Eckhard Lange

Die Vergessenen


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ins Gedächtnis zurück, was damals im Hause des Vaters oder auch der Maria geredet wurde. Sie verstand nicht nur den Meister immer besser, sie wusste auch dieses Wissen einzubringen in die Versammlungen der Gemeinde. Barnabas und Lucius und die anderen Leiter staunten über ihre klugen Beiträge, und bald erteilten sie ihr auch das Wort, wenn Fremde zu den Versammlungen kamen und hören wollten, was es mit diesem neuen Glauben auf sich hat.

      Eines Tages stellte Barnabas den antiochenischen Schwestern und Brüdern einen Mann vor, den er vor längerer Zeit in Jerusalem kennengelernt hatte und der nun aus seiner Heimat Tarsus hierher gekommen war. Er hieß Saul, oder, wie er sich für die griechisch Sprechenden lieber nannte, Paulus. Dieser Saul war ein gelehrter Mann, aus jüdischem Geschlecht und bei einem bekannten pharisäischen Lehrer einst in Jerusalem ausgebildet. Etwas anderes aber beeindruckte die Gemeinde weit mehr: Er hatte die Anhänger des Christus Jesus einst wütend verfolgt, weil er ihre Botschaft für eine Irrlehre hielt, aber dann war ihm in einer Vision der Herr selbst erschienen und hatte ihn in den Dienst gerufen. Und nun predigte er mit großer Vollmacht und klugen Argumenten, daß dieser Jesus der von Gott verheißene Messias sei.

      Vor allem eines bewegte Junia sehr: Paulus trat offen dafür ein, daß nicht nur die Menschen aus dem erwählten Volk Gottes, aus Israel, zur Gemeinde des Herrn gehörten, sondern daß allen, aus welchem Volk sie immer kommen mochten, die Botschaft galt, ohne daß sie nun erst Juden werden und sich dem Gesetz unterwerfen müssten. Nicht das Gesetz, sondern allein die Barmherzigkeit Gottes würde den Menschen retten, wenn er sich ihr anvertraue. Hatte der Meister nicht selber ähnliches verkündet? Und hatte nicht Maria damals in Magdala ihr davon erzählt? Ja, das war die Wahrheit, und für diese Wahrheit wollte auch sie eintreten. Der Meister hatte sie einst gesegnet, als sie noch ein Kind war, aber dieser Segen war doch auch ein Auftrag für sie. Es war wie eine Erleuchtung, alles, was sie bisher verstanden und gelernt hatte, es hatte nur diesen einen Zweck: Sie sollte selber diese Botschaft weitersagen. Auch wenn sie noch nicht wusste, wann und wie das geschehen sollte.

      4

      Andronikus war noch ein junger Mann, vielleicht vier Jahre älter als Junia. Er war hochgewachsen, mit langem, nur leicht gewelltem Haar, sein Bart war kurz gehalten, und da er sich auch nach Art der Griechen kleidete, wirkte er keinesfalls wie ein Jude, obwohl er einst beschnitten worden war und aus dem Stamm Benjamin stammte.

      Andronikus hatte sich vor Jahren von den Predigten des Stephanus überzeugen lassen, und der hatte ihn auch getauft, kurz bevor er verhaftet wurde. Als nach dem Tod des Stephanus die meisten seiner Anhänger vor der Verfolgung durch den Hohen Rat aus Jerusalem flüchteten, war er zunächst untergetaucht. Er war damals ja noch ein Jüngling, kaum bekannt in der Gemeinde und wohl auch bei ihren Gegnern, und seine Eltern waren biedere Jerusalemer Bürger. Sie hatten ihn bei einem der vielen Schreiber in die Lehre gegeben, der für die Ungeschickten – und das waren die meisten – Verträge oder auch Gesuche an die Behörden aufsetzte. Letzteres geschah oft auch auf Griechisch, und so lernte Andronikus bald diese Sprache genauer.

      Allerdings vermisste er die Gemeinschaft der Stephanusgemeinde, denn die Männer, die sich um Petrus und Johannes sammelten, forderten von allen, sich auch weiterhin den Gesetzen Israels zu unterwerfen. Eine Weile hielt er sich dennoch zu ihnen, schließlich war er in jüdischer Tradition aufgewachsen, und die Gebete im Tempel waren ihm seit seiner Kindheit vertraut. Aber Stephanus hatte ihn doch einen weiteren Blick gelehrt, das alles machte ihn unsicher.

      Da kam ihm ein günstiges Geschick zu Hilfe: Als er für seinen Lehrmeister gerade einen Vertrag anfertigte, betrat ein Mann das Ladenlokal, dem man seinen Reichtum auf den ersten Blick ansah: Er trug nicht nur mehrere Ringe, sein lederner Gürtel war mit Silberplättchen beschlagen, ein großes Siegel hing ihm an einer Goldkette um den Hals. Der Fremde schaute dem jungen Mann neugierig über die Schulter, dann sagte er: „Du hast eine schöne Handschrift, mein Junge!“ Andronikus sah verwundert auf, Lob bekam er nur selten. Doch der Mann fuhr fort: „Kopierst du diesen Text, oder hast du ihn selbst entworfen?“ „Ich schreibe nur, was der Auftraggeber verlangt,“ sagte der Junge vorsichtig, doch dann ergänzte er: „Aber ich bemühe mich, es so zu formulieren, daß es zu seinen Gunsten ist.“

      Inzwischen war der Schreiber selbst hinzugetreten, und Andronikus wandte sich wieder seiner Arbeit zu, während der Fremde mit dem Meister verhandelte. Doch dann rief er den Jungen und sagte: „Dieser Herr hier wünscht, daß du seine Verträge niederschreibst. Du sollst ihm in sein Haus folgen, dort liegt alles Material und auch Pergament und Feder. Zeig also, was du bei mir gelernt hast, und beschäme deinen Meister nicht!“

      So kam Andronikus in das Haus eines Getreidehändlers. Er hatte mehrere Güter in Samaria und Galiläa unter Vertrag, die ihm die gesamte Weizenernte abgetreten hatten, und er belieferte damit drei oder vier römischen Garnisonen im Land – ein einträgliches Geschäft, wie der Junge rasch bemerkte, denn es ging dem Händler nicht nur um ein paar Verträge, sondern bald vertraute er Andronikus seinen gesamten Schriftverkehr an. Er hatte gesehen, daß der junge Mann verschwiegen und ehrlich war und niemals versuchte, für sich selbst etwas zu erreichen. So wurde er mit dem Lehrmeister des Jungen handelseinig und zahlte ihm eine entsprechende Summe, damit er ihm seinen Gesellen ganz überließ.

      Andronikus wohnte jetzt im Hause seines Herrn, aber er diente ihm als freier Mann, erhielt auch einen guten Lohn. Der Getreidehändler merkte, daß sein neuer Sekretär nicht nur schön und geschickt zu schreiben verstand, sondern auch durchaus redegewandt war. So übertrug er ihm ab und an eine Verhandlung mit einem Kunden, wenn er selber unabkömmlich war und das Gespräch irgendwo in der Provinz stattfinden sollte. Es mochten etwa sechs Jahre vergangen sein, seitdem Andronikus für ihn arbeitete, da rief der Herr ihn in sein Arbeitszimmer.

      „Ich habe inzwischen mancherlei Kontakte nach Syrien, wie du ja weißt,“ begann er. „Jerusalem ist schließlich nicht der Nabel der Welt, Antiochia ist da eine ganz andere Klasse. Aber die Stadt am Orontes ist weit, es braucht Tage, bis ein Schreiben dort eintrifft. Doch die Konkurrenz vor Ort ist groß, wenn ich in Antiochia Fuß fassen will, brauche ich einen Agenten, der in der Stadt lebt und dem ich vertrauen kann.“ Er machte eine Pause, dann fragte er ganz direkt: „Würdest du dir zutrauen, mich in Antiochia zu vertreten? Ich weiß, daß du mich nicht betrügen wirst, sondern redlich bist. Ich werde dir einen guten Lohn zahlen, damit du dort auch angemessen wohnen und dich kleiden kannst.“

      Andronikus mußte wohl recht erstaunt und auch unsicher ausgesehen haben, deshalb legte der Patron ihm die Hand auf die Schulter und blickte ihn offen an: „Du musst jetzt nicht antworten, ein solcher Schritt will schließlich wohl bedacht sein. Laß dir also Zeit, und wenn du dich entschieden hast, dann sag es mir.“ Aber Andronikus hatte sich bereits entschieden. Waren nicht die meisten aus der Gemeinde des Stephanus nach Syrien geflohen; gab es nicht eine große Gemeinde gerade in Antiochia, dieser Metropole des Ostens? Was er kaum zu träumen gewagt hatte, jetzt könnte es Wirklichkeit werden: Er würde die Geschwister von einst dort wiedertreffen, er könnte wieder das Mahl mit ihnen feiern und endlich auch den Lehrern lauschen, die er solange vermisst hatte. Dennoch ließ er sich einen Tag Zeit, ehe er seinem Herrn zusagte.

      Bald darauf schon kam der junge Jude Andronikus nach Antochia und nahm in einer Herberge Quartier. Noch ehe er sich eine Wohnung suchte, forschte er nach den Stephanusjüngern, die man hier in der Stadt allgemein „die Christen“ nannte. Barnabas und Lucius kannte er noch von früher, sie waren jetzt die Leiter der Gemeinde. So fragte er sich nach Lucius durch, der inzwischen auch im Rat des Stadtteils saß. Als er dessen Haus betrat, sah er zum ersten Mal jene junge Frau mit Namen Junia, ohne zu wissen, daß sie für viele Jahre miteinander leben und arbeiten würden. Junia war hoch aufgeschossen, fast noch größer als Andronikus, sie hatte ein schmales Gesicht, auch ihre Gestalt war schlank, fast konnte man sie mager nennen. Ihr dunkles Haar war unter einem Schleier verborgen.

      Erst glaubte er, eine Sklavin vor sich zu haben, und bat sie, ihn ihrem Herrn zu melden. Sie lächelte ihn an: „Melden will ich dich gerne, Fremder, aber wenn du Lucius meinst – er ist nicht mein Herr und auch nicht mein Patron.“ Sie führte ihn in einen kleinen Raum, das Haus des Lucius besaß zwar ein Peristyl, doch der Hof war eng und ohne Säulen, nur zum Triclinium hin wurde die Öffnung von einer schmalen Säule geteilt. „Warte