Beth St. John und Michelle Parker

Dunkler Engel


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war.

      Aber dann sagte er: „Wenn ich ehrlich bin, wäre das Orchester von Sydney sowieso eine Nummer zu klein für dich gewesen. Was wolltest du überhaupt in Down Under, wo es nur giftige Tiere und Menschen mit seltsamem Akzent gibt? Kopf hoch, da draußen wartet noch etwas richtig Großes auf dich!“

      Obwohl ihr gar nicht danach war, musste Karolina lächeln.

      „Soll ich vorbeikommen und wir trommeln ein paar verrückte Leute zusammen? Du weißt, wie schnell ich Partys organisieren kann“, bot Henry an. Jetzt musste sie wirklich lachen und schüttelte energisch den Kopf, obgleich Henry das gar nicht sehen konnte. Ja, selbst wenn er spontan einen Aufruf startete, kamen alle. Das hatte sie oft genug erlebt.

      „Das ist wirklich lieb von dir. Aber ich denke, ich werde mir gleich eine heiße Schokolade anrühren und es mir auf dem Sofa bequem machen. So ein ruhiger Abend ist eher das, was ich jetzt brauche.“

      „Na gut, aber lass es mich wissen, wenn du Gesellschaft möchtest.“

      Sie überlegte schon, das Gespräch zu beenden, als ihr dann doch noch etwas einfiel.

      „Henry?“, flüsterte sie ins Handy.

      „Ja, Schnecke? Was hast du noch auf dem Herzen?“

      „Ich habe die Musik nicht gespürt. Sie war nicht da.“

      „Wie meinst du das?“, hakte er nach.

      Karolina überlegte einen Augenblick, wie sie es ihm erklären sollte. „Wenn ich spiele, dann fließt die Musik durch mich hindurch und wird zu etwas Wunderbarem, etwas Lebendigem, aber heute waren es einfach nur aneinandergereihte Töne, ohne Bedeutung, ohne Gefühl. Das ist mir noch nie passiert.“

      „Dann ist es auch nicht das Richtige für dich gewesen, Karolina. Mach dir keine Sorgen. Ich würde sagen, dass das Schicksal dir einen Wink gegeben hat und nächstes Mal passt es dann.“

      „Denkst du denn, dass es ein nächstes Mal geben wird?“, fragte Karolina vorsichtig und Henry fing an zu lachen.

      „Aber natürlich! Wir können alle mal einen schlechten Tag haben, doch das Leben hält immer eine zweite Chance für uns bereit. Und meist noch eine dritte und vierte. Du wirst noch viele bekommen, versprochen.“

      Karolina atmete erleichtert aus. Tatsächlich beruhige sie Henrys Zuversicht.

      „Vielen Dank für alles“, sagte sie erleichtert.

      „Nichts zu danken, immer wieder gerne. Das weißt du doch hoffentlich?“

      „Ja, das weiß ich.“

      Zuhause angekommen, war Karolinas Enttäuschung durch das Gespräch mit Henry schon ein ganzes Stück weit verflogen. Er hatte recht, das Versagen heute war keinen Grund, den Kopf für immer hängen zu lassen. Diese Chance hatte sie vertan, aber es würde noch andere Chancen für sie geben. Es gab also keinen Grund, warum sich ihre Träume nicht noch erfüllen konnten. Vielleicht hatte er auch recht, wenn er sagte, dass dieser Job einfach nicht der richtige für sie gewesen wäre und dass das Schicksal anderes mit ihr plante. Aber Karolina wollte noch besser vorbereitet sein, für das, was noch kommen würde. Sie musste noch mehr üben und vor allem musste sie neue Impulse finden! Mit den Übungsmethoden, die sie kannte, war sie gut, aber sie musste noch besser werden, um das nächste Mal überzeugen zu können. Neue Trainingsmethoden mussten her, überlegte sie, während sie ihre Tasse mit kaltem Kakao in die Mikrowelle stellte.

      Kapitel 2

      Einige Tage später war Karolina mit ihrer besten Freundin Lindsay in einem kleinen Café verabredet.

      Sie kannte Lindsay Bloomfield schon aus Kindertagen und sie war der bodenständige Kontrast, den Karolina manchmal brauchte, um den Bezug zum Leben nicht zu verlieren. Die beiden hatten sich zwar im Geigenunterricht kennengelernt, aber Lindsay hatte erst später die Liebe zur Musik für sich entdecken können. Immerhin arbeitete sie als Violinistin in einem Musical-Orchester; das war zwar weniger anspruchsvoll, brachte dafür aber eine Menge Spaß. Die Musical-Welt war anders als die der klassischen Musik, kitschiger, bunter und lebendiger. Diese Lebendigkeit lag Lindsay im Blut. Ganz oft hatte sie vor Karolinas Tür gestanden, während diese eigentlich hätte üben müssen und sie hatten sich zusammen davongestohlen. Diese Pausen waren unheimlich befreiend für Karolina gewesen. Leider hatten sie sich über die Jahre immer wieder aus den Augen verloren, weil Lindsay eine ganze Weile in London gelebt hatte. Aber zurzeit hatten sie wieder viel Kontakt, was Karolina sehr freute. Lindsay hatte sich kaum verändert, obwohl sie mittlerweile verheiratet und vor einigen Monaten Mutter eines süßen, kleinen Mädchens geworden war.

      Da das Wetter abgesehen von der windigen Kälte erträglich war, hatte Karolina beschlossen, die Strecke zu dem kleinen Café zu Fuß zurückzulegen. Die anfängliche Enttäuschung über die Absage beim Vorspielen war weitestgehend überwunden und einer enormen Motivation gewichen. In den letzten Tagen hatte sie eifrig ihre Musikbücher und das Internet durchforstet, um neue Übungsmethoden und Kniffe zu finden. Leider war sie damit nicht sehr erfolgreich gewesen. Das meiste kannte sie schon und das andere machte keinen besonders vielversprechenden Eindruck auf sie. Auf dem Weg zum Café kam sie an einem Kiosk vorbei. Auf zwei einschlägigen Zeitschriften prangte ganze groß das Gesicht des neuen ersten Violinisten für das Orchester in Sydney. Es versetzte Karolina zwar einen Stich, wenn sie daran dachte, dass auch ihr Gesicht dort hätte zu sehen sein können, aber sie war gefasst genug, um einfach weiterzugehen und nicht weiter darüber nachzudenken. Jetzt freute sie sich erst einmal auf Lindsay, die sie schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen hatte, weil diese so sehr mit ihrem Baby beschäftigt gewesen war. Umso mehr ehrte es sie nun, dass sie heute Zeit für Karolina gefunden hatte.

      Nach guten zwanzig Minuten erreichte sie schließlich den Treffpunkt, gerade noch pünktlich. Karolina sah Lindsay schon von Weitem an einem Tisch hinter dem Fenster sitzen. Sofort trat ein Lächeln auf ihre Lippen und sie beschleunigte ihren Schritt. Auch ihre Freundin strahlte über das ganze Gesicht, als sie Karolina erblickte und die beiden umarmten sich herzlich, als Karolina den Tisch erreichte. Dann fiel ihr Blick auf den Kinderwagen, der neben Lindsay stand. Sie beugte sich über ihn, um das kleine Wesen darin zu bewundern.

      „Sie ist gerade eingeschlafen“, sagte Lindsay sanft. „Hat mich den ganzen Morgen auf Trab gehalten. Ich bin froh, dass Amy jetzt mal Ruhe gibt.“

      „Ach, sag doch sowas nicht“, erwiderte Karolina lächelnd. „Sie ist so süß und so lieb, ich kann nicht glauben, dass sie auch schreien kann!“

      Lindsay musste lachen und strich ihrer kleinen Tochter zärtlich über die Wange.

      „Naja, sie ist wirklich ein Goldstück und ich bin einfach nur eine Mimose. Aber nun setz dich doch endlich.“

      Karolina warf ein Blick in das restliche Café, das schon ziemlich voll war. Sie trafen sich öfter hier, denn es war schön gelegen in der Nähe eines Parks. Normalerweise war hier nicht so viel los, weder im Café selbst noch im angrenzenden Park, was eine angenehme Atmosphäre mit sich brachte. Aber heute war es überfüllt. Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob jemand dort seinen Geburtstag feierte und alle Gäste hierher eingeladen hatte.

      „Bist du sicher, dass wir nicht woanders hingehen wollen?“, fragte Karolina bevor sie sich setzte und deutete auf die schlafende Amy. Karolina konnte sich nach wie vor nur schwer vorstellen, welchen Ärger so ein niedliches Wesen seiner Mutter machen könnte.

      „Ach was. Sie ist härter im Nehmen als du denkst. Amy ist das Baby von zwei Musikern und keine zerbrechliche Puppe, schon vergessen? Nun setz dich endlich hin und lass uns bestellen!“

      Karolina strich Amy ein letztes Mal über die kleine Nase und ließ sich dann zögerlich auf dem Platz neben ihrer Freundin nieder. Aus tiefblauen Augen blickte sie Lindsay an. Sie sah gut aus. Ihre kinnlangen, dunkelbraunen Haare umrahmten ihr helles Gesicht, sie war schlank, einen Kopf größer als sie und wirkte vollkommen mit sich zufrieden. Das Mutterdasein stand ihr hervorragend. Während Lindsay ihnen beim Kellner einen Kaffee bestellte, realisierte Karolina, wie sehr ihre