Eric Gutzler

Der Anschlag auf London am 11. Sept. 2101


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die in einer Scheune angekettet waren. Vier Elefanten, ein Bulle und drei Kühe. Der Bulle Babar war kein freundlicher, niedlicher Elefant wie in dem alten Kinderbuch, sondern immer noch ein wilder Elefant aus Afrika, er war groß und schwer und wurde leicht wütend. Campanati glaubte, die Wut Babars verstehen zu können, und verlegte seinen Schlafplatz in die Scheune – erst außerhalb der Reichweite der angeketteten Elefanten, damit sie sich an ihn gewöhnen konnten, dann überschritt er die Grenze seiner Angst, kritzelte den Satz „Angst ist nur ein Wort“ auf ein Brett, schob seine Schlafmatte näher an die Tiere heran und legte sich dort zum Schlafen. Die Elefanten wären ihn gerne losgeworden und bewarfen ihn mit Heu, aber sie zertrampelten ihn nicht. Als Campanati eine Woche überlebt hatte, baute er den Dickhäutern einen neuen Wassertrog und verlängerte ihre Ketten. Schließlich erkannte ihn Babar nach einiger Zeit als seinen Leitbullen an, und die Weibchen, die auch schwierig waren, folgten ihm. Jetzt ging Campanati täglich mit den Elefanten spazieren, badete mit ihnen in einem See und wurde von den Elefanten als Zeichen ihrer Zärtlichkeit mit dem Rüssel gedrückt, was zu mehreren Rippenbrüchen führte – aber die nahm er in Kauf. Trotzdem wäre die Sache nicht gut ausgegangen, wenn nicht einige Leute des Filmteams sich an ihre Verantwortung erinnert hätten: Sie gründeten eine Stiftung und wandelten das Drehgelände in einen Zoo um, in dem auch für die Raubkatzen und Kamele Platz war. An dem Tag, an dem der Zoo eröffnet wurde, gab John Campanati dem Elefanten Babar und den Kühen das Versprechen, bis zu ihrem Lebensende für sie dazusein. Und was niemand erwartet hätte, der ihn kannte: Der unstete Campanati hielt Wort, blieb bei seinen Elefanten und begann, ein Tagebuch über sie zu schreiben.

      Als Medea ihn aufsuchte – ohne besonderen Anlass oder vielleicht auch nur mit der Absicht, die ATA-Beobachter zu verwirren –, fand sie ihn in großer Niedergeschlagenheit vor und magerer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine langen Haare und der Bart waren weiß geworden. Campanati trauerte um Babar, der Elefantenbulle war vor zwei Wochen verendet.

      „Was wirst du jetzt tun, Elba verlassen?“

      „Nein ich bleibe hier, die Elefanten haben aus mir einen Menschen gemacht, ich muss mich jetzt um die alten Damen kümmern. Sie brauchen einen Bullen. Aber wo sollte ich einen neuen auftreiben?“

      Dann begann er mit seiner tiefen Stimme zu erzählen, und Medea hörte ihm zu. Um ihn abzulenken und zu trösten, fragte sie schließlich: „Soll ich dir Erleichterung verschaffen?“

      Erstaunt sah er sie an: „Dein Angebot ehrt mich. Aber mit Frauen bin ich nie zurechtgekommen, ich verstehe sie nicht. Ich weiß nicht einmal, ob meine Mutter noch lebt, ich habe sie seit über vierzig Jahren nicht mehr gesehen; wahrscheinlich ist sie schon tot und begraben an einem Ort, den ich nicht kenne.“

      „Hilft Sex den Männern nicht, eine Niedergeschlagenheit zu vergessen, sich besser zu fühlen und neuen Mut zu fassen?“

      „Ja schon, aber mit dir, obwohl du oder weil du eine schöne Frau bist, die ich seit Jahren kenne, kann ich es nicht tun. Außerdem … was willst du mit so einem alten Kerl wie mir? Ich bin doppelt so alt wie du.“

      „Du übertreibst, ich bin schon über dreißig, und du bist noch lange keine sechzig.“

      „Sei acht Jahren verbindet uns eine schöne Freundschaft. Wir sollten es dabei belassen. Außerdem habe ich“, er versuchte ein Lächeln, „ ein wenig Angst vor dir. Es heißt, dass du deine Liebhaber umbringst.“

      „Nicht alle“, gab sie zur Antwort, „nur die Langweiler.“

      In dieser Weise kabbelten sie sich noch eine Zeitlang, bis Campanati sagte: „Auch wenn ich dein Angebot ausschlage, würde ich mich freuen, wenn du mich nicht vergisst und einmal wiederkommst.“

      Sie versprach es und fragte: „Was habt ihr mit Babar gemacht? Die Stoßzähne verkauft und sein Fleisch an die Raubkatzen verfüttert?“

      „Das habe ich verhindert. Wir haben ihn in den Bergen begraben. Möchtest du das Grab sehen?“

      Als Medea nickte, fuhr er fort: „Ich habe sogar einen großen Stein auf seine Grabstätte schieben lassen und ein paar Worte eingeritzt.“

      Babars Grab lag auf einer Bergkuppe.

      „Von hier aus“, sagte Campanati, „sieht er in Richtung Afrika und kann von seiner Heimat träumen.“

      Auf dem Grabstein stand: Babar, * 2066 irgendwo in Afrika, † 2101 auf Elba.

      Nach zwei Tagen verließ Medea Elba und segelte nach Sizilien. Sie legte in Palermo an, lieferte eine Warensendung ab und machte mit ihrer Mannschaft einen Ausflug nach Monreale, Segesta und Selinunt. Im griechischen Theater von Segesta bat sie ihre Gefährtinnen, im Steinrund Platz zu nehmen, trat auf die Bühne und begann unvermittelt, mit weittragender Stimme Verse zu rezitieren: „Ach wäre doch Argo, die Schnelle, nie durch die fürchterlichen Felsen hindurchgeflogen bis ins Kolcherland, ach wäre doch die abgeschnittene Pinie nie gefallen in des Pelion Tälern …“

      Als sie die verständnislosen und erstaunten Blicke ihrer Gefährtinnen sah, brach sie ab und sagte: „Die Klage stammt aus einem Schauspiel über meine Ahnin, die erste Frau, die den Namen Medea trug. Die dunkelblauen Felsen waren so fürchterlich, weil sie auf dem Meer schwammen, sich bewegten und zusammenschlugen, wenn ein Schiff hindurchfahren wollte. Zeus selber hatte sie geschaffen, um jedes Schiff daran zu hindern, nach Kolchis zu gelangen. So wenigstens hat es Kirke einst dem Odysseus erzählt.“

      Die Massai und die Chinesin verstanden nicht, wovon sie sprach. Nur Pokahontas erinnerte sich, dass sie von dieser Geschichte einmal gehört hatte – entweder in der Schule oder zuhause –, und bemerkte, dass es dabei um eine Frau gegangen sei, die ihre Kinder getötet habe, um sich an ihrem treulosen Gatten zu rächen.

      „Medea hat ihre Rivalin getötet, aber nicht ihre Kinder“, erhielt sie zur Antwort, „den Kindesmord hat der Dichter Euripides erfunden und hinzugedichtet, um das Drama noch blutiger zu machen.“

      Die nächste Station der Reise war Reggio di Calabria, von dort nahm das Schiff Kurs auf Griechenland und segelte über das Ionische Meer nach Kephallinia, machte einen Schwenk nach Süden bis Kythira und wandte sich schließlich nach Athen.

      Als Mitarbeiter seiner Abteilung Bouvier die Route Medeas seit der Abfahrt aus Alacant zeigten, schüttelte er den Kopf und sagte: „Merkwürdig! Entweder macht sie sich über uns lustig, oder sie will uns einschläfern. Ich glaube, wir sollten jetzt höllisch aufpassen, dass sie nicht versucht, in einer Nacht- und Nebelaktion unter Einsatz ihrer technischen Mittel zu verschwinden, sich aus dem Staub zu machen. Sie könnte versuchen, sich in der Inselwelt der Kykladen und südlichen Sporaden zu verstecken. Gnade euch Gott, wenn ihr sie verliert!“

      In Athen blieb Medea drei Tage, benutzte ihre Wohnung, deren Existenz die ATA kannte und die sie in ihrer Abwesenheit durchsucht hatte; sie nahm Geldtransaktionen zwischen Bankkonten vor, die die ATA auch erfasst hatte, und sprach mit Menschen aus ihrem Bekanntenkreis, deren Daten und Lebensläufe in ihrem Dossier bereits gespeichert waren.

      Am Morgen des vierten Tages verließ sie den Hafen von Athen, ohne einen Versuch zu machen, die Abfahrt der Argo durch Tarnung zu verschleiern, und segelte in die Inselwelt der Ägäis. Ihr Ziel war Myrrha, eine seltsam längliche und ziemlich ausgedehnte Insel mit einem erloschenen Vulkan als höchster Erhebung. Allerdings wird man auf Land- und Seekarten vergeblich nach der Insel Myrrha suchen, weil die Welt die Insel heute unter einem anderen Namen kennt. Nur auf venezianischen Seekarten des siebzehnten Jahrhunderts wird man den Namen Myrrha noch entdecken können. Ihren Namen hatte die Insel von den Griechen wegen der Myrrhenbäume erhalten, die in alter Zeit dort in reichlicher Zahl vorhanden waren. Wenn sie zum Kampf zogen, hatten die Griechen für ihre Wunden stets Myrrhe dabei, die überwiegend von der Insel Myrrha stammte. Auch später, als schon lange keine Myrrhenbäume mehr auf der Insel wuchsen – die letzten waren in der Zeit der Kreuzzüge abgeholzt worden –, war der Name immer noch gebräuchlich, bis die Türken die Insel eroberten und ihr einen neuen Namen gaben. Das war im Jahr 1668. Nach der Befreiung der Insel vom Türkenjoch im Jahr 1829 behielten die Griechen den türkischen Namen bei, weil sie den ursprünglichen Namen vergessen hatten.

      In der Familie Phasias dagegen wurde