Beth St. John und Michelle Parker

Dunkler Engel


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Dingen, die noch gar nicht eingetreten sind. Nun mach aber mal langsam, Henry“, ermahnte sie ihn scherzhaft.

      „Nun gut“, er wurde ein bisschen ernster, „ich wünsche dir auf jeden Fall viel Glück für gleich. Ich gönne dir das von ganzem Herzen, aber ganz gleich, wie es ausgeht, du darfst mich später gerne anrufen. Ich sterbe vor Neugierde.“

      Sie verabschiedeten sich und Karolina versprach hoch und heilig, sich später auf jeden Fall noch einmal zu melden.

      Das Vorspielen fand in einem mittelgroßen Theater in Richmond statt. Dafür, dass es unter Musikern eigentlich ein riesiges Ereignis war, wirkte diese kleine Theaterhalle irgendwie ungeeignet für diesen Anlass. Karolina konnte nicht verstehen, warum man nicht das Opernhaus dafür ausgesucht hatte, in dem sie sich fast wie zuhause fühlte. Hier aber waren ihr die Gegebenheiten und die Akustik der Räumlichkeiten völlig unbekannt. Eventuell wollte man die gleichen Voraussetzungen für alle Violinisten schaffen. Sie wusste es nicht, aber so oder so musste sie sich damit abfinden. Hastig eilte sie die paar Stufen bis zur Tür hinauf und betrat schließlich die Eingangshalle. Diese war bereits gefüllt mit ihren Konkurrenten, von denen einige ganz ruhig auf ihren Plätzen saßen, andere wiederrum nervös umherliefen. Das Proben war vor dem eigentlichen Vorspielen verboten, weswegen keiner Geige spielte. Das war ein Segen für Karolina, denn es hätte ihre Anspannung sicherlich nur noch gesteigert. Bei dem Gedanken, dass sie hier die Besten vor sich hatte, spürte sie den Knoten in ihrem Bauch wieder ganz deutlich. Natürlich durfte nicht jeder dahergelaufene Geiger vor dem Intendanten des Sydney Orchestra spielen und alle, die hier waren, waren entsprechend qualifiziert. Zum einen konnte sie sich glücklich schätzen, dass sie dabei war, aber zum anderen war die Konkurrenz eben auch sehr groß.

      Nachdem Karolina sich angemeldet und ihren Mantel an der Garderobe abgegeben hatte, suchte auch sie sich einen Platz und wartete darauf, dass es endlich losging. Nach wenigen Minuten wurde der erste Name aufgerufen und ein junger Mann Mitte Zwanzig verschwand hinter den Türen des Theatersaals. Nach und nach gingen immer mehr Personen durch die Tür und kamen wenig später wieder heraus. Sie versuchte, ruhig zu atmen, die Nervosität in sich zu unterdrücken und wartete ungeduldig darauf, dass endlich ihr Name fiel. Jeder hatte nur drei Minuten, um zu zeigen, was er konnte. Das war nicht viel Zeit, aber es musste genügen. Karolina hatte sich dazu entschieden, den Erlkönig von Franz Schubert zum Besten zu geben. Dieses Stück gehörte zu ihren absoluten Lieblingen, denn sie fand, dass es eine unglaubliche Energie inne hatte. Während viele andere Bach oder Mozart spielten, war sie der Meinung, dass der Erlkönig oft unterschätzt wurde. Als etwa die Hälfte der Anwesenden vorgespielt hatte, wurde sie endlich in den Theatersaal gerufen. Ihren Geigenkasten fest in der Hand, ging sie schnellen Schrittes durch die Tür, die sich sofort hinter ihr schloss. Der Intendant, den sie von Fotos kannte, saß mit einigen anderen Personen auf den Theatersesseln in der ersten Reihe vor der Bühne. Karolina legte ihren Geigenkasten an die Seite und holte ihre Violine heraus und betrat die Bühne.

      Noch bevor sie oben angekommen war, bat der Intendant: „Stellen Sie sich bitte kurz vor und erzählen Sie, welches Stück Sie für heute ausgesucht haben.“

      Karolina nickte und strich sich nervös das bernsteinfarbene, lange Haar zur Seite. Jetzt ärgerte sie sich darüber, dass sie es sich nicht vorher zusammengebunden hatte.

      „Mein Name ist Karolina Ivanek. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und spiele Geige seit meinem fünften Lebensjahr. Aktuell habe ich ein Engagement im San Francisco Symphony Orchestra. Ich habe mich dazu entschieden, den Erlkönig von Franz Schubert vorzuspielen.“

      Der Intendant nickte ihr zu, als Zeichen, dass sie anfangen sollte. Nichts in seiner Mimik und Gestik verriet, was er über sie und ihre Musikauswahl dachte. Karolina nahm ihre Geige an die Schulter, setzte den Geigenbogen an, schloss die Augen und atmete ein letztes Mal tief durch. Dann erklang der erste Ton. Während sie sanft über ihr Instrument strich, spürte sie, wie die Musik ihr eine Gänsehaut verursachte. Weitere Töne folgten und eine sanfte Melodie entstand. Aber im Gegensatz zu sonst konnte Karolina diesmal ihre Umgebung nicht ausblenden und der Knoten in ihrem Innern wollte sich einfach nicht lösen. Sie spürte die Anspannung beim Spielen in ihren Händen und merkte, dass sie sich nicht wie üblich einfach fallen lassen konnte. Zwar traf sie jeden Ton perfekt, doch selbst sie konnte hören, dass die Leidenschaft in ihrer Melodie fehlte – sie kam nicht aus ihrem Innern. Trotzdem gab sie ihr Bestes, spielte das Stück genau so, wie sie es wochenlang geübt hatte. Die drei Minuten vergingen wie im Flug und es fühlte sich an, als seien sie nur Sekunden gewesen. Karolina wurde ohne weitere Kommentare entlassen. Sie verließ den Saal und war innerlich vollkommen aufgelöst. Natürlich hatte sie nicht schlecht gespielt, ohne Frage, aber sie wusste selbst, dass sie es besser konnte. So blieb ihr nur zu hoffen, dass es gereicht hatte und die anderen eventuell schlechter gewesen waren. Jetzt hieß es abwarten. Die zweite Hälfte der Geiger musste noch vorspielen, bevor vom Intendanten eine Entscheidung getroffen werden konnte. Karolina holte sich einen Kaffee an einem Automaten im Foyer und setze sich zurück auf ihren Platz. Die Minuten zogen sich nun wie Stunden und es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis endlich der letzte Violinist aus dem Theatersaal zurückkehrte. Natürlich mussten sie sich jetzt noch beraten und Karolina wippte unruhig mit dem Fuß hin und her. Immer wieder strich sie sich die widerspenstigen Haare hinter die Ohren. Als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, sah sie die Anspannung auch bei ihren Konkurrenten. Das schlechte Gewissen machte sich in Karolina breit. Sicherlich hatte jeder hier dieses Engagement auf irgendeine Art und Weise verdient und es widerstrebte ihr, dass auf so viele Menschen eine Enttäuschung wartete. Sie jedoch wollte nicht enttäuscht werden. Normalerweise war sie ein sehr herzlicher und zurückhaltender Mensch, der niemandem etwas Böses wünschte. Aber jetzt wollte sie dieses Engagement so sehr, dass sie nur an sich denken konnte.

      Als sich die Türen zum Theatersaal öffneten, war es schon später Nachmittag. Der Intendant trat hervor und sofortige Stille kehrte ein. Die Ungeduld aller war geradezu greifbar. Er verkündete, dass er viele wundervolle Talente gehört habe, aber leider nur einer der neue Violinist am Opernhaus in Sydney werden könne. Außerdem vertröstete er diejenigen, die es nicht geschafft hatten, und versicherte ihnen, dass es wirklich nicht an fehlenden Fähigkeiten lag. Ihm sei die Entscheidung unglaublich schwergefallen. Karolina interessierte sich allerdings kaum für seine Worte, denn am Ende zählte es nicht, wie gut der Intendant einen gefunden hatte, wenn man die Anstellung nicht bekam. Bodenlose Enttäuschung machte sich in Karolina breit, als schließlich nicht ihr Name fiel. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, die sie nur mit größter Mühe zurückdrangen konnte. Sie wollte nicht hier vor allen Leuten weinen – obgleich sie nicht die einzige gewesen wäre. Der Höflichkeit halber klatschte sie mit, als der Glückliche nach vorne trat und sich verneigte. Der Intendant bat ihn, allen anderen etwas vorzuspielen und diesen anstrengenden Tag mit einem Lied ausklingeln zu lassen. Der Gewinner kam dieser Bitte natürlich gerne nach. Karolina war jedoch zu verletzt, um das hier länger durchzuhalten und so huschte sie schnell zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen und zu verschwinden.

      Sie kauerte sich erneut in die hintere Ecke des Busses, auf den sie viel zu lange hatte warten müssen, und sah betrübt nach draußen. Das triste Wetter entsprach ihrer Gefühlslage. Sie hatte versagt. Die Worte des Intendanten hallten in ihrem Kopf wider und tanzten wild durch ihre Gedanken. Wie konnte das nur passieren? Sie hatte wochenlang für dieses Vorspielen geübt, aber vorhin hatte sie die Musik einfach nicht gespürt. Alles war falsch gelaufen. Die Nervosität hatte alles kaputt gemacht. Und jetzt? Jetzt sah sie ihren Träumen zu, wie sie vor ihrem inneren Auge zerplatzten wie zu große Seifenblasen. Kein neues Land, kein großes Abenteuer, kein Schub für die Karriere – gar nichts.

      Karolina lehnte ihre Stirn an die Fensterscheibe und genoss die Kühle, die diese ausstrahlte, denn sie hatte das Gefühl, dass ihr Gesicht brannte. Nach einem Moment der Ruhe holte sie schließlich das Handy aus ihrer Manteltasche und wählte Henrys Nummer. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es ihm erklären sollte, aber sie war sich sicher, dass er die richtigen Worte finden würde, um sie aufzumuntern.

      „Na Schneckchen, wie lief es?“, meldete er sich gespannt zu Wort und Karolina schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals angesammelt hatte.

      „Ich habe das Engagement nicht bekommen“, sagte sie gerade heraus und unterdrückte dabei erneut die