Eckhard Lange

Die Vergessenen


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Kelch zu empfangen als Zeichen der Gegenwart unseres Herrn? Wie könnten wir diese Gemeinschaft nun zerreißen, einen Tisch denen aus den Heiden und einen Tisch den Juden decken? Meine Freunde, so verraten wir die Liebe, die uns alle in Christus Jesus verbindet! Wie können wir diese Liebe den Ungläubigen predigen, wenn wir selber nicht in ihr und aus ihr leben! Darum bitte ich euch, und ich weiß, ich bitte das im Namen des Herrn, der auch mich berufen hat, richtet keine Schranken auf, wo sie doch Christus niedergerissen hat, macht nicht wieder die Thora zum Weg des Heils, wo doch unser Herr allein der Weg zu Gott ist.“

      Alle schwiegen, nachdenklich die einen, voller Bewunderung für diese klaren Worte aus dem Munde einer Schwester die anderen. Da erhob sich Andronikus: „Ihr Brüder und Schwestern, ich bin erst wenige Monate in eurer Gemeinde, es steht mir nicht an, euch zu belehren. Aber ich habe damals in Jerusalem die Worte des Stephanus gehört, und er hat ähnliches gesagt wie jetzt Junia. Und ich habe hier bei euch die Worte von Paulus gehört, der nun zusammen mit Barnabas, von uns geschickt mit Gebeten und unter Auflegen der Hände, in Kilikien und den angrenzenden Provinzen das Evangelium verkündet. Und predigt er nur den Juden? Nein! Wo immer die Heiden sich zum Herrn bekehren, da taufen wir sie. Verlangen wir, daß sie vorher beschnitten werden und die Vorschriften der Thora befolgen? Nein. Denn allein der Glaube an den Christus Jesus rettet uns, allein die Taufe schenkt uns den Geist des Herrn. So habe ich es gelernt hier in eurer Mitte. Darum stimme ich der Schwester Junia in all ihren Worten von ganzem Herzen zu, denn aus ihr spricht der Geist unseres Herrn. Das ist gewiß.“

      Damit trat er auf die überraschte Junia zu und umarmte sie, und viele taten es ihm daraufhin gleich, umarmten beide, Junia und auch Andronikus. Danach feierten sie alle das Mahl, das Zeichen ihrer Verbundenheit mit dem auferstandenen Herrn. Und sie taten es gemeinsam. Da wusste Lucius, was er zu tun hatte, was der Wille Gottes sei. Nach der Versammlung bat er Andronikus in sein Haus und fragte ihn gerade heraus, ob er Junia heiraten würde. Verdutzt fragte dieser zurück, so wie es Junia vor kurzem auch getan hatte: „Will sie es denn auch?“

      Lucius blieb ihm eine Antwort schuldig, er rief vielmehr einen Sklaven und befahl ihm, Junia herbeizurufen. Als sie die beiden Männer dort stehen sah, wusste sie, welche Bedeutung dieses Treffen haben würde. So wartete sie nicht mehr ab, ob Lucius etwas sagen würde, sondern wandte sich an Andronikus: „Der Herr hat mich gerufen, seine Botschaft weiterzusagen. Das weiß ich jetzt gewiß. Aber ich weiß auch, daß eine Frau das nicht allein kann. Wenn du bereit bist, Bruder Andronikus, diesen Weg mit mir gemeinsam zu gehen, dann will ich deine Frau werden.“ Leise fügte sie hinzu: „Aber wir werden wie Bruder und Schwester miteinander leben. Es ist nicht die Zeit der Vereinigung, und es wäre auch Unrecht, auf diesem Weg ein Kind zu gebären und zu ernähren. Ich will dich lieben, wie man einen Bruder liebt, und das mit ganzem Herzen. Und später, vielleicht einmal, wenn es der Herr so will, will ich dich auch anders lieben.“

      Andronikus blickte sie an, er wußte wohl, daß sie ein Opfer von ihm forderte, so wie sie es auch sich selber abverlangte. Nein, er würde sie jetzt nicht umarmen, nicht in dieser Stunde. Aber er streckte ihr beide Hände entgegen: „Ja, Junia, ich will dich achten und ehren als meine Ehefrau, und ich will dich lieben als meine Schwester im Herrn. Das gelobe ich, Gott ist mein Zeuge.“ Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Lucius, der stumm dabeigestanden hatte: „Und Lucius ist es auch.“

      6

      Sobald der Schnee auf dem Amenosgebirge weitgehend abgeschmolzen war, rüsteten Androklus und Junia zum Aufbruch. Marcius, ein ehemaliger Sklave aus dem Hause des Lucius würde sie begleiten. Er war ein getauftes Mitglied der Christengemeinde, ein Mann, der aus Kappadokien stammte und dort in Schuldhaft gekommen war, den Lucius des gemeinsamen Glaubens wegen gekauft hatte und den er nun für diesen Dienst freigelassen hatte. Er würde vor allem beim Transport des notwendigen Gepäcks helfen, außerdem könnte er auch als Dolmetscher dienen, denn nicht in allen abgelegenen Bergregionen wurde griechisch gesprochen und verstanden.

      Andronikus hatte in mehreren Briefen Abschied genommen von seinem Geschäftspartner in Jerusalem, der ihn nur mit großem Bedauern ziehen ließ. Doch Andronikus hatte einen Bruder in der Gemeinde gefunden, der gerne bereit war, in seiner Vertretung gegen einen angemessenen Lohn die laufenden Geschäfte weiterzuführen, die Oliven- und Weizenlieferungen zu kontrollieren und weiterzuleiten. Auch wenn er keine neuen Kunden werben sollte, so wollte Andronikus seinem Gönner und Auftraggeber doch die bisherigen Einkünfte sichern.

      Die letzte Versammlung der Gemeinde kam heran, das letzte gemeinsame Mahl, um das die beiden so gestritten hatten. Nun beteten alle für die drei Reisenden, die Lehrer und Ältesten legten ihnen die Hände auf, damit sie mit dem Segen des Herrn loswandern könnten. Am nächsten Morgen begleiteten sie dann noch viele aus der Gemeinde aus der Stadt hinaus und über den Orontes, ehe man sie endgültig ziehen ließ. Von nun an waren die drei ganz auf sich selbst gestellt. Sie hatten sich zunächst einer Handelskarawane angeschlossen, die am Fuße des Amenosgebirges nach Norden zog mit der Absicht, ins syrische Nikopolis zu gelangen. Androklus und Junia hatten sich für eine Reise in Richtung Kappadokien entschieden, da Barnabas und Paulus nach Kilikien und Pamphylien aufgebrochen waren. Ein festes Ziel gab es nicht, Junia vertraute auf den Geist des Herrn, der ihnen den Weg weisen würde.

      Noch zog sich die Straße durch die Ebene dahin, von weitläufigen Olivenhainen gesäumt, dazwischen frisch bestellte Weizenfelder und Gruppen von Dattelpalmen. Das meiste Land gehörte hier Großgrundbesitzern, deren Landhäuser abseits von der Straße im Schatten der Palmen lagen. Nachts rasteten sie in den Karawanenherbergen, die in den Dörfern zu finden waren. Das stundenlange Wandern war allen drei ungewohnt, und auch wenn vor allem Junia die Füße schmerzten, so hielt sie doch Schritt mit den Männern und den Maultieren der Karawane, die das Tempo vorgaben. Noch war die Luft mild, die Nächte eher kühl, der Frühling ließ sich Zeit. Für die Reisenden war dieses Wetter von Vorteil, und die Bäche, die den geschmolzenen Schnee von den Berghängen ins Tal brachten, boten ihnen klares, kühles Wasser zur Erfrischung.

      Dennoch blieben sie einige Tage in Nikopolis, um sich zu erholen, denn der weitere Weg würde sie hinauf in die Berge führen. Nikopolis hatte weder eine jüdische noch eine christliche Gemeinde, also nahmen sie in einer Herberge Zuflucht. Marcius, ihr Begleiter und Freund, erkundete inzwischen, welche Händler in der Stadt waren und welchen Weg sie nehmen würden. Es war ihnen klar, daß sie keinesfalls alleine aufbrechen könnten, zu unwegsam war das Gelände, zu gefährlich wäre es auch, ohne den Schutz einer größeren Gruppe zu reisen. Am vierten Tag kam Marcius mit einer guten Nachricht in die Herberge zurück: Eine große Karawane mit mehreren Kaufleuten und ihrer Begleitung würde in Kürze nach Melitene aufbrechen, das die Römer Melatia nannten. Die Stadt lag ganz im Osten der Provinz Kappadokien, nahe der Grenze des Imperiums und war nicht nur Sitz einer römischen Besatzung, sondern auch ein wichtiger Handelsstützpunkt. Dort hofften sie zugleich eine jüdische Gemeinde zu finden als Ausgangspunkt für die Verkündigung der Botschaft. „Es ist der Geist des Herrn, der uns führt,“ sagte Junia mit Nachdruck. „Wir sollten uns der Karawane anschließen.“ Und die beiden Männer stimmten zu.

      Doch der Weg dorthin sollte für sie alle beschwerlich werden, denn bald führte er sie ins Gebirge hinauf, wo die letzten Schneefelder zwischen steilen Felswänden und weiten Geröllhalden in der Sonne glänzten, so daß die Augen zu schmerzen begannen. Die Kleider verfingen sich in dem zwar niedrigen, aber oft dichten Gestrüpp, und bald blies ihnen auch ein eisig kalter Wind ins Gesicht, während die Füße mühsam nach einem festen Halt auf dem Pfad suchten. Allein die Maulesel schritten gleichmütig voran, trotz der schweren Lasten, die man ihnen aufgeladen hatte. Marcius sorgte dafür, daß nun auch das Gepäck der drei einem der Tiere aufgepackt wurde, und Andronikus zahlte bereitwillig dafür, daß ihre Füße nur noch sie selbst zu tragen hatten.

      Nicht immer fand sich eine Herberge an diesem Weg, oft mussten sie unter dem Sternenhimmel nächtigen, fest eingehüllt in den Kapuzenmantel, den sie nun über dem Obergewand trugen. Als sie am fünften Tag gerade noch rechtzeitig vor dem Einbruch der Nacht in einer kleinen Karawanserei einkehren konnten, war Andronikus froh, wenigsten eine kleine Kammer mit einer Liege mieten zu können. Junia war todmüde von den Anstrengungen des Tages, erschöpft sank sie auf die Liege, und Andronikus legte sich vorsichtig neben seine Frau. Sie hatte sich im