Detlef Köhne

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel


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Dunkle Lord stutzte. Sein mit dem Zauberstab niedersausender Arm hielt mitten in der Bewegung inne – dann griff er wie mechanisch nach Heinrichs Zauberstab und streckte ihm seinen eigenen entgegen, da ihm ein Austausch wohl fair vorkam. Doch mit einer raschen Handbewegung hatte Heinrich den Zauberstab geschnappt und reckte nun beide siegreich in die Höhe. »Ha, reingefallen«, rief er triumphierend, zerpflückte den Pappzauberstab des Lords in kleine Stücke und warf sie ihm wie Konfetti um die Ohren. »Na, was sagst du jetzt?«

      Der Lord sah sich überrumpelt. »Mein Zewa-Zauberstab«, stotterte er entsetzt.

      »Stopp, aus!«, rief eine ferne Stimme, ging aber unter im schallenden Gelächter, das sich in der Gruppe der Getreuen um Heinrich herum und in einer Anzahl in dunkle Betttücher gehüllter Unholde, die bisher stumm abseitsgestanden hatten, erhoben hatte. Der Dunkle Lord jedoch war unter seiner bleichgrünen Schminke zornesrot angelaufen, was ihm eine sehr ungesunde Gesichtsfarbe verlieh. Er stieg von seinen Dosenstelzen herunter und kickte sie erbost in die Ecke. Erst ein zweiter, diesmal megaphonverstärkter Ruf, hielt ihn davon ab, sich im nächsten Augenblick auf Heinrich zu stürzen.

      »Stopp! Aus! Aus! Aus! Schluss damit!«, dröhnte der Ruf über das Tohuwabohu hinweg.

      Allmählich verebbte das lautstarke Gewieher. Verwirrt wendeten die Schüler die Köpfe und hielten Ausschau nach dem energischen, aber sehr verzweifelt klingenden Rufer. Es war Herr Flötotto, der Leiter ihrer Theater-AG, der am Rand der Bühne stand und drauf und dran war, sich büschelweise Haare aus dem ohnehin lichten Haarkranz zu raufen.

      Was hatte der nur? Gut, es war die erste Probe nach den Sommerferien und sie waren alle noch etwas eingerostet und wenig textsicher, aber warum unterbrach er ihre Aufführung gerade jetzt, wo sie so schön in Fahrt waren? Murrend ließen die Kinder die Pappzauberstäbe sinken, zogen sich die Betttücher über die Ohren und schauten ihren Lehrer fragend an.

      Flötotto war mit der künstlerischen Tiefe des Dargebotenen offenbar überhaupt nicht einverstanden. Er strich sich mit einer nervösen Geste die verbliebenen Haare glatt und sammelte sich. »Okay«, stöhnte er, »okay, ich hätte auf meine Frau hören und lieber die Hauswirtschafts-AG übernehmen sollen. Da steht höchstens mal ein Herd in Flammen, oder eine Klasse fällt aus wegen Lebensmittelvergiftung durch Gammeldöner. Aber, nun gut, ich wollte es ja nicht anders. Das Leid gehört zum Leben eines Kulturschaffenden einfach dazu.«

      Heinrich und die anderen schauten sich achselzuckend an, während Flötotto zur Entspannung ein paar Atemübungen machte. »Nun gut«, sagte er dann. »Kommen wir zur Einzelkritik. Patrick: sehr gute Performance als Lord Voldemort in der Angriffsszene. Dramatik, Gestik, Ausdruck – alles super. Allerdings solltest du vielleicht darauf achten, dich etwas lordmäßiger auszudrücken, falls du verstehst, was ich meine.«

      »Ich finde, ich sollte Voll-der-Lord spielen«, rief einer der betttuchbewehrten Statisten dazwischen. »Ich tu das viel besser draufhaben, mit dem lordisch reden.«

      »Ja, das hört man, Marcel. Kein ›tun‹ beim reinen Infinitiv! Und es heißt Voldemort und nicht Voll-der-Lord.« Flötotto wandte sich dem Jungen mit der roten Perücke zu, der sich immer noch vereinzelte Lachtränen aus den Augen wischte. »Timo, bis zu deinem Lachanfall war das in Ordnung. Viel geistreichen Text bietet die Rolle des ›Ron‹ ja eh nicht. Und du musst aufpassen, dass dir die Perücke nicht zu weit in die Augen rutscht.«

      Timo tat zerknirscht. Er knurrte etwas von ›Scheiß Pumucklperücke‹ und kickte den roten Mopp von der Bühne. Das Mädchen mit der Löwenmähnenperücke nieste derweil laut und wühlte in den Untiefen seiner Umhangtaschen vergeblich nach einem Taschentuch. Ihre Nase war ziemlich gerötet.

      »Lisa, ich hatte zwar gesagt, deine Rolle lässt Raum für künstlerische Entfaltung«, sagte Flötotto zu ihr, »aber ich wäre dir doch dankbar, wenn du ohne die dauernde Nieserei auskommen könntest, es sei denn, du möchtest damit etwas Kreatives herüberbringen, das mir bisher entgangen ist.« Das Mädchen nieste erneut und schaute Flötotto vorwurfsvoll an. Dann feuerte sie ihre Löwenmähnenperücke der roten von Timo hinterher, nieste noch zweimal kräftig und forderte lauthals einen Allergietest.

      Flötotto reichte ihr ein Papiertaschentuch und nahm sich dann Heinrich vor. »Tja, nun zu dir, Heinrich ... ich weiß, wir interpretieren den ›Harry Potter‹ in unserer Aufführung ziemlich frei, und es ist völlig in Ordnung, dass du improvisierst, wenn du deinen Text vergessen hast, aber für linke Taschenspielertricks lässt deine Rolle wenig Raum. Du verkörperst den berühmten Jungen mit dem Blitz auf der Stirn, da muss dir schon etwas Besseres einfallen, als dem Dunklen Lord den Zauberstab zu klauen! Emotion, Ausdruck, Drama, das ist es, was ich von dir erwarte! Es kommt gerade zum entscheidenden Kampf zwischen dir und dem Dunklen Lord. Er steht kurz davor, den Todesfluch auszusprechen. Die Narbe auf deiner Stirn bringt dich vor Schmerz fast um den Verstand. Das muss man deinem Gesicht auch ansehen! Wir haben dich für die Hauptrolle ausgesucht, weil das mit deinem Namen so schön passt, aber es gehört schon ein wenig mehr dazu, um der Junge mit dem Blitz auf der Stirn zu sein.«

      Flötotto sah Heinrich nachdenklich an, als zweifle er, das Notwendige noch irgendwann aus ihm herausholen zu können, und als würde er gleich zu ihm sagen ›Ich habe heute leider kein Foto für dich‹.

      »Vielleicht sollten wir in Erwägung ziehen, dich für eine andere Rolle zu besetzen«, sagte er stattdessen. »Die des ›Ron‹ zum Beispiel. Du könntest mit Timo die Rollen tauschen, was hältst du davon?«

      Heinrich tauschte einen Blick mit Timo, der feixend auf den Pumucklmopp deutete, der neben der zottigen Hermineperücke in der Ecke lag. Heinrich sagte nichts, aber der Vorschlag behagte ihm nicht.

      6

      »Tut mir leid, die Sache mit deinem Zauberstab«, sagte Heinrich. Er stand im Waschraum der Sporthalle vor dem Spiegel und versuchte, sich den in mühevoller Handarbeit aufgeschminkten Blitz von der Stirn zu rubbeln.

      Ein Waschbecken weiter stand Patrick Lennert, der Darsteller des Dunklen Lords, und wusch sich unter verschwenderischem Wassereinsatz die bleiche Theaterschminke herunter. Der kleine Streit auf der Bühne war längst vergessen.

      »Schwamm drüber«, gurgelte er. »Diese Küchenpapierrollen bringen 's sowieso nicht. Ich glaube, ich versuch's bei der nächsten Probe mal mit einem Zeichenpinsel oder, noch besser, mit einem Hammerstiel, der knickt wenigstens nicht gleich um, wenn man ihn einem über die Rübe zieht.«

      Timo Koll betrat lachend den Waschraum. »›Du hast da einen Riss im Zauberstab!‹«, wieherte er und patschte Heinrich im Überschwang auf den Rücken. »Das war echt geil, Mann. Ich dachte, Flötotto setzt gleich das Herz aus.«

      »Flötotto ist ein Idiot.«

      »Flötotto ist schon in Ordnung. Er ist nur etwas kunstversessen.«

      »Wenn er das, was er da mit uns zusammenschauspielert, für Kunst hält, kann er nur ein Idiot sein.«

      »Flötotto kann nichts dafür, dass er keine besseren Darsteller für seine Projekte findet«, gab Heinrich zu bedenken.

      »Okay, einigen wir uns darauf, dass er eine Kulturmeise hat.«

      Timo trat an ein freies Waschbecken, quetschte sich einen Klecks Haargel aus einer dunkelbauen Tube und begann, seine perückengeschädigte Frisur wieder auf Vordermann zu bringen. »Schade, dass du die Hauptrolle los bist, Heinrich. Ich finde, du hast es irgendwie immer geschafft, ihr so etwas Frisches, Unverbrauchtes abzugewinnen.« Timo traf Flötottos gelehrigen Tonfall exakt. Patrick und einige der übrigen Anwesenden lachten schallend.

      Schade? Diese Theater-AG war eine selten dämliche Idee gewesen, dachte Heinrich im Stillen. Und dann auch noch ausgerechnet die Hauptrolle! Ehrlicherweise musste er sich eingestehen, dass Flötotto völlig Recht hatte. Es war ihm schon immer schwergefallen, sich in andere Rollen hineinzufinden, sich glaubhaft zu verstellen oder jemanden zu verkörpern, der er einfach nicht war. Von der ungeliebten Aufmerksamkeit, die man zwangsläufig erhielt, wenn man eine Hauptrolle spielte, mal ganz abgesehen. Und wie hatte Flötotto gesagt? Es gehört etwas mehr dazu,