ihr anvertraut. Einmal, so haben die Großen mir damals erzählt, sei eine Frau aus Tyrus zu ihm gekommen, ein Heidin also, und hat ihn um Hilfe gebeten für ihre kranke Tochter. Und er hat sich von ihrem Glauben überwinden lassen. Ja, der Herr war ein frommer Jude, und doch hat er das Gesetz gebrochen, wann immer die Barmherzigkeit es ihm befahl. Denn nicht der Sabbat oder die Speisen entscheiden darüber, wer in das himmlische Reich unseres Gottes eingehen wird, sondern allein unser Vertrauen auf diese Barmherzigkeit. Deshalb ist die Liebe das eigentliche Gesetz, das Gesetz des Christus Jesus. Und diese Liebe verkündige ich euch. Denn darum ist Jesus auch gestorben und von Gott von den Toten auferweckt worden, damit wir das glauben, ob wir nun aus dem Volk der Juden stammen oder aus einem anderen Volk.“
Junia hielt inne, sie sah, wie groß die Bewegung unter ihren Zuhörern war. „Ich sehe,“ sagte sie, „daß viele von euch Fragen haben, und gerne wollen wir, Andronikus und auch ich, darauf antworten.“ Sie blickte in die Runde, doch es dauerte seine Zeit, bis die ersten sich zu Wort meldeten. Schließlich war niemand daran gewöhnt, solche Dinge offen auszusprechen, eigene Gefühle zu bekennen, Ratlosigkeit zu äußern oder gar Kritik vorzubringen. All das war Sache des Rabbis, und der war nicht erschienen. Und Pharisäer wie in der jüdischen Heimat oder den großen Städten gab es hier im fernen Miletene nicht, um über die Auslegung all der vielen Vorschriften der Thora zu diskutieren.
Nach und nach aber kam doch ein Gespräch zustande, und es war vor allem Junia, die hinter den verschiedenen Fragen auch manche seelische Not erkannte und versuchte, zu helfen und zu trösten. Plötzlich hielt sie inne und fragte in die Runde: „Es sind hier doch weit mehr Frauen als Männer versammelt; aber keine von ihnen hat sich bisher zu Wort gemeldet. Warum schweigt ihr eigentlich, liebe Schwestern? Seht, unser Herr hat mit den Frauen ebenso ernsthaft geredet wie mit den Männern, Frauen haben ihn auf seinem Weg begleitet – ich weiß es, denn meine eigene Mutter ist manchmal wochenlang mit ihm gezogen, und sie war es auch, die mit anderen Frauen als erste die Botschaft von seiner Auferweckung erhielt und den Jüngern davon berichtete. Und ich bin gewiß, auch ihr habt Fragen, habt eine Meinung.“
Da war endlich das Eis gebrochen, und die Sonne war längst untergegangen, als die letzten Gäste das Haus verließen. Andronikus umarmte seine Frau: „Du hast heute mehr erreicht als ich in all den vergangenen Wochen in der Synagoge!“ Junia mußte lachen: „Es war aber auch leichter hier, mein Lieber. Wo ich offen reden konnte, musstest du geschickt deine Worte wählen. Und das kannst du besser als ich.“
Als sich ihre Gäste zum nächsten Mal in ihrem Hause versammelten, bemerkten sie, wie sehr ihre Worte diese Menschen bewegt hatten. Und wie gut sie darüber nachgedacht hatten. Gleich zu Beginn fragte ein älterer grauhaariger Mann: „Ihr habt gesagt, wenn jemand sich zu dem Christus bekennt, dann solle er sich taufen lassen. Das sei das Zeichen für seine Rettung. Habe ich das richtig verstanden?“ Und als Andronikus bejahte, fuhr er fort: „Wir alle sind doch nach dem Gebot des Allmächtigen beschnitten worden. Ist das nicht seit alters das Zeichen dafür, daß wir zum erwählten Volk gehören? Wo ist da der Unterschied zu dieser Taufe, von der ihr redet?“
Andronikus blickte Junia an, doch sie nickte ihm zu, er solle antworten. So sagte er dann: „Auch ich bin einmal beschnitten worden, bin ein Jude wie du. Doch da sind zwei Unterschiede, und die sind von großer Bedeutung: Einer ist ganz offensichtlich: Beschnitten werden kann nur, wer männlich ist. Auf Christus taufen wir beide, Frauen wie Männer. Damit wird allen sichtbar, daß beide vor Gott gleich gelten, so wie es Junia von unserem Herrn, von Jesus berichtet hat. Der zweite Unterschied ist schwieriger zu erklären, aber ich will es versuchen. Du wirst mir darin zustimmen, daß unsere Beschneidung uns verpflichtet, nach dem Gesetz Gottes zu leben – und zwar nach dem ganzen Gesetz. Nur der, dem das gelingt, wäre ein Gerechter in den Augen Gottes. Aber hat es das jemals gegeben? Ich will es mit einem Beispiel sagen. Wir schauen gerne in einen Spiegel, um zu sehen, ob wir uns unter die Leute wagen können. Aber wenn Gott uns mit seinem Gesetz den Spiegel vorhält, was können wir anderes tun als vor Scham zu erröten? Wer könnte sich rühmen, alle Vorschriften erfüllt zu haben? Dann aber kann uns die Thora auch nicht retten vor dem Zorn Gottes. Retten kann uns nur die Barmherzigkeit des Allmächtigen, der seine Kinder liebt und ihnen nachgeht wie ein guter Hirte einem verlorengegangenen Schaf nachgeht, um es vor dem Verdursten zu retten. So hat es einmal Jesus selbst gesagt. Denn er hat uns diese Barmherzigkeit Gottes verkündet, und er ist für sie gestorben am Kreuz. Das ist die gute Nachricht, die wir euch weitersagen wollen: Wer ihr vertraut, wer dem Christus Gottes vertraut, ihm sich anvertraut, der ist gerettet. Und die Taufe bestätigt das: Du gehörst zum Christus Jesus, dir gilt nun die Barmherzigkeit, die Liebe Gottes, du bist gerettet!“
Es war nun ganz still in dem kleinen Saal. Andronikus hatte das Entscheidende gesagt, und jeder mußte sich fragen: Will ich das für mich selber annehmen? Junia spürte, wie viele mit sich selber rangen. Jetzt war der Augenblick, sie für die Wahrheit zu gewinnen. Jetzt mußte sie reden: „Seht, liebe Schwestern und Brüder,“ begann sie, „es gibt noch ein anderes Zeichen dafür, daß wir gerettet sind. Als unser Herr noch mit seinen Freunden und Schülern durch Galiläa zog, da hat er oft mit ihnen, aber auch mit vielen anderen das abendliche Mahl gefeiert. Und am Tisch saßen nicht nur fromme und ehrbare Menschen, er lud alle ein – selbst die Zöllner, die die gesetzestreuen Juden verachten, selbst eine Hure oder sonst sündige Menschen. Er wollte sie ja alle zum Vater zurückbringen, weil der Vater sie alle liebhat – nicht ihre Sünde, aber sie selbst. Und darum hat er mit ihnen so gefeiert, als wäre das schon das himmlische Mahl in der Vollendung der Herrschaft Gottes. Und ehe er in den Tod ging, hat er seine Freunde aufgefordert, dieses Mahl auch weiter zu feiern im Gedenken an ihn und an seinen Tod, weil das auch dann noch gilt: Es ist das Zeichen für jenes Mahl am Tisch unseres Gottes. Wenn wir es feiern in seinem Namen, dann bleibt es dieses Zeichen. Dann nimmt es uns hinein in die Barmherzigkeit Gottes. Wer immer sich taufen lässt, kann dieses Mahl feiern, kann das Brot brechen, das ihn an den Tod des Herrn erinnert, der für ihn gestorben ist, kann aus dem Kelch trinken, der uns alle in der Liebe zu Gott und zueinander verbindet. In diesem Mahl ist der Herr, der Christus Gottes, selbst gegenwärtig.“
Da stand der Grauhaarige auf und trat nach vorn: „Ich glaube, daß ihr recht habt, daß der Christus wirklich gekommen ist und uns retten will. Darum möchte ich getauft werden. Das werdet ihr doch tun, nicht wahr?“ Nun meldeten sich auch noch drei, vier andere Männer, und nach einer Weile trat auch eine Frau vor: „Ich bin nur eine Freigelassene, werdet ihr mich dennoch taufen?“ Junia fasste sie an beiden Händen: „Gott macht keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen seinem erwählten Volk und den anderen Völkern. Wie sollte er da Unterschiede machen, ob jemand frei ist oder Sklave, von hohem Ansehen oder niederem Stand? Wenn du dich dem Herrn anvertraust, Schwester, wird dir niemand die Taufe verweigern.“
Die vielen anderen Zuhörer zögerten noch, und die drei Antiochener bedrängten sie nicht. „Ihr seid alle herzlich eingeladen, wiederzukommen,“ sagte Andronikus, „es ist in Ordnung, wenn ihr erst bedenken wollt, was wir euch gesagt haben, und wenn ihr noch manche Fragen habt. Wir werden euch antworten, so gut wir können, damit ihr euch vielleicht später entscheiden könnt. Unser Haus steht euch jedenfalls offen.“
8
Der Sommer neigte sich inzwischen seinem Ende zu. Die junge Christengemeinde war nun nicht nur stetig gewachsen, sondern auch gefestigt im Glauben. Zwar gab es durchaus noch einige Unentschlossene, die sowohl die Sabbatfeier am siebenten Wochentag als auch die Versammlungen bei Junia und Andronikus am ersten Tag, dem Tag der Auferstehung des Herrn, besuchten, aber die meisten hatten sich inzwischen taufen lassen, feierten das Mahl und stärkten sich gegenseitig in ihrem Vertrauen auf den Christus Jesus.
Andronikus und Junia hatten Älteste eingesetzt, die die Versammlungen leiteten und auch die Taufen vollzogen. Zwar waren die meisten Angehörigen der Gemeinde noch jüdischer Herkunft, aber es gab immer häufiger auch Heiden, Angehörige der anderen Religionen in der Stadt, die zu den Versammlungen kamen, zuhörten und um Aufnahme baten.
Andronikus hatte seit längerem seine Kenntnisse als Schreiber in einem kleinen Ladenlokal angeboten und verdient damit genug, um die drei Antiochener zu ernähren, Junia hatte ihre schöne zierliche Handschrift ebenfalls genutzt, um die von Andronikus entworfenen Briefe