Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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die es zu versorgen galt.

      Normalerweise war Stefan in solchen Dingen eher zurückhaltend, doch die persönliche Opferbereitschaft seiner Leute überzeugte auch ihn. Alle Zeitungen waren vollgestopft mit Bildern, die rund um den Erdball gingen und denen sich niemand, in dessen Brust ein Herz schlägt, entziehen konnte.

      Dabei teilten sich Stefans private Gedanken an diesem Tag zwischen der Anteilnahme der vielen traurigen Schicksale und seinem mysteriösen besonderen Fan auf.

      Wahrscheinlich war es genau das, was ihn dazu bewog, an diesem Vormittag seine private E-Mail-Adresse auch auf dem Firmencomputer einzurichten. Sofort nach dem Starten des Programms wurde ihm die Reaktion auf seinen Brief vom Vortag angezeigt.

      Er klickte mit der Computermaus auf die zuständige Stelle und las, was sein besonderer Fan ihm schrieb.

      „Endlich“

      Mehr als dieses eine Wort war nicht zu lesen. Jetzt wurde er allerdings neugierig. Sofort machte er sich daran, eine Antwort zu verfassen. Stefan überlegte lange, was er darauf erwidern würde, bis er einen ebenfalls sehr knappen Text verfasst hatte.

      „Warum, endlich?“

      Nur diese beiden Worte waren es, die er als Antwort verschickte.

      Irgendwie begann ihm dieses Spiel Spaß zu machen. Wer war der Verfasser der Briefe?

      Was wollte er mit seinen Briefen erreichen?

      Diese Frage beschäftigte Stefan für den Rest des Tages und noch drei weitere Tage.

      Egal, ob er morgens in seinem kleinen Betrieb oder abends zu Hause eintraf, seine erste Tätigkeit war das Abrufen seiner elektronischen Post.

      Nach ein paar Tagen fühlte er sich in seiner Vermutung bestätigt, es offenbar mit jemandem zu tun zu haben, der ihn einfach nur belästigen wollte. Von Menschen dieser Art wimmelte es geradezu im Internet. Leute, die sich daran labten andere zu belästigen und zu verunsichern. Egal, ob diese Leute E-Mails verschickten oder sich in sogenannten Chatprogrammen aufhielten, ihr einziges Ziel war es offensichtlich, anderen Menschen auf die Nerven zu gehen. Zumindest hatte ihr Handeln genau diesen Effekt.

      Irgendwann wurde die Welt des Internets inzwischen zu einer komplett eigenen Welt mit immer mehr Bewohnern. Menschen nahmen in ihr eine völlig neue Identität an, die sie dort ausleben konnten. Man fragte sich, wie lange das wohl gut gehen konnte. Wie lange waren Menschen in der Lage, unsere tatsächlich vorhandene Realität von der virtuellen Realität eines Chatprogramms zu trennen?

      So saß Stefan wieder einmal vor seinem Monitor und suchte nach einer Nachricht vom „besonderen Fan“, doch auch diesmal entdeckte er keine Reaktion auf seine eigene letzte E-Mail.

      Jeder normale Mensch hätte die Sache einfach vergessen. Aber war er ein solcher normaler Mensch? Wahrscheinlich nicht. Er erwischte sich selbst dabei, dass er häufiger als sonst seine Nachrichten abrief. Teilweise mehrmals innerhalb einer Stunde.

      Warum meldete er sich nicht? Eine innere Unruhe machte sich breit. Egal wer dieser anonyme Absender war, er schaffte es, Stefan neugierig zu machen. Zumindest beherrschte er etwas, das man „die Macht des Schweigens“ nannte.

      Dann, am vierten Tag, war es endlich so weit. Stefan hatte gerade den ersten Schluck aus seiner Kaffeetasse genommen und das E-Mail-Programm in seinem Computer gestartet.

      Aus unerklärlichen Gründen wartete er mit dieser Prozedur seit Tagen immer, bis er sich allein im Büro seiner kleinen Firma befand. Es gab ihm ein Gefühl, als ob er sich heimlich an seinen Briefkasten schleichen würde. Da er noch nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte, schien es ihm einfach das Richtige zu sein. Schließlich brachten die letzten Tage keine weiteren Erkenntnisse über den Absender der vielen Briefe.

      War er einfach nur ein Spaßvogel?

      Ein Freund, der ihm einen Streich spielte?

      Zumindest war derjenige in der Lage Stefans Interesse zu wecken.

      Paolo zog sich zum ersten Mal seit vielen Jahren allein in seine Bibliothek zurück, und jeder im Haus wusste, was dies zu bedeuteten hatte. „Der Alte will nicht gestört werden“, teilte sein persönlicher Sekretär dem restlichen Personal mit.

      Es war ein sehr großes Haus mit einem gewaltigen Anwesen, in dem nur Paolo mit seiner Familie wohnte. Obwohl es bereits vor über 200 Jahren erbaut worden war und Platz für viele Generationen bot, waren es immer nur höchstens acht Familienmitglieder, die es beherbergte. Wie bereits jeder seiner Vorfahren achtete auch Paolo darauf, dass niemand in der Familie mehr als zwei Kinder zeugte. Auch er hatte sich damals daran gehalten, und so existierte nur ein einziger männlicher Nachkomme. Trotz des Reichtums, den die Familie in all den Jahren erlangt hatte, achtete man darauf, dass alles überschaubar blieb.

      Paolo hatte die alten Briefe, die ihm sein Vater damals übergeben hatte, herausgeholt und studierte sie gerade, als es an der Tür klopfte.

      „Ich sagte, dass ich nicht gestört werden will!“

      „Er ist jetzt da“, vernahm er durch die dicke Eichentür.

      Schnell verbarg Paolo die Briefe in seinem Schreibtisch. „Dann führe ihn herein.“

      Die Tür öffnete sich, und der Sekretär wies Giovanni den Weg zu ihrem gemeinsamen Chef.

      „Ich freue mich, dass du so schnell kommen konntest.“ Freundlich, aber dem Ernst der Situation bewusst, reichten sich die beiden Männer die Hände. „Wie hast du dich in Berlin eingelebt?“ „Eigentlich ganz gut, aber ich glaube, Sie haben mich nicht herbeordert, um mich dies zu fragen.“

      „Das ist richtig. Auch wenn niemand von uns überhaupt noch damit gerechnet hatte, aber da hat jemand in Berlin Kontakt aufgenommen. Du musst der Sache auf den Grund gehen. Ich will auf jeden Fall wissen, was da los ist. Da du die Akten kennst, weißt du auch, dass ich es meinem Vater damals versprochen habe. Und wir pflegen unsere Versprechen zu halten.“

      Giovanni wusste genau, wie jeder, der die Familie kannte, was sein Chef damit sagen wollte. Versprechen waren in diesen Kreisen höher einzuschätzen als Gesetze.

      „Ein Ehrenwort ist Gesetz. Du weißt, wie ich darüber denke.“ Giovanni nickte kurz.

      „Ich habe hier ein paar Zugangscodes, die dir alle nötigen Türen öffnen sollten. Wahrscheinlich ist die Sache ganz harmlos, aber solange wir das nicht wissen … … …“ Giovanni nahm seinem Gegenüber den Umschlag wortlos aus der Hand.

      „Guten Rückflug nach Berlin. Und halte mich auf dem Laufenden!“

      Wie auf Bestellung öffnete der Sekretär die Tür und Giovanni folgte ihm.

      Paolo öffnete seinen Schreibtisch, um weiter in den alten Briefen zu lesen.

      Es war ein Gefühl der Erlösung, das Stefan übermannte, als er seinen unbekannten Brieffreund endlich unter den Absendern entdeckte. Hastig öffnete er seine Nachricht.

      „Wissen Sie wirklich nicht, was Sie getan haben? Dann sollten Sie sich mit Herrn Steinberg treffen. Denken Sie aber darüber nach, ob Sie wirklich dazu bereit sind. Mehr darf ich Ihnen an dieser Stelle nicht verraten.

      Mit freundlichen Grüßen

      Bernd Heider“

      ‚Wunderbar’, dachte Stefan bei sich. Jetzt war er endgültig verunsichert. ,Wer war Herr Steinberg und was wollte er von ihm? Warum diese Andeutungen?‘ Stefan wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.

      Entgegen seiner Angewohnheit Briefe sofort zu beantworten, druckte er die Nachricht erst einmal aus, faltete sie fein säuberlich zusammen und steckte sie in seine Brieftasche.

      Die Auftragslage in seiner Firma war gut. Es gab viel zu tun. Und im Allgemeinen stürzte er sich in solchen Fällen in seine Arbeit. Die Wirtschaftslage in Deutschland hatte wieder einmal eine neue Talsohle erreicht, und die neuesten Veröffentlichungen darüber ließen nur wenig Spielraum für Hoffnungen.

      Er