Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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schickt. Natürlich wurde diese Seite anfänglich nur von Leuten angewählt, die sich von ihm persönlich dazu genötigt fühlten. Aber nachdem die E-Mail-Adresse in seinem Buch veröffentlicht worden war, fand er dort immer häufiger eine kleine Nachricht vor. Geschrieben und an ihn verschickt von Menschen, die sein Buch gelesen hatten. Menschen, mit denen ihn nur sein Roman verband. Fremde Menschen, denen er im Normalfall nie begegnet wäre. Und denen er wahrscheinlich auch nie begegnen würde.

      Unter den Zusendungen befand sich so ziemlich alles, was man sich nur vorstellen kann. Angefangen bei Bittbriefen, weil einige Leser glaubten, dass er nun Reichtum erlangt hätte, über Lob und Tadel bis hin zu Beschimpfungen aller Art und Güte. Selbstverständlich war er nicht in der Lage alle E-Mails zu beantworten. Auf Beschimpfungen war er übrigens auch nicht geneigt zu reagieren. Er gehörte eher zu den Menschen, die Abfälligkeiten oftmals mit Sarkasmus begegneten. E-Mails dieser Art häuften sich zunehmend.

      Es gab sie inzwischen in größeren Mengen. Im Allgemeinen handelte es sich dabei nur um kurze Briefe, in denen ihm Leute meist anonym mitteilten, dass er keinerlei Ahnung vom Schreiben hätte und besser die Finger davon lassen solle. Andere Verfasser waren vermutlich einfach nur geistig verwirrt. Teilweise enthielten diese Anschreiben nur ein einziges beleidigendes Wort. Wenn der Schreiber besonders fleißig war, sogar einen ganzen Satz.

      Ein solcher Absender stellte sich allerdings als besonders hartnäckig heraus.

      Seine ersten E-Mails löschte Stefan jedes Mal, nachdem er sie damals gelesen hatte. Später allerdings fand er Freude daran, sie zu sammeln und zu archivieren. Er legte ein Verzeichnis unter dem scherzhaft gemeinten Namen „Der besondere Fan“ an, in dem sich im Laufe der Zeit über fünfzig Zusendungen befanden.

      Alle enthielten nur einen sehr knappen Text, der sich in seiner Art immer wiederholte. Meist handelte es sich um einen kleinen Einzeiler.

      „Sie ahnungsloser Narr. Sie wissen nicht, was Sie getan haben“,

      stellte sich als Lieblingssatz des Absenders heraus. Dieser Satz befand sich inzwischen 39 Mal in seiner Sammlung. Wenigstens war der Verfasser der E-Mails in der Lage zwei ganze Sätze zu formulieren und gehörte damit, laut den letzten PISA-Studien, bereits zu den Intellektuellen unseres Landes.

      Irgendwann hatte Stefan einfach das Bedürfnis „dem besonderen Fan“ zu antworten.

      Es war ein Tag, an dem er sich wieder einmal über die vielen Unwegsamkeiten des Lebens geärgert hatte. Die neuesten Nachrichten des Tages beschäftigten sich mit einem Tsunami, der zur größten Katastrophe geführt hatte, die jemals die Anrainerstaaten im Indischen Ozean heimgesucht hatte. Die Zahl der gefundenen Todesopfer erhöhte sich dabei fast stündlich. Die Welt war erschüttert. Und auch Stefan fühlte mit denen, die in dieser Region lebten und ihre Angehörigen verloren hatten. Es war einer der schwärzesten Tage der Menschheit.

      Ein Brief vom Finanzamt tat ein Übriges, um seine Laune an diesem Tag maßgeblich negativ zu beeinflussen. Draußen regnete es, wie bereits fast den kompletten Sommer lang, seit den frühen Morgenstunden anscheinend unaufhörlich. Dementsprechend ließ Stefan seine durchnässte Kleidung einfach im Badezimmer fallen, sodass sie wenigstens nicht den Fußboden der restlichen Wohnung ruinieren konnte. Dann ließ er sich ein heißes Schaumbad ein und genoss die Ruhe nach einem anstrengenden Arbeitstag. Schnell hatte er die Hausbekleidung angezogen und das Fernsehprogramm studiert, was ihn schlagartig davon überzeugte, den restlichen Abend vor seinem Computer zu verbringen.

      Obwohl es erst 16.00 Uhr war, musste er sogar das Licht in seinem Büro zu Hause einschalten, um überhaupt etwas erkennen zu können.

      Bei diesem kleinen Büro handelte es sich um einen Raum, der aus zwei Computern auf einer vor dem Fenster montierten Arbeitsplatte, einem selbst gebauten Schrank mit Schiebetüren und natürlich einem Aschenbecher bestand. Es war allerdings kein Arbeitszimmer im herkömmlichen Sinne, sondern diente vorrangig einem seiner Hobbys, dem Computer.

      Früher versuchte er sich eine Zeit lang im Programmieren. Später baute er sich einen speziellen Computer zusammen, um damit Urlaubsfilme zu schneiden und zu bearbeiten. Und wie das nun einmal mit guten Vorsätzen so ist, so würde er dies bestimmt auch tun, sobald er die nötige Zeit dafür fände. Also irgendwann zwischen dem Ruhestand und seinem Tod.

      Seitdem er einen Internetanschluss besaß, surfte er jedoch meist durch das Netz oder spielte auch schon einmal mit anderen Internet-Usern eine Partie Fernbillard oder andere Spiele, in denen er eine Chance sah, als Sieger daraus hervorzugehen.

      Das Einzige, was ihm in diesem Büro bisher noch nie gelungen war, war das konzentrierte Schreiben. Das Schreiben war nur ein weiteres Hobby. Und dass sein erstes Werk inzwischen tatsächlich in einigen Buchläden feilgeboten wurde, sollte ihm als Lohn völlig ausreichen.

      Zwar hatte er nie die Hoffnung, dadurch reich zu werden, aber wenigstens wurden bereits ein paar Exemplare tatsächlich verkauft. Am liebsten saß er im Urlaub in einem fremden Land vor einem einfachen Holztisch.

      Nur sein Laptop und er.

      An solchen Orten fühlte er sich dann wie Ernest Hemingway mit seiner alten kleinen Schreibmaschine. Losgelöst von den Sorgen des Alltags verlieh er in dieser Atmosphäre seinen Gedanken Flügel. Während andere ihre Haut in der Sonne brutzelten, saß Stefan unter einer Palme vor dem Laptop und schrieb. Hin und wieder stand er sogar mitten in der Nacht auf, weil ihm gerade ein weiterer Teil der Handlung in den Sinn kam und sofort niedergeschrieben werden musste.

      An diesem Abend befand er sich jedoch nicht im Urlaub und seine nächsten Gehversuche als Autor würden noch einige Zeit warten müssen.

      So saß er also in seinem Büro und schaltete seinen Rechner ein. Während der Computer das Betriebssystem noch startete, zündete er sich eine Zigarette an und war nun bereit, seine elektronische Post zu lesen und ggf. zu beantworten.

      Und da war er wieder. ‚Mein besonderer Fan’, dachte er bei sich. Er erkannte ihn inzwischen bereits an der Überschrift seiner Nachricht. „Narr“. Anscheinend wollte er Stefan damit provozieren. Ihn zu einer Reaktion bewegen. Also öffnete Stefan die E-Mail sofort, in der Hoffnung einen neuen Text zu lesen. Doch Fehlanzeige. Auch diesmal wieder zierten seine Lieblingsworte den Bildschirm. Inzwischen Nr. 40. offensichtlich kopierte der Absender diesen Satz nur immer wieder in seine Briefe, die er schrieb.

      „Sie ahnungsloser Narr. Sie wissen nicht, was Sie getan haben.“

      Diesmal jedoch befand sich Stefan gerade in der richtigen Stimmung, um sich über solche Zeilen zu ärgern.

      Also klickte er mit der Computermaus die Option „Antworten“ an und begann zu schreiben.

      „Hallo, wer immer dies liest.

      Ich weiß zwar nicht, was Sie mir seit Monaten sagen wollen, aber ich bin es einfach leid, Ihre Briefe noch länger zu erdulden. Ich bin mir keinerlei Schuld bewusst.

      Wenn Sie nicht in der Lage sind, mir deutlich mitzuteilen, was Sie eigentlich von mir wollen, dann unterlassen Sie bitte ab sofort diese ständigen Belästigungen.

      PS: Wenn Sie wieder so ein Verrückter sind, der glaubt, dass ich ihm seine Frau ausspannen will, dann rate ich Ihnen dringend einen Psychiater aufzusuchen.“

      An dieser Stelle endete Stefans Brief.

      Schnell beantwortete er noch ein paar andere E-Mails, bevor er seinen Computer ausschaltete und sich dann doch in sein Wohnzimmer vor den Fernseher zurückzog.

      Eine Zeit lang zappte er ziellos durch die Programme, die fast alle über die neueste Naturkatastrophe berichteten.

      Die offizielle Zahl der Todesopfer im Indischen Ozean hatte sich seit den Morgenstunden verdreifacht. Naturschützer gaben wie immer der Großindustrie die Schuld daran, welche mit ihren Schadstoffen und sonstigen Eingriffen in die Natur das Wetter maßgeblich beeinflussten.

      Wie schon so oft in der Vergangenheit schlief er während des darauf folgenden Spielfilms ein, um pünktlich bei Sonnenaufgang mit den ihm inzwischen gut bekannten Rückenschmerzen wieder aufzuwachen.

      Giovanni saß, wie an