Beth St. John und Michelle Parker

Dunkler Engel


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du schon zeigen.“

      Vielleicht hatte er recht. Karolina dachte noch einmal an ihren Traum, in einem berühmten Orchester zu spielen. Wenn das bedeutete, dass sie sich öffnen musste, um ihrem Traum ein Stück näherzukommen, so war das ein geringer Preis. Also fing sie noch einmal von vorne an.

      „Ich habe kurz vor meinem fünften Geburtstag meinen Vater verloren. Der Geigenunterricht sollte ein Ventil für meine Trauer sein. Ich habe lange Zeit unter dem Verlust meines Vaters gelitten und in der Musik tatsächlich die Kraft gefunden, um weiterzumachen. Ich brauche die Musik wie die Luft zum atmen, und ich weiß nicht, wohin mit mir, wenn ich zu lange nicht spielen kann. Meine Mutter hat mich immer gedrängt, besser zu werden, mehr zu üben, doch sie hat nie verstanden, wie viel die Musik mir eigentlich bedeutet. Sie hat nicht erkannt, dass es nicht darum geht, jeden Ton zu treffen, sondern darum, sein Herz in die Melodie zu legen, die Noten zum Leben zu erwecken und einfach frei zu werden. Am Ende gebe nicht ich der Musik ihren Rhythmus, sondern die Musik gibt meinem Leben einen Rhythmus.“

      Er klatschte in die Hände und applaudierte Beifall. „Siehst du, Karolina, das bist du – das wollte ich hören. Fantastisch. Ich mag dich“, erklärte er seine Sympathiebekundung. Karolina lächelte zaghaft.

      Auf einmal stand Tom auf, griff nach seinem Koffer und hielt ihn ihr entgegen.

      „Spielst du etwas für mich?“, fragte er sie gerade heraus.

      Karolinas Herz setzte für einen Moment aus. Wollte Tom Edwards wirklich, dass sie etwas auf seiner Geige spielte? Das konnte doch nur ein Scherz sein! Jeder wusste, dass Tom Edwards eine Stradivari spielte. Sie wollte nicht mal daran denken, was passierte, wenn sie diese in die Hand nahm und irgendetwas damit passierte. Als sie mit dem Kopf schüttelte und ihre Hände abwehrend vor ihren Körper hielt, wurde Tom deutlicher.

      „Du möchtest doch meine Trainingsmethode erfahren? Wie soll ich denn einschätzen, ob es einen Sinn macht, dir etwas zu verraten, wenn ich dich noch nie spielen gehört habe?“

      „Ja, aber …“, noch bevor Karolina ihre Bedenken vortragen konnte, unterbrach er sie.

      „Außerdem bekommt man im Leben nichts ohne Gegenleistung. Nur wenn du für mich spielst, verrate ich dir mein Geheimnis.“

      Karolina erkannte, dass eine Diskussion zwecklos war, also nahm sie den Geigenkasten kommentarlos entgegen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie jemals im Leben die Möglichkeit erhalten würde, auf so einer wertvollen und klangintensiven Geige zu spielen. Mit zittrigen Händen öffnete sie den Geigenkoffer und holte so vorsichtig wie möglich das Instrument aus seinem Innern. Eine echte Stradivari! Wow! Sie konnte es gar nicht fassen. Tom nickte ihr aufmunternd zu und sie stand auf, um sich im Raum zu positionieren. Karolina verfügte über ein ordentliches Repertoire an klassischen und schwierigen Stücken, mit denen sie Tom gewiss hätte beeindrucken können. Doch das war sicherlich das erste und letzte Mal, dass sie eine solche Geige in den Händen halten würde, daher beschloss sie, aus dem Bauch heraus zu spielen; das Stück eines unbekannten Komponisten, das sie sehr berührte. Langsam ließ sie den Geigenbogen über die Seiten der Violine wandern, schloss die Augen und verlor sich in der Melodie, die genauso gefühlvoll wie traurig war. Dann aber ließ sie den Bogen schneller über die Seiten wandern und das Stück nahm an Energie auf. Es war, als würde die Geige eine Geschichte erzählen, eine Geschichte über eine Reise, die niemals enden sollte. Die Melodie stieg an, wurde immer schneller und endete dann auf einmal genauso abrupt wie sie gekommen war. Für einige Sekunden war es still im Raum. Tom sah sie fassungslos an. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber Karolinas Stück war noch nicht zu Ende. Sie setzte den Bogen wieder an, strich noch viel langsamer als am Anfang über die Seiten und erzeugte damit eine sentimentale Sehnsucht nach dem verklungenen Galopp in der Mitte. Irgendetwas war geschehen – etwas war zerbrochen und ließ nun eine außergewöhnliche Melancholie zurück, mit der das Stück schließlich endete. Es dauerte eine Weile, bis Tom sich gefangen hatte, doch dann klatschte er begeistert in die Hände.

      „Das war fantastisch“, sagte er vollkommen außer sich und sie merkte, dass er es ehrlich meinte. Sie selbst verspürte am ganzen Körper eine Gänsehaut, denn die Stradivari war wirklich ein unfassbar schönes Instrument. Karolina wusste in diesem Moment, dass sie nie wieder spielen könnte, ohne sich insgeheim nach ihrem Klang zu sehnen. Es fiel ihr schwer, sie in den Geigenkoffer zurückzulegen und ihn wieder zu Tom zurückzuschieben. Er nahm den Koffer entgegen, stellte ihn wieder hinter seinen Sessel und sah sie immer noch vollkommen begeistert an.

      „Also, was ist dein Geheimnis? Quid pro quo!“, erinnerte sie ihn nun an sein Versprechen, während sie sich wieder setzte. Tom brauchte einen Moment, um wieder zurück in die Gegenwart zu kommen und ihre Frage zu beantworten. Wie er zugesagt hatte, weihte er sie nun ein.

      „Ich praktiziere luzides Träumen, auch Klarträumen genannt.“

      „Bitte was?“, fragte Karolina überrascht und Tom musste grinsen.

      „Beim Klarträumen ist sich der Träumende vollkommen darüber bewusst, dass er träumt und er kann diesen Traum kontrollieren. So kann man quasi die gesamte Nacht üben, erwacht am Morgen entspannt und erfrischt – und man kann mehr als am Tag davor.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Das Coole an den luziden Träumen ist, dass man über alle seine fünf Sinne voll verfügt, jede Situation – große Konzerte, Vorspielen, Solo-Auftritte – nachbilden kann und alles, was du im Schlaf einübst, kannst du in der Realität umsetzen.“

      Karolina zog skeptisch die Augenbraue nach oben. „Das ist also dein Geheimnis?“, fragte sie und er nickte.

      „Sowas ähnliches hast du sicherlich schon selbst erlebt. Morgens vor dem Aufwachen, wenn man halb wach und noch halb schlafend ist, kann man des Öfteren seine Träume kontrollieren. Das sind zwar keine komplett luziden Träume, weil man sich nicht richtig bewusst hineinversetzt hat, aber es ist zumindest vergleichbar.“

      Wenn sie so darüber nachdachte und Tom nicht scherzte, schienen Klarträume tatsächlich die perfekte Lösung für ihr Problem zu sein. Denn so konnte sie zusätzlich Zeit nutzen, um noch besser zu werden. Und wenn es Tom geholfen hatte, warum sollte es bei ihr anders sein? Begeisterung machte sich in ihr breit.

      „Okay, kannst du mir erklären, wie es funktioniert?“, fragte sie enthusiastisch. Tom warf einen Blick auf seine Uhr und schüttelte dann den Kopf. „Tut mir leid, aber unsere dreißig Minuten sind um.“

      Enttäuschung stieg in Karolina auf. „Verstehe“, murmelte sie betrübt und machte Anstalten aufzustehen. Tom hielt sie jedoch am Handgelenk fest und meinte: „Warte. Ich kann dir aber das hier geben.“ Er kramte in seiner Tasche, die neben dem Geigenkoffer lag und zog ein Buch mit dem Titel ‚Klarträume – Definition und Methoden‘ daraus hervor.

      „Da stehen verschiedenen Methoden drin, wie man einen Klartraum hervorrufen kann. Meist klappt es nicht auf Anhieb, aber lass dich davon nicht entmutigen. Du musst es trainieren. Aber wenn man den Dreh einmal raus hat, ist es ganz einfach.“ Dann holte er noch ein Blatt und einen Stift heraus. „Schreibst du mir deine Nummer auf? Damit ich zwischendurch mal nachfragen kann, wie das luzide Träumen so läuft?“

      Karolina war vollkommen überrascht, dass Tom Edwards ihre Nummer haben wollte. Sie schrieb ihm diese ohne zu zögern auf. Vermutlich würde er sie sowieso nie anrufen, aber es war höflich, dass er danach fragte. Anscheinend war Tom Edwards doch ganz nett und Karolina musste ihren ersten Eindruck von ihm relativieren. Sie waren zwar immer noch zwei komplette Gegensätze, aber trotzdem schien er kein schlechter Kerl zu sein – wenn auch ein Playboy.

      Als er fertig war, packte er seine Tasche und seine Geige, warf sich noch eine Erdbeere in den Mund und ging dann in Richtung Ausgang. Zum Abschied drehte er sich noch einmal zu Karolina um.

      „Noch ein Rat von mir: Vergiss neben deiner Liebe zur Musik dein Leben nicht. Ohne die Realität verliert man irgendwann den Stoff für die Melodie. Finde etwas, das dir Spaß macht. Ich zum Beispiel nehme mir jeden Abend etwas mit ins Bett, an dem ich Freude habe. Du siehst im Übrigen fantastisch aus und nun nimm dir die Zeit und lass es dir schmecken!“ Er deutete auf die Platte mit den Köstlichkeiten, bevor er verschwand.

      Karolina