Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


Скачать книгу

muss man allerdings wissen, dass sein Onkel ihm den Auftrag gegeben hatte, weil er ihn ins Verderben stürzen wollte.“

      „Diese alte Geschichte scheint sehr verworren zu sein“, versetzte Li Yuchan.

      Medea nickte.

      „Und wie kommen die Korinther ins Spiel?“ fragte Pokahontas.

      „Aus Dankbarkeit hat Jason Medea geheiratet, aber später, als sie ihm zwei Kinder geboren hatte, wurde er ihrer überdrüssig und bekam Lust auf frisches Mädchenfleisch. Er war inzwischen nach Korinth gekommen, wo Kreon König war und eine heiratsfähige Tochter hatte. Als Jason Medea eröffnete, er verstoße sie und werde Glauke, die Tochter des Königs, zur Frau nehmen, rächte sie sich und tötete Glauke und ihren Vater.“

      „Wie hat sie das angestellt?“ fragte Li Yuchan mit Neugier.

      „Medea war zauberkundig und sandte ihrer Rivalin ein Brautkleid, das sie mit Gift getränkt hatte. Als Glauke das herrliche Festgewand überstreifte, ging es in Flammen auf. Glauke und ihr Vater, der ihr zur Hilfe eilte, verbrannten.“

      „Guter Trick“, sagte Schwester Mond anerkennend.

      „Hast du kein Mitleid?“ fragte Pokahontas verwundert.

      „Fremde, die ins Dorf kommen“, antwortete Li Yuchan, „sind des Teufels. Ich kann ein Lied davon singen.“

      Inzwischen hatten die Frauen das Theater verlassen und stiegen weiter den Berg empor. Als sie nach mehreren Stunden die Vegetationsgrenze erreicht hatten, legten sie eine Rast ein, und Medea nahm den Faden ihrer Geschichte wieder auf: „Nach dem Tod des Königs und seiner Tochter trachtete das empörte Volk von Korinth Medea nach dem Leben. Um sie zu retten, schickte der Gott Hermes einen von einem Drachen gezogenen Wagen, mit dem sie floh. Doch der weitere Verlauf ihres Lebens verlief fast noch komplizierter als die Vorgeschichte.“

      „Erst ein goldenes Fell, jetzt ein Drache, das klingt alles nach einem Märchen“, bemerkte Sanabu.

      „Soviel ich weiß“, sagte Pokahontas, um Medea zu unterstützen, „ist diese Geschichte sehr alt und ereignete sich lange vor dem Trojanischen Krieg. Wer vermag da noch, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten?“

      „Gehen wir weiter, oder wollt ihr umkehren?“

      „Hinauf!“ versetzte die Massai, „einem Vulkan muss man die Ehre erweisen, ihn zu besteigen.“

      „Früher“, sagte Medea und wandte den Blick nach oben, „soll der Krater zu dieser Jahreszeit schneebedeckt gewesen sein. Aber daran erinnern sich nur die alten Leute. Seit fünfzig Jahren ist hier kein Schnee mehr gefallen, ich habe die weiße Haube nie gesehen.“

      Als die Argo Tage später Kurs auf Ashdod genommen hatte, meldete sich unerwartet Solveig bei Medea und sagte, sie benötige ihren Rat und Analysen des Avatars.

      „Ich habe das Camp gefunden. Es liegt in Tasmanien, ich muss dorthin und brauche Li zur Begleitung, vielleicht auch Pokahontas.“

      Kapitel 20: Der Mann im Käfig

       Seit Jahrzehnten ist China Durchgangsstation und Bestimmungsland für ungesetzlichen Menschenhandel mit Frauen, Männern und Kindern zum Zweck sexueller Ausbeutung und Sklavenarbeit. Im vergangenen Jahr wurden mindestens 50.000 Menschen Opfer des innerchinesischen Menschenhandels. Zusätzlich wurden Chinesinnen mit falschen Versprechungen legaler Beschäftigung nach Thailand, Malaysia und Japan gelockt und dort zu sexuellen Dienstleistungen gezwungen. Gleichzeitig wurden Frauen und Kinder aus der Mongolei und vor allem Myanmar nach China verschleppt. Die chinesischen Behörden bekommen das Problem nicht in den Griff und bieten vor allem ausländischen Opfern, die nach China zum Zweck von Zwangsverheiratungen gebracht werden, keinen ausreichenden Schutz. Aus dem Jahresbericht des Rats für Menschenrechte. Genf 2101.

      Li Yuchan hatte gute Gründe für ihr Misstrauen Fremden gegenüber. Wenn sie an ihre Kindheit dachte, erinnerte sie sich entweder daran, wie die Fremden ins Dorf gekommen waren, oder sie sah den Mann im Käfig vor sich. Der Käfig stand am Rande des Dorfplatzes in einem offenen Schuppen, der früher als Dorfabtritt gedient hatte, er war aus Eisen und von allen Seiten einsehbar. Er war etwa drei Meter hoch und jeweils vier Meter lang. Das Dach und die Seiten bestanden aus Eisenstäben, der Boden aus Beton. Auf einer Seite befand sich eine Gittertür, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war und nie geöffnet wurde. Da das Dach des Schuppens undicht war, hatte man auf die Dachstäbe des Käfigs eine Plastikbahn zum Schutz gegen Regen gelegt und sie mit Brettern sowie Steinen beschwert. Im Käfig war eine Strohmatratze der einzige Gegenstand.

      Solange Li denken konnte, lebte der Mann in dem Käfig. Tags saß er auf dem Boden oder ging hin und her. Nachts schlief er auf der Strohmatratze. Musste er seine Notdurft verrichten, hockte er sich in eine Ecke. Die Leute, die in diesen Augenblicken am Käfig standen, gingen dann weg – nicht aus Schamgefühl, sondern weil der Mann manchmal durch das Gitter pinkelte oder die Leute mit seinem Kot bewarf. Einmal in der Woche kam ein Mann mit einem Schlauch und spritzte mit dem Wasserstrahl den Kot aus dem Käfig. Danach richtete er den Schlauch auch auf den Mann, um ihn ein wenig zu säubern. War es im Sommer sehr heiß, kam der Mann mit dem Schlauch auch manchmal mehrmals die Woche, um den Gestank zu beseitigen. War es Winter und so kalt, dass das Wasser gefror, blieb der Kot wochenlang auf dem Käfigboden liegen.

      „Warum ist der Mann im Käfig?“ hatte Li ihre Eltern gefragt, als sie diese Frage denken und aussprechen konnte.

      Der Mann hieß Chen Zhisheng. An einem Sommermorgen war er aus seiner Wohnung auf die Straße getreten und hatte sich auf den Weg in die nächste Stadt gemacht. Unterwegs riss er eine Holzlatte aus einem Gartenzaun und erschlug aus Gründen, die niemand im Dorf kannte und die er nie erklärt hat, einen siebzig Jahre alten Mann. Der alte Mann versuchte noch zu fliehen, aber er brach nach einigen Schritten zusammen. Eine Frau aus einem Nachbarhaus wollte dem Alten helfen, aber Zhisheng schlug auch auf sie heftig mit der Holzlatte ein. Das Schreien der Frau lockte andere Menschen herbei, und schließlich konnte die Polizei den Mann verhaften und ins Gefängnis der nächsten Stadt schaffen. Im Verhör der Polizei beantwortete er die Fragen nicht oder gab wirre Antworten. Schließlich wurde ein Gerichtsmediziner gerufen, der eine ausgeprägte geistige Behinderung feststellte. Im Verlauf der weiteren Untersuchung und Befragung der Nachbarn im Dorf stellte sich heraus, dass Chen Zhisheng schon vor vielen Jahren erste Proben von Verwirrtheit gezeigt hatte, die im Verlauf seiner Ehe immer stärker wurden. Etwa zehn Jahre früher hatte seine Frau die vielen Schläge nicht mehr ausgehalten, war zu ihren Eltern zurückgekehrt und hatte sich von ihm scheiden lassen. Seitdem hatte er die Gewohnheit angenommen, allein umherzuwandern und mit sich selbst zu sprechen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Tagelöhner.

      Nach Abschluss der Ermittlungen wurde er in der Bezirkshauptstadt vor Gericht gestellt, aber der Richter, der Staatsanwalt und der bestellte Pflichtverteidiger kamen schon am zweiten Verhandlungstag zu der Überzeugung, es sei das Beste, Chen Zhisheng in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, was auch alsbald geschah. Doch nach einem Monat schickte das Krankenhaus eine Rechnung für die Kosten der Behandlung und verlangte zusätzlich eine Vorauszahlung für die nächsten sechs Monate. Zhisheng hatte keine Blutverwandte, und so musste sich das Dorfkomitee, das aus dem Ältestenrat, dem Dorfvorsteher und dem Parteikader bestand, mit der Angelegenheit beschäftigen. In der Sitzung wurde der Dorfvorsteher beauftragt, der Klinik einen Brief zu schreiben, dass das Dorf das Geld für eine fortlaufende und vermutlich mehrjährige Behandlung nicht aufbringen könne.

      Statt einer Antwort fuhr zwei Wochen später ein Krankenwagen im Dorf vor. Der Fahrer öffnete die Hecktür des Wagens, zog eine Bahre heraus, auf der Chen Zhisheng angeschnallt lag, und sagte zu der Menge, die sich inzwischen eingefunden hatte: „Da habt ihr euren Verrückten. Das Krankenhaus gibt ihn euch zurück.“

      Danach löste er die Anschnallgurte, kippte die Bahre um, so dass der gefesselte Kranke in den Staub fiel, und fuhr davon. Die Dorfbewohner gerieten nun in große Sorge, Zhisheng