburtstagsdatum und fortlaufender Nummerierung.

      Als sie im Morgengrauen gehen wollte, fragte er beiläufig, warum sie in diese abgelegene Stadt gekommen und nicht bei ihrem Stamm geblieben sei.

      „Ist dir nicht aufgefallen, dass es hier keine Überwachungskameras gibt?“ war ihre Antwort.

      Er war so an die Präsenz von Überwachungskameras gewöhnt, dass ihm ihr Fehlen nicht aufgefallen war. Erstaunt und fragend entfuhr ihm: „Ja? Tatsächlich. Wie ist das möglich?“

      „Der Wirt der Seejungfrau ist auch der Bürgermeister. Er sagt immer, für solchen Quatsch hätte die Stadt kein Geld.“

      „War das der Grund für dich …?“

      „Nur zum Teil. Trotz deiner Gier ist dir doch bestimmt die Narbe auf meinem Bauch aufgefallen?“

      Er nickte.

      „Ich brauchte Geld und habe eine Niere verkauft. Hier ist das Leben billig, ich komme mit wenig Geld zurecht, Ab und zu ein Kunde wie du …“

      Er nickte hinhaltend, schien nachzudenken und fragte dann: „Wie war deine Jugend? Hast du schöne Erinnerungen?“

      „Oh ja!“ Begeisterung kam in ihre Stimme. „Meine Großmutter war eine Maori-Königin. Sie hieß Te Atairangikaahu und wurde sehr alt. Sie war sehr nett zu mir, und als sie starb, paddelten Männer den Sarg in einem Kanu zum Bestattungsberg. Der Nebel stieg aus dem Flussbett des Waikato und verhängte die heiligen Berge, als sie zu Grabe getragen wurde.“

      O’Brien sagte nichts dazu. Er wusste, dass diese Erinnerung falsch war, dass Julita, die glaubte, dass sie Roimata hieße, in einer Organspenderfarm gezüchtet worden war und dass es ihr aus irgendeinem Grund, der ihm gleichgültig war, gelungen war, aus der Farm zu entkommen.

      Im Verlauf des Tages trat er die Rückreise an, ohne den Bürgermeister oder die Stadtverwaltung aufgesucht zu haben. Nach der Ankunft auf dem Zielflughafen setzte er seine Fahrt mit einer Untergrundbahn fort. Als er sie in der Endstation verließ, war er nicht mehr Antonio Hector O’Brien, sondern der Direktor.

      Kapitel 22: Die Sure vom Rauch

       Der Plan der ATA war einfach. Mangels einer besseren Idee sollten die angeworbenen Personen als perfekt ausgebildete, mit der Kultur und der Sprache des Gegners vertraute Undercover-Agenten an verschiedenen Stellen in das Netzwerk der Dschihadisten eingeschleust werden, um die Zielplanung herauszufinden und den Terror mit Gegenterror zu beantworten. Aus: Cagdaz Manzoni und Rebekka Mevissen: Geschichte der westlichen Geheimdienste, zweiter Ergänzungsband: Rückblick auf die Ereignisse des Jahres 2101. Manama 2109.

      Während die Argo vor Alacant ankerte, Solveig den Schnee kennenlernte und Bodishia eine Wohnung in London suchte, wurde Ronit von Raisa in die Koranschule der Großen Moschee am Palästinensischen Nationalmuseum in Ûrshalîm-al-Quds eingeführt.

      An dem Tag, an dem Raisa Takri sie im Frauenleseraum der Bibliothek angesprochen hatte, ließ Ronit sich von der Aufseherin ein Stück auf dem Heimweg begleiten und erzählte ihr von der Trauer über den Tod ihres Mannes. Raisa Takri hörte ihr aufmerksam zu und