Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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sie ihm alle intellektuell weit überlegen waren, hatten sie ihn seine Herkunft und das, was er war, nie fühlen lassen. Ihn nie wie etwas Niedriges behandelt. Schließlich waren sie selbst es auch, die ihn fast fünf Jahre zuvor in der Kunst des Schreibens und des Lesens unterrichtet hatten. Eine Fähigkeit, die ihm nun plötzlich zum Verhängnis werden sollte.

      Denn eines Tages nutzte er das Erlernte und begann einfach zu schreiben. Nachts, wenn alles schlief, saß er einsam in der kleinen Kammer unter der Treppe, die er damals bewohnte. Allein und nur für sich schrieb er alles auf, was er erlebte.

      Doch schon sehr bald wurde ihm klar, dass sie das, was er zu Papier brachte, niemals finden dürften.

      Fast fünf Jahre lang schrieb er jeden Abend. Teilweise so viel, dass er kaum die Zeit dafür aufbrachte, den nötigen Schlaf für die Anstrengungen des nächsten Tages zu finden. Während der gesamten Zeit gab es nur vier Nächte, in denen er nicht schrieb. Das Halten der Feder verursachte in seiner Hand damals so große Schmerzen, dass er nicht einmal seinen täglichen Pflichten, die man ihm auferlegt hatte, nachkommen konnte. Doch sobald er wieder dazu in der Lage war, schrieb er weiter.

      Seine Gedanken waren die eines einfachen Menschen. Und diese Gedanken spiegelten sich in der Wahl seiner Worte wider, so wie er sie damals benutzte. Zunehmend hatte er gelernt, wie man eine Feder führte und auch sein Schreibstil verbesserte sich im Laufe der Zeit.

      Irgendwann fing er an, seine selbst geschriebenen Seiten zu ordnen und ein mehrteiliges Werk daraus zu binden. Alles, was er dazu wissen musste, fand er in den alten Büchern der großen Bibliothek im Westflügel. Dadurch war es ihm möglich, seine Schriften als zusammenhängende Einheiten vor den anderen zu verstecken, ohne dass sie Schaden nahmen.

      Niemand würde je erfahren, was unter der schweren Steinplatte, auf der sein primitives Holzbett stand, verborgen war.

      Kein anderer Mensch würde jemals sein Vermächtnis mit dem Namen:

      „Domenico – Diarium“

      lesen.

      Und so wäre es auch geblieben, wäre ihm nur nicht dieser dumme Fehler unterlaufen. Seit diesem Tag waren erst drei weitere vergangen.

      Er hatte wieder einmal die ganze Nacht hindurch all das, was er sah und erlebte, in Worte gefasst und zu Papier gebracht. Wie immer, wenn er durch sein kleines Fenster die herannahende Dämmerung bemerkte, schob er die schwere Steinplatte beiseite und versteckte sein kleines Geheimnis darunter. Alles war genau so wie immer. Nur der prüfende Blick durch sein kleines Zimmer war diesmal nicht von der gleichen Qualität wie in unzähligen vorangegangenen Nächten.

      Eine einzige Seite war es, die ihm am Morgen dieses Tages zum Verhängnis werden sollte. Nur eine einzige Seite, die später unter seinem Holzstuhl neben dem primitiven Tisch gefunden wurde.

      Das gleiche Blatt Papier, das sein Ankläger in den Händen hielt, als er ihn zur Mittagszeit zur Rede stellte. Jenes Blatt Papier, wegen dem man ihn für den Rest seines Lebens von der Welt fernhalten würde. Eine lose, handgeschriebene Seite, wegen der er fortan selbst die Sonne nie mehr sehen würde.

      So entschied er sich zur Flucht. Nur ein kurzer Augenblick, in dem seine Widersacher sich von ihm abwandten, musste ihm dafür reichen. Er nahm seine gesamte Kraft zusammen, um ihnen die schwere Tischplatte, die sie voneinander trennte, entgegen zu werfen. Seine Kraft war das Einzige, in dem er den anderen überlegen war. Ihren Augen war anzusehen, dass sie darauf nicht vorbereitet waren. Sämtliche Utensilien, die sich grad noch auf dem Tisch befanden, fielen durcheinander. Das von ihm beschriebene Schriftstück löste sich aus den Händen seines Anklägers, der sich, während er nach hinten vom Stuhl kippte, hilflos umsah. Wie das letzte Blatt eines Baumes im Herbst fiel es zu Boden.

      Noch während die anderen sich von diesem Überraschungsangriff erholten, rannte er los. Raus aus den Mauern, die ihm seit acht Jahren Schutz und Hoffnung boten.

      Er lief zwei Tage und zwei Nächte ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.

      Und nun stand er an diesem trostlosen Ort.

      Von Hunger und Müdigkeit übermannt suchte er nach einem kühlen Platz. Nur ein paar Minuten der Ruhe. Mehr wollte er nicht. Schließlich fand er diese Ruhe unter einem Baum. Anscheinend der einzige Baum, der an Größe und Stärke in der Lage war, diesem gnadenlosen Sommer und der sengenden Glut der Sonne zu trotzen. Der einzige Baum, dessen Blätter noch grün und nicht verdorrt waren. Am Ende seiner Kräfte angelangt schloss er seine Augen.

      Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort gelegen und geschlafen hatte, doch als er erwachte, saßen seine Widersacher im Kreis um sein Lager und der Ankläger fing erneut an, ihn im sehr leisen und fast schon väterlichen Ton zu verhören.

      Dabei stellte er immer wieder die gleichen Fragen. „Seit wann schreibst du?“ und „Gibt es noch mehr solcher Seiten?“

      Domenico hörte nur die Stimme des Mannes, den er nur allzu gut kannte. Er wusste, dass er ihm nie direkt in die Augen sehen durfte. Denn er kannte die Macht seines Gegenübers, die in den letzten Jahren immer stärker wurde, nur allzu gut. Sein Geheimnis würde ans Tageslicht kommen, wenn er diesem Menschen auch nur einmal in die Augen blicken würde.

      Um dies zu verhindern, war er bereit, alle körperlichen Qualen zu erleiden. Bereit, den Tod zu empfangen.

      Er war sich sicher, dass alles, wofür er die letzten fünf Jahre gelebt hatte, hier ein grauenhaftes Ende finden würde. Sie würden ihn nicht am Leben lassen. Sein Werk würden sie verbrennen, genauso wie in jener Zeit alles verbrannt wurde, das irgendjemandem im Weg stand. In seinem Kopf entstanden Bilder des Schreckens. Er sah sein eigenes Ende vor sich. Und trotzdem entschloss er sich zu schweigen.

      Noch in derselben Stunde, am alten Flussbett, begannen sie mit der Folter. Doch er schwieg.

      Sie drohten ihm mit dem Tod. Doch er schwieg.

      Selbst in dem Moment, in dem das Leben aus ihm entwich, kam nicht ein einziges Wort, nicht ein einziger vom Schmerz verursachter Laut über seine Lippen.

      Er nahm sein Geheimnis mit in die letzte Ruhestätte seines leblosen Körper, irgendwo in der Nähe des alten Flussbettes unter dem unbeugsamen Baum.

      1. Kapitel

      Stefan war eigentlich ein ganz normaler Durchschnittsmensch.

      Inzwischen 48 Jahre alt und von Beruf ein Handwerksmeister, der es zu einer kleinen Handelsvertretung eines Großkonzerns gebracht hatte, lebte und arbeitete er am Stadtrand von Berlin. Trotz seiner bescheidenen beruflichen Erfolge fand er jedoch nie die innere Ruhe, die sich bei den meisten Menschen irgendwann einstellt, wenn sie die magische Altersgrenze von 40 Jahren überschritten haben. Anscheinend hatte Stefan Angst davor, dass sein Leben zu Ende sein könnte, ohne dass er alles irgendwann wenigstens einmal ausprobiert hätte.

      So entdeckte er neben zahlreichen anderen Hobbys, denen er nachging, eines Tages auch seine Leidenschaft für das Schreiben. Und so begann für ihn irgendwann eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens. Nachdem er lange Zeit nach einem Weg gesucht hatte sein erstes Buch zu verlegen, fand er endlich eine Möglichkeit es zu veröffentlichen. Es handelte sich bei diesem Buch um einen Roman oder das, was man heutzutage unter dem Begriff Belletristik versteht.

      Eine Geschichte, die er sich selbst erdacht hatte (zumindest glaubte er es zu der Zeit noch), und die erst während des Schreibens zu einem kompletten Buch heranwuchs. Es gab während seiner Entstehung Zeiten, in denen sich seine Finger und sein Denken in totalem Einklang befanden. Er schrieb einfach alles so auf, wie es ihm gerade in den Sinn kam. In seinem Kopf lief dabei alles wie in einem Film ab, den er nur noch auf Papier oder, besser gesagt, in den Computer bringen musste. Vor seinem geistigen Auge hatte er damals Orte und Personen, die er, so gut er es vermochte, beschrieb, um sie künftigen Lesern möglichst nahe zu bringen. Die Handlung entstand quasi, während er sie niederschrieb. Dabei erschien ihm das, was er schrieb, wesentlich realer zu sein, als es normalerweise bei Schriftstellern der Fall war.

      Doch woran lag es, dass er nie das Gefühl loswurde, die Geschichte irgendwann selbst erlebt