Beth St. John und Michelle Parker

Dunkler Engel


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doch eingeklemmt und der Ast in ihr verkeilt gewesen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie auch ihren Kopf wieder bewegen konnte und ihr Blick fiel auf das Auto, in dessen Innern sie mit geschlossenen Augen lag. Ihr Körper bewegte sich nicht mehr, kein Augenflattern, keine Atmung. Aber das konnte doch gar nicht sein! Wie sollte sie sich denn an zwei Orten gleichzeitig befinden? Sie blickte zu ihm hinauf, denn erst jetzt verstand sie, was gerade geschehen war. Er fühlte sich warm und stark an, ganz anders als man es vom Tod erwarten würde. Und er war so schön, dass man seinen Anblick kaum ertrug.

      Jetzt erwiderte er ihren Blick mit einem sanften Lächeln und versprach ihr:

      „Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen.“

      Seltsamerweise machte sie sich gar keine Sorgen, denn sie fühlte sich frei und unbeschwert. Ja, alles würde gut werden. Das hatte sie gehofft, daran hatte sie festgehalten und dessen war sie sich nun sicher. Noch bevor sie irgendwelche Fragen stellen konnte, verschwand er mit ihr in der Dunkelheit, aus der er gekommen war.

      Kapitel 1

      Karolina schreckte zusammen, als ihr plötzlich das Glas aus den Händen rutschte und mit einem lauten Klirren auf dem Boden landete. Es zersprang in tausende schimmernde Scherben. Sie konnte von Glück reden, dass sich nur noch ein letzter Schluck Wasser darin befunden hatte, denn ansonsten stünde sie nun in einer riesigen Pfütze. Schnell griff sie in den Schrank unter der Spüle, um den Handfeger herauszuholen und die Splitter aufzufegen. Eigentlich sah ihr so ein Ungeschick gar nicht ähnlich, denn als Violinistin musste sie stets eine ruhige Hand haben. Doch heute war ein ganz besonderer Tag – sie hatte ein Vorspielen für die erste Geige bei einem Engagement an der Oper in Sydney. Obwohl Karolina seit dem fünften Lebensjahr Geige spielte und aktuell eine hervorragende Anstellung im SFSO – dem San Francisco Symphony Orchestra – besaß, und in den letzten Wochen fast ununterbrochen geübt hatte, war sie sehr nervös. Mit diesem Engagement würde ein Wunschtraum für sie in Erfüllung gehen. Sie könnte San Francisco und damit ihr kleines Loft in Haight-Ashbury endlich verlassen.

      Nicht, dass sie die Stadt nicht lieben würde, im Gegenteil, sie liebte San Francisco und vor allem diesen Stadtteil, der durch die vielen Cafés und seine kreative Szene seinen ganzen eigenen Charme ausstrahlte. Und auch mit ihrem modernen Loft war sie sehr zufrieden. Es war zwar nicht besonders groß, aber es genügte ihr vollkommen und bot einen herrlichen Ausblick. Direkt neben der Eingangstür befand sich eine Treppe, die nach oben in ihren ganz privaten Bereich führte, wo sich ihr Schlafzimmer und ein Bad befanden. Ansonsten hatte sie den unteren Bereich durch mehrere Regale in verschiedene Bereiche getrennt. Es gab ein Wohnzimmer, eine Küche und auch einen separaten Platz zum Proben. Dort spielte sie unheimlich gerne, denn durch die großen abgerundeten Fenster konnte sie die Menschen beobachten, wie sie in ihrem eigenen Rhythmus durch die Straßen wanderten. Das inspirierte sie immer aufs Neue.

      Trotzdem zog es Karolina auch in die Welt hinaus und sie sehnte sich danach, ihre Leidenschaft für Musik mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. Ohne die Musik fehlte etwas in ihrem Leben und es kribbelte in ihren Fingern, wenn sie bloß einen Tag nicht spielen konnte. Sie brauchte die Musik, um sich wohl zu fühlen und um sich auszudrücken. Eigentlich war es ein Wunder, dass ihre Liebe zur Musik nicht längst erloschen war. Schließlich hatte sie ihre Mutter, eine erfolgreiche Klavierlehrerin, jahrelang unter Druck gesetzt, mehr zu üben und endlich besser zu werden. Nie war Karolina gut genug gewesen. Das Ganze hatte angefangen, als ihr Vater kurz vor ihrem fünften Geburtstag durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Er war Arzt gewesen und zusammen mit ihrer Mutter einige Jahre vor ihrer Geburt aus Russland in die Staaten eingewandert. Zunächst hatte der Geigenunterricht nur dazu gedient, sie von der Trauer um den Vater abzulenken und einen Weg zu finden, ihre Gefühle zu verarbeiten. Doch mit den Jahren hatte sich das geändert. Irgendwann hatte ihre Mutter das Potenzial bemerkt, das in Karolina steckte und nur noch den Erfolg gesehen. Schon mit vierzehn hatte sie ihre ersten Auftritte in ausverkauften Opernhäusern absolviert und auch heute, mit sechsundzwanzig, war sie sehr gefragt. Dementsprechend unterkühlt war das Verhältnis zu ihrer Mutter inzwischen und manchmal wünschte sie sich, dass ihr Vater noch leben würde. Alles wäre anders. Immerhin hatte Karolina wirklich gute Freunde, die immer für sie da waren. Nur einen Mann an ihrer Seite gab es nicht. Ihre letzte Beziehung war fast vier Jahre her und natürlich daran gescheitert, dass sie so viel und hart an sich arbeitete. Ihr Ex-Freund hatte Karolinas Liebe zur Musik nie nachempfinden können und so war die Beziehung zerbrochen.

      Als sie die letzte Scherbe aufgefegt und auch die kleine Wasserlache vom Boden aufgewischt hatte, warf Karolina einen Blick auf die Uhr. Sie musste bald los. Ihr Magen zog sich vor Anspannung zusammen. Natürlich war sie heute besonders früh aufgestanden in der Hoffnung, dass sie vor dem Vorspielen noch etwas essen konnte. Nicht, dass sie die Nervosität nicht ohnehin die halbe Nacht wach gehalten hatte. Und diese sorgte dafür, dass der Gedanke an eine Mahlzeit Übelkeit in Karolina hervorrief. Trotzdem schüttete sie sich Müsli und Milch in eine Schale und zwang sich, ein paar Bissen zu essen. Währenddessen schweiften ihre Gedanken wieder zum Vorspielen ab. Es passierte nur alle paar Jahre, dass jemand in Sydney gesucht wurde. Und es war auch nicht oft der Fall, dass ein australischer Intendant in die USA kam, um sich dort neue Talente anzuhören. Das war ihre Chance, ihren Traum endlich zu erfüllen. Es wäre ein gewaltiger Karriereschritt!

      Als Karolina schließlich das Haus verließ, wehte ihr ein kräftiger, kühler Wind entgegen. Überall lagen bunte Blätter herum, die die Bäume durch den Herbst verloren hatten. Wild tanzten sie vom Wind verwirbelt um die Ecken. Zwischen den Häusern hatte sich dicker Nebel angestaut, der dafür sorgte, dass die Menschen schnell durch die Stadt eilten. Die sonst so lebendig gefüllte Straße war so gut wie ausgestorben und das sorgte dafür, dass eine seltsame Stimmung über Haight-Ashbury lag. Karolina zog den Mantelkragen enger um ihren Hals und verstärkte den Griff um ihren Geigenkasten, als sie zur nahgelegenen Bushaltestelle ging. Der Bus kam nur wenige Minuten später und sie setzte sich nach ganz hinten, um ein bisschen für sich zu sein. Der Knoten in ihrem Magen wurde immer größer je näher das Vorspielen rückte. Es musste einfach klappen! Plötzlich riss das Klingeln ihres Handys Karolina aus ihren Gedanken und sie kramte in ihrer Manteltasche danach. Der Name auf dem Display verriet ihr, dass es Henry war.

      Henry McGillen teilte ihre Leidenschaft für die Musik, denn er spielte schon seit Jahren Kontrabass im SFSO. Doch er war weit mehr als nur ein Kollege. Henry war so manches Mal der Vater für Karolina gewesen, den sie immer so schmerzlich vermisst hatte. Und ihr bester Freund. Er war zuverlässig, liebenswert und besaß eine freche Art, die Ihresgleichen suchte – und das, obwohl er schon knapp über fünfzig, glücklich verheiratet und mit zwei Kindern im Teenager-Alter gesegnet war.

      „Hey Kleine, wie geht es dir?“, fragte er fröhlich und sehr interessiert. „Bist du sehr nervös?“

      Karolina war erleichtert seine Stimme zu hören, denn Henry strahlte immer eine unglaubliche Zuversicht aus. Sofort hatte sie sein Bild vor Augen, das breite Grinsen, die strahlend blauen Augen und die kurzen, grau-blonden Locken. Sie musste schmunzeln. Er schaffte es einfach immer, jemanden mitzureißen und hatte insgesamt eine sehr ausgeprägte, positive Persönlichkeit. Wenn er einmal Begeisterung für etwas zeigte – was recht schnell der Fall war – fiel es im Allgemeinen schwer, ihm zu widersprechen.

      „Hey Henry, lieb, dass du anrufst“, antwortete Karolina und gleich löste sich der Knoten in ihrem Magen.

      „Natürlich! So einen wichtigen Termin würde ich doch nicht vergessen. Also, erzähl, wie geht es meiner Lieblingsviolinistin?“

      „Ach Henry …“, fing sie an und Sorgen lagen in ihrer Stimme. Doch bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach er sie schon.

      „Nun erzähl mir nicht, dass du nervös bist! Du spielst wundervoll. Deine Musik ist wie Balsam für die Seele. Ein bisschen mehr Selbstvertrauen könnte dir wirklich nicht schaden.“

      Karolina musste lachen, denn es war natürlich nicht das erste Mal, dass sie so eine Unterhaltung führten.

      „Ich bin mir sicher, du wirst gleich ganz fantastisch vorspielen“, fuhr er fort. „Ich werde dich zwar vermissen, wenn du dann zukünftig in Sydney wohnst, aber es gibt ja Telefone