Anna Kellner

Englische Märchen in deutscher Sprache


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Das Haus des Ritters lag mitten auf einer kleinen

       Insel, die von einem dreißig Fuß tiefen und zwanzig

       Fuß breiten Wassergraben umgeben war, über welchen

       eine Zugbrücke führte. Gegen die Mitte zu sägte

       nun Jack mit Hilfe einiger Männer die Brücke an beiden

       Seiten durch, dann zog er seinen unsichtbaren

       Rock an und marschierte, das scharfe Schwert in der

       Hand, auf den Riesen los. Obgleich der Riese Jack

       nicht sehen konnte, so roch er doch seine Nähe und

       begann zu schreien:

       »Feh, fei, foh, fum!

       Ich riech' einen Menschen hier herum;

       Er sei lebendig, er sei todt,

       Aus seinen Knochen mahl' ich Brot.«

       »Nach deinen Worten zu schließen, bist du ja ein

       fürchterlicher Müller,« sagte Jack.

       Darauf schrie der Riese wieder: »Bist du der Elende,

       der meine Vettern erschlug? Dann will ich dich

       mit meinen Zähnen zerreißen, dein Blut aussaugen

       und deine Knochen zu Pulver zermahlen.«

       »Da musst du mich aber erst haben,« erwiderte

       Jack. Mit diesen Worten warf er seinen unsichtbaren

       Rock ab, damit ihn der Riese sehe, und nachdem er

       seine Siebenmeilenschuhe angezogen hatte, rannte er

       fort. Der Riese folgte ihm wie ein wanderndes Castell,

       so dass die Erde bei jedem seiner Schritte in ihren

       Grundfesten zu erzittern schien. Auf langen Umwegen,

       damit die Herren und Damen im Garten es sähen,

       führte Jack so den Riesen an der Nase herum; endlich

       rannte er, um der Sache ein Ende zu machen, über die

       Zugbrücke, der Riese, so schnell er konnte, mit seiner

       Keule hinterdrein. Als aber der Riese in die Mitte der

       Brücke gekommen war, brach dieselbe unter seiner

       großen Schwere, und er plumpste kopfüber in das

       Wasser, wo er sich wie ein Walfisch umherwälzte.

       Jack stand am Graben und lachte ihn aus; aber obwohl

       der Riese darob vor Wuth schäumte und in dem

       Graben rathlos herumfuhr, so konnte er doch nicht

       heraus, um sich zu rächen. Endlich nahm Jack ein

       Wagenseil, warf es dem Riesen um seine beiden

       Köpfe und zog ihn mit Hilfe von zwei Pferden heraus.

       Darauf schnitt er ihm mit seinem scharfen Schwerte

       beide Köpfe ab und schickte dieselben dem Könige

       Arthur.

       Nachdem Jack einige Zeit der Muße gepflegt hatte,

       nahm er von den Damen und Rittern Abschied und

       gieng auf neue Abenteuer aus. Durch viele Wälder

       kam er und gelangte endlich an den Fuß eines Berges.

       Dort stand ein einsames Haus, und da es spät in der

       Nacht war, klopfte er an das Thor. Ein alter Mann mit

       schneeweißem Haupthaar öffnete ihm.

       »Vater,« sagte Jack, »könnt Ihr einem Reisenden,

       den die Nacht überrascht hat, Unterkunft geben?«

       »Jawohl,« erwiderte der alte Mann, »sei willkommen

       in meiner armen Hütte.«

       Darauf trat Jack ein, sie setzten sich zusammen nieder,

       und der alte Mann begann folgendermaßen:

       »Mein Sohn, ich merke, du bist der große Riesentödter.

       Siehst du das verwunschene Schloss da oben auf

       dem Gipfel des Berges, mein Sohn? Das bewohnt ein

       Riese namens Galligantus, der lockt mit Hilfe eines

       alten Zauberers viele Ritter und Damen in sein

       Schloss, wo er sie durch magische Kunst in allerlei

       Gestalten verwandelt. Vor allem aber beklage ich das

       Unglück eines Herzogs, dessen Tochter sie aus seinem

       Garten entführten.

       In einem brennenden, von feurigen Drachen gezogenen

       Wagen brachten sie sie durch die Lüfte in das

       Schloss, wo sie sie in eine weiße Hirschkuh verwandelten.

       Und trotzdem schon viele Ritter versucht

       haben, den Zauber zu brechen und sie zu befreien, so

       ist es doch noch keinem gelungen, denn am Thore des

       Schlosses stehen zwei furchtbare Greife, welche jeden

       tödten, der sich naht. Aber du, mein Sohn, besitzest ja

       einen Rock, der dich unsichtbar macht, du kannst ungesehen

       an ihnen vorbeikommen. Über den Thoren

       des Schlosses steht in großen Lettern geschrieben, auf

       welche Art der Zauber gebrochen werden kann.«

       Als der alte Mann geendet hatte, reichte Jack ihm

       die Hand und gab ihm das Versprechen, am folgenden

       Morgen sein Leben zu wagen, um die Jungfrau zu befreien.

       In der Früh stand Jack auf und bereitete sich zu seinem

       Unternehmen vor, indem er seinen unsichtbaren

       Rock und die Siebenmeilenschuhe anzog und die

       Kappe der Allwissenheit aufsetzte. Als er den Gipfel

       des Berges erreicht hatte, sah er sogleich die beiden

       feurigen Greife, gieng aber, da er seinen unsichtbaren

       Rock anhatte, ohne Furcht an ihnen vorüber. Über

       dem Thore sah er an einer Silberkette eine goldene

       Trompete hängen, und darunter waren folgende Zeilen

       eingraviert:

       In wessen Hand dies Horn erschallt,

       Der schlägt den Riesen mit Gewalt;

       Gen schwarze Kunst ist er gefeit,

       Und alle werden durch ihn befreit.

       Kaum hatte Jack dies gelesen, als er auch schon in die

       Trompete stieß, worauf das Schloss in seinen Grund-

       festen zu erzittern begann. Der Riese aber und der

       Zauberer, die nun wussten, dass ihre Herrlichkeit zu

       Ende war, bissen sich in ihrer Verzweiflung in die

       Daumen und rissen sich das Haar aus dem Kopfe.

       Endlich bückte sich der Riese, um seine Keule aufzuheben,

       da trennte ihm Jack mit einem Hieb den Kopf

       vom Rumpfe, worauf der Zauberer in die Luft flog

       und von einem Wirbelwind davongetragen wurde.

       Somit war der Zauber gebrochen, all die Damen und

       Ritter, die so lange in Vögel und Thiere verwandelt

       waren, nahmen ihre frühere Gestalt wieder an, und

       das Schloss verschwand in einer Rauchwolke.