Beth St. John und Michelle Parker

Dunkler Engel


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vor ihr zersplitterte. Sie keuchte vor Schmerzen auf und augenblicklich tanzten grelle Punkte vor ihren geschlossenen Augen. Zunächst traute sie sich gar nicht, die Lider zu öffnen, aus Angst vor dem Anblick, den sie bot. Sie spürte den Ast deutlich, der sich tief in ihren Körper gegraben hatte. Als sie schließlich doch den Mut fand, die Augen zu öffnen und das ganze Blut überall sah, stieg die Übelkeit unaufhaltsam in ihr auf. Das war alles ihr Blut und es klebte an der Seitenscheibe, am Armaturenbrett, am Lenkrad und seine Wärme durchtränkte das Top und ihre Jeans. Die Panik ergriff sie und sie wollte den Kopf herumreißen und um sich schlagen, versuchen, sich irgendwie aus dem Auto zu befreien. Doch sie war vollkommen bewegungsunfähig. Das lag jedoch nicht nur daran, dass die Hälfte ihres Körpers eingequetscht war, stellte sie fest, denn die freien Körperteile reagierten ebenfalls nicht auf ihre Befehle. Sie realisierte, dass sie eine Verletzung an der Wirbelsäule davongetragen haben musste. Das würde ihr Leben vollkommen auf den Kopf stellen. Aber vielleicht gab es auch einen anderen, ganz einfachen Grund, warum ihr Körper nicht mehr auf sie hörte? Einen simplen Grund, der sich ganz einfach aus der Welt schaffen ließ? Womöglich stand ihr Körper nur unter Schock? Tränen rannen ihre Wange herunter und Verzweiflung keimte in ihr auf. Ironischerweise dröhnte noch immer noch die Musik in ihrer vollen Lautstärke in die kalte Nacht hinaus. Keine Menschenseele war zu sehen. Einmal mehr verfluchte sie sich selbst, dass sie die Abkürzung durch den Wald genommen hatte und versuchte, sich zu beruhigen. Noch war sie am Leben und noch gab es Hoffnung, dass jemand vorbeikam, um ihr zu helfen. Alles würde gut werden. Mittlerweile verspürte sie keine Schmerzen mehr, doch sie wusste nicht, ob sie das erleichtern oder ängstigen sollte. Zumindest machte es die Situation erträglicher und gab ihr die Möglichkeit, einen klaren Kopf zu bewahren. Dennoch wusste sie um ihren Blutverlust, über den sie sich Sorgen machen musste. Wenn nicht bald jemand kam, um ihr zu helfen … Sie schloss die Augen, versuchte ihren Atem zu beruhigen, die Bilder von dem blutigen Auto zu verdrängen und die Angst zu unterdrücken. Immer wieder flüsterte sie die Worte „Alles wird gut“ und klammerte sich an den letzten Rest Hoffnung, den sie noch fand. Gleichzeitig verdammte sie die Party, die ihr bis eben noch alles bedeutet hatte. Wie konnte sie nur so unvorsichtig gewesen sein? Aber wer hätte schon mit einem platzenden Reifen rechnen können? Ihre Gedanken wurden konfuser, die Müdigkeit drängte sich wieder mit solcher Wucht an die Oberfläche, dass sie kaum dagegen ankämpfen konnte. Sie wusste, dass sie die Augen wieder öffnen musste, wollte es auch, aber es war so schwer – so unendlich schwer. Wenn sie jetzt einschliefe, wäre sie tot. Aber sie wollte noch nicht sterben, war nicht bereit, ihr Leben aufzugeben. Sie hatte noch so viele Pläne und Träume, die es in der Zukunft zu erfüllen galt.

      Trotz ihrer Bemühung, nicht einzuschlafen, merkte sie, wie ihr Atem flacher wurde. Dann wurde es plötzlich ganz still um sie herum, die Musik war verstummt. Was war passiert? War endlich jemand gekommen und hatte sie ausgestellt? Ermutigt von diesem Gedanken und obwohl es ihr so schrecklich schwerfiel, schaffte sie es, die Augen zu öffnen. Tatsächlich erblickte sie die Silhouette eines Mannes, der genau im Scheinwerferlicht neben dem Baum vor ihrem Auto stand. Da er ein ganzes Stück entfernt stand, konnte er das Radio nicht ausgestellt haben. Gleichzeitig verrieten ihr die Scheinwerfer, dass mit der Batterie ihres Autos alles in Ordnung war. Warum also war das Radio so plötzlich ausgegangen? Seltsam. Und wieso stand der Fremde nur da herum, wenn doch offensichtlich war, dass sie verletzt war und dringend Hilfe benötigte? Sie betrachtete ihn genauer. Er trug einen langen, schwarzen Mantel, der das meiste seines Körpers verhüllte. Seine Umrisse verrieten dennoch, dass er groß war und gut gebaut sein musste. Sein Gesicht lag halb im Dunkeln, doch als er einen Schritt näher kam, konnte sie seine markanten Züge erkennen, die von dichtem, schwarzem Haar eingerahmt wurde. Er war attraktiv, viel zu attraktiv für einen Menschen. Obwohl sie es sich nicht erklären konnte, sorgte sein Anblick dafür, dass sie eine Gänsehaut bekam. Sollte sie sich über seine Anwesenheit freuen oder sich ängstigen? Schenkte man dem Fernsehen glauben, sollte man sich von düsteren Gestalten nachts im Wald fernhalten, aber auf der anderen Seite war er die einzige Hoffnung, die sie hatte. Diese Landstraße wurde nie viel befahren und bei einer solchen Herbstnacht sicherlich zusätzlich gemieden. Trotzdem verdrängte sie ihre Gedanken und konzentrierte sich auf das, was gerade wirklich wichtig war: Sie brauchte Hilfe. Als er langsam näher kam, besann sie sich schließlich und versuchte ihre Stimme wiederzufinden. Diese klang zunächst brüchig, wurde dann aber deutlicher.

      „Können Sie mir helfen? Bitte. Ich kann mich nicht bewegen. Können Sie den Notarzt rufen?“, brachte sie mit allerletzter Kraft hervor.

      Der Mann blieb direkt vor ihrer Beifahrertür stehen und sah sie verständnisvoll aus wunderschönen, fast schwarzen Augen an. Jetzt, da er so nah kam, konnte sie endlich sein Gesicht sehen. Der Anblick traf sie wie ein Schlag. Er war wunderschön, jeder Gesichtszug vermittelte Macht und Stärke. Als ein Windhauch eine Strähne seines pechschwarzen Haares anhob, wirkte es fast, als sei er wie ein griechischer Gott einem antiken Gemälde entsprungen. Allerdings machte er keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Das irritierte sie zutiefst. Hatte er sie etwa nicht verstanden? Das konnte eigentlich nicht sein, denn nun, da die dröhnende Musik aus war, hatte man ihre Stimme sicher deutlich hören können. Außerdem konnte man doch unzweifelhaft sehen, dass sie verletzt war. Wieso sagte er nichts? War er nur hier, um sich an ihrem Schmerz zu erfreuen? Wollte er ihr beim Sterben zusehen? Aber sie würde nicht sterben, denn sie wollte leben! Sie versuchte es noch einmal.

      „Bitte. Ich brauche wirklich Hilfe.“ Eine Welle der Erschöpfung durchfuhr sie und ließ sie erzittern.

      Der Fremde strich sich in einer überirdisch elegant wirkenden Geste das Haar aus der Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich bin ja da.“

      Seine tiefe männliche Stimme hüllte sie ein wie ein warmer Mantel. Sie war viel zu erschöpft, um weitere Fragen zu stellen. Nicht einmal Panik konnte sie empfinden, denn auch das hätte sie zu viel Kraft gekostet, Kraft, die sie brauchte, um die Augen offen zu halten. Doch sie musste auf jeden Fall wach bleiben! Sie musste noch etwas länger durchhalten. Es würde bestimmt bald jemand kommen, der ihr half.

      „Es ist Zeit loszulassen“, fuhr der Fremde plötzlich fort und seine Stimme klang sanft, aber bestimmt. Sein Tonfall berührte etwas tief in ihr. Aber loslassen? Was meinte er damit? Sie hielt doch überhaupt nichts fest! Seine Worte verwirrten sie vollends. Sie blickte ihn fragend an und er erwiderte ihren Blick, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

      „Vom Leben. Du musst jetzt dein Leben loslassen.“

      Hätte sie gekonnt, sie hätte jetzt vehement widersprochen. Was redete er da für einen Unsinn? Sie wollte ihr Leben nicht loslassen, denn sie liebte das Leben und sie war doch noch viel zu jung zum Sterben. Und wer war er, dass er darüber bestimmten konnte, wann es Zeit für sie war, zu gehen? Noch gab es Hoffnung, noch war nichts verloren.

      „Ruh dich aus, schlaf ein“, bat er sie dann. Es war wie ein Flüstern, das sachte an ihr Ohr drang und verführerisch ihr Innerstes umschmeichelte. „Es ist schon zu spät für dich. Du musst aufhören gegen das Sterben anzukämpfen. So machst du es dir nur noch schwerer. Vertrau mir, bitte.“

      „Hör auf so einen Unsinn zu reden und hol Hilfe“, wisperte sie kaum noch hörbar und blanke Angst keimte wieder in ihr auf. Ständig fielen ihre Augen zu, doch jedes Mal schaffte sie es, sie erneut zu öffnen. Sie blickte in sein vollkommenes Gesicht. „Ich schaffe das, du musst mir nur helfen.“

      „Ich helfe dir, es ist ganz einfach“, antwortete er und eine Prise Ungeduld schien in seinen Worten mitzuschwingen. „Du musst dich einfach fallen lassen.“

      In der Zeit, in der sie miteinander sprachen, war er ihr so nahe gekommen, dass er sie hätte berühren können. Doch er wollte, dass sie von sich aus aufgab. Aber es gab immer noch keine Anzeichen dafür, dass sie endlich aufhören würde zu kämpfen, aufhören würde, sich ans Leben zu klammern. Er musste ihr wohl helfen. Als er schließlich die Hand nach ihr ausstreckte und sanft über ihre Wange strich, schreckte sie nicht zurück. Von der Stelle aus, an welcher er sie berührte, breitete sich eine tröstliche Wärme in ihrem Körper aus. Auf einmal wurde sie ganz ruhig und sie spürte einen angenehmen Frieden in sich, so als ob es in Ordnung wäre, was hier gerade passierte. Ihre Müdigkeit war auf einmal verschwunden und schon mit dem nächsten Augenaufschlag fand sie sich in seinen Armen wieder. In diesen starken, männlichen Armen,