Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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einbog, in der das Gemüsegeschäft Aljawis lag, stand er vor dem Laden und unterhielt sich mit einem Mann, der sich verabschiedete, bevor Ronit das Geschäft erreicht hatte. Aljawi sah ihr entgegen und sagte, nachdem sie zusammen den Laden betreten und die Tür geschlossen hatten, dass sie ihren Gang und ihre Kopfhaltung noch nicht genügend angepasst habe: „Eine Muslimin bewegt sich anders als du in der Öffentlichkeit. Sie schlendert nicht durch die Straßen, weil die Straße den Männern gehört, auf der sie sich aufhalten, sich unterhalten und Geschäfte machen. Eine Muslimin bewegt sich unauffällig, sie drückt sich an Hauswänden entlang, sie huscht wie eine flinke Maus von einem Ort zum anderen. Sie weiß, dass sie nicht auf die Straße gehört, sondern ins Haus. Und deshalb lässt sie auch ihren Blick nicht offen schweifen. Ihr Kopf ist stets demütig gesenkt. Vergiss das nie!“

      Etwas verärgert erwiderte Ronit, er solle nicht vergessen, dass sie als seine Schwester in Beirut gelebt und sich dort habe freier bewegen können als hier in Ûrshalîm-al-Quds. Die Leute, deren Vertrauen sie gewinnen wolle, seien nicht nur nicht dumm, sondern auch gut ausgebildet. Würde sie die Demut einer palästinensischen Muslimin zeigen, würde sie vermutlich eher Verdacht erwecken als mit einem westlich beeinflussten Auftreten.

      Ronits standhafter Widerspruch überraschte Aljawi. Plötzlich merkte er, dass er seit langem keinen Kontakt mehr mit einer selbstbewussten Frau gehabt hatte, und gab klein bei: „Meine Lage ist sehr gefährdet. Du verstehst doch, dass wir größte Sorgfalt in unserem Auftreten walten lassen müssen. Den religiösen Milizen reicht ein Verdacht, um jemanden zu foltern und umzubringen.“

      Etwa zur gleichen Zeit suchte Raisa Takri den Imam der Großen Moschee auf, um ihn, wie es ihrer Gewohnheit entsprach, über auffälliges Leseverhalten der Besucherinnen der Bibliothek zu unterrichten. Nach der formellen Begrüßung sagte sie, sie habe gute Neuigkeiten: „Allah hat mich geleitet und uns eine Frau zugeführt, die die Stärke zu haben verspricht, sich als Selbstmordattentäterin für unsere gerechte Sache zu opfern.“

      Dr. Jamil al-Asraqi, der Imam der Großen Moschee, hörte diese Nachricht gern und bat Raisa, ihm mehr von Rasha Orit zu berichten.

      „Sie ist Witwe, sie lebte mit ihrem Mann im Libanon und gibt den Europäern die Schuld an seinem Tod. Die Einzelheiten mochte sie mir nicht schildern, aber sie ist voller Trauer, Hass und Wut.“

      „Hat sie schon Andeutungen gemacht, sich für die Sache der Freiheit einsetzen zu wollen?“

      „Nein, das hat sie nicht. Aber sie hat kein Ziel, sie schwankt und sucht. Ich werde sie führen.“

      An den beiden folgenden Tagen verzichtete Ronit auf einen Besuch in der Bibliothek und half stattdessen Aljawi bei seinem Gewerbe, begleitete ihn in aller Herrgottsfrühe auf den Großmarkt, um frisches Gemüse auszusuchen und einzukaufen, lernte einige Stammkunden und ihre Vorlieben näher kennen, prüfte abends die Reste auf Verkaufsfähigkeit am nächsten Tag und begann eine Zusammenstellung der Verkäufe anzulegen, indem sie die Unterschiede zwischen den eingekauften und verkauften Waren erfasste – entsprechende Übersichten hatte Aljawi nie erstellt und morgens immer nur nach Gefühl eingekauft. Außerdem kochte sie abends, womit sie Aljawi sehr für sich einnahm, weil er selbst keine Geduld besaß, Mahlzeiten mit Sorgfalt und Ideenreichtum zuzubereiten.

      Am Freitag endlich ging sie zur Großen Moschee, um die Predigt des Imams zu hören. Den Frauen wurde eine Empore zugewiesen, von der man trotz des Gitters die Kanzel, zu der neun Stufen führten, gut sehen konnte. Der Imam, der auf den Minbar stieg, war schlank und noch verhältnismäßig jung, Ronit schätzte ihn aus der Entfernung auf Ende Dreißig. Er wandte sein schmales Gesicht der Menge zu, hob seine Hände und sprach: „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen! Was machen wir aus unserem Leben? Welche Ziele verfolgen wir? Jagen wir dem Wohlergehen und eitlen Genüssen nach? Suchen wir nur nach unserem Vorteil? Oder dienen wir Gott? Welche Antwort geben wir Allah darauf am Jüngsten Tag? Denkt an die Sure vom Goldprunk! Was antwortet ihr, wenn er euch fragt: Was habt ihr mit den heiligen Worten gemacht, die ich euch durch meinen Propheten offenbart habe? Habt ihr mein Reich auf der Erde aufgerichtet? Oder habt ihr die Erde den Gottlosen überlassen, den Schweinefleischfressern und Unbeschnittenen, den Heiden, die ihre Weiber nicht nur unverhüllt herumlaufen lassen, sondern halbnackt als Huren feilbieten? Und wenn ihr am Jüngsten Tag Gott in seiner Prächtigkeit seht, dann werdet ihr mit größtem Schrecken erkennen, dass ihr euch von dem Gehorsam, den ihr ihm schuldet, habt hinweglocken lassen. Aber was habt ihr euch dafür eingehandelt? Ein scheinbares Glück, eine scheinbare Freiheit, Bequemlichkeit. Das Glück und die Bequemlichkeit aber haben einen Beigeschmack von Verwesung. Wie kann man gut essen und in der Sonne liegen, während das Volk unter dem Joch des Zionismus verkommt? Dem Aufrechten bereitet daher das scheinbare Glück, die scheinbare Freiheit, gut zu leben, ein schlechtes Gewissen. Die einzige Möglichkeit, sich von dem schlechten Gewissen zu befreien, besteht darin, sich zu wehren, sich dem Widerstand anzuschließen.“

      Der Imam machte eine Pause und blickte über die Menge, bevor er fortfuhr: „Was habt ihr euch eingehandelt? wird euch Gott fragen. Tand, Täuschungen, Bequemlichkeiten, Blendung und Verderben. Das ewige Höllenfeuer habt ihr euch eingehandelt! Trennt euch von euren Besitztümern, beendet eure Bequemlichkeit! Wacht auf und erkennt, was Gott von euch erwartet! Was wollt ihr auf der staubigen Erde zurücklassen? Haben wir ein Vaterland? Wo ist es? Seit dem Bau der Mauer sind wir stärker verletzt als je zuvor. Wir tragen diese Verletzung in uns und schämen uns, sie zu zeigen. Die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, besteht darin, sich zusammen mit der Verletzung zu zerstören. Wir dienen Gott, wenn wir den Tod zum Ziel unseres Lebens erwählen. Werdet Widerstandskämpfer! Zögert nicht, euer Leben für unser heiliges Palästina zu geben. Tag für Tag sehen wir diese Schandmauer, die die Juden errichtet haben. Reißt sie nieder!“

      Wieder machte der Imam eine Pause, weil aus einzelnen Rufen inzwischen ein heftiges Geschrei entstanden war. Während der Lärm verebbte, warf Ronit Blicke auf die sie umgebenden Frauen; einige weinten, andere starrten ekstatisch zum Minbar, als habe sich dort Gott offenbart.

      „Wenn ihr euch opfert“, nahm der Imam seine Rede wieder auf, nachdem Stille eingekehrt war, „fügt ihr natürlich eurer Familie, euren Eltern, euren Gatten einen Schmerz zu. Aber was bedeutete schon dieser Schmerz angesichts des göttlichen Lohnes, und mit der Zeit werden eure Angehörigen lernen, euer Opfer zu würdigen. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen, um frei zu sein. Nur wenn wir uns für die Sache Gottes entscheiden, haben wir einer Zukunft den Rücken gekehrt, die wir nicht erleben wollen und nicht ertragen können, weil wir sie fürchten und weil sie uns enttäuschen wird.“

      Nach dem Ende der Gebete suchte Ronit beim Verlassen der Moschee nach dem Gesicht von Raisa Takri, konnte sie jedoch in der Menge der Frauen nicht entdecken. Sie hätte die Aufseherin auch bei gründlichster Suche nicht finden können, Raisa Takri war nicht zur Freitagspredigt gekommen. Sie hatte zwei Söhne, von denen einer gelähmt war und sein Leben im Rollstuhl verbringen musste. In der Nacht war es ihm sehr schlecht ergangen, und seine Mutter war zuhause geblieben, um ihn zu pflegen.

      Nach ihrer Rückkehr zu Aljawi gab Ronit ihrer Überzeugung Ausdruck, auf der richtigen Spur zu sein: „Dieser Imam ist ein Fanatiker und hat sicherlich beste Kontakte zu Terroristengruppen und Ausbildungslagern, wenn er nicht sogar der Kopf einer Terrorgruppe ist. Auf jeden Fall hat er keine Angst – oder er fühlt sich sehr sicher. Er hat nämlich während seiner Predigt auf die Anwesenheit bewaffneter Leibwächter verzichtet.“

      Am nächsten Tag suchte sie die Koranschule auf und traf dort Raisa Takri. Zur Überraschung Ronits stellte sich heraus, dass Raisa Vorbeterin war und den versammelten Frauen den Koran auslegte.

      „Hat man dir den Rang eines Imams zugeteilt?“ fragte Ronit die Aufseherin nach Abschluss der Gebetsstunde.

      „Nein, Frauen können keine Imame sein, diese Häresie gibt es nur im dekadenten Westen“, antwortete Raisa, „aber ich habe viele Jahre den Koran studiert und habe von Dr. Jamil al-Asraqi die Erlaubnis bekommen, in seiner Stellvertretung den Unterricht zu leiten. Er hat gar zu viel zu tun und ist sehr beschäftigt. Nun sage mir, wie dir die Predigt gefallen hat.“

      „Sie war sehr eindrucksvoll und mitreißend“, gestand Ronit.

      „Hat sie dir geholfen, einen