Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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seiner Rückkehr entdeckte er, dass während seiner kurzen Abwesenheit anscheinend etwas passiert war. Die Augen des Greises waren zwar geöffnet, aber sie starrten völlig leblos ins Nichts. Im ersten Augenblick sah es so aus, als sei er tot. Erst als der Krankenpfleger dann näher kam, stellte er fest, dass sein väterlicher Freund noch atmete.

      Sofort trug er ihn in sein Zimmer und rief Dr. Mangold, den Oberarzt, der vor seiner Zeit in dieser Institution lange Jahre als Chefarzt in einer renommierten Münchner Privatklinik tätig war, und national, sowie international hohes Ansehen genoss. Dieser Mann war einfach unglaublich. Egal, mit welcher Krankheit man ihn konfrontierte, Dr. Mangold wusste immer Rat. Kein Mensch konnte sagen, wie viele Menschen ihm inzwischen ihr Leben verdankten. Wahrscheinlich bereits ein großer Teil der Bewohner dieser Einrichtung.

      Nur Heinz zeigte ihm bisher die Grenzen seines medizinischen Fachwissens auf.

      Schließlich, einen Tag, nachdem man Heinz so vorgefunden hatte, waren alle messbaren Funktionen schon auf der berühmten Nulllinie angekommen. Dr. Mangold wollte Heinz bereits für tot erklären, als ihm irgendetwas merkwürdig vorkam. Sofort nahm er ihm Blut ab und stellte fest, dass es immer noch mit Sauerstoff versorgt wurde. Er musste also davon ausgehen, dass noch Hirnaktivitäten vorhanden waren. Weder Herz noch Lunge schienen zu arbeiten.

      Trotzdem lebte etwas in Heinz weiter und niemand konnte sich erklären warum.

      Der Doktor beteuerte, dass ihm in nunmehr 38 Jahren Berufserfahrung kein ähnlicher Fall bekannt war, und forderte einen Spezialisten aus den USA an, der bereits zwei Tage später eintreffen sollte.

      Man erwartete also einen dieser Halbgötter in Weiß, so wie sie im Fernsehen immer wieder präsentiert wurden. Einen Arzt, der mit seinem Team anreisen, die komplette Anlage für sich beanspruchen und alle Ärzte und Schwestern beschäftigen würde.

      Stattdessen tauchte jedoch drei Tage später ein einzelner Rastafari auf, der nach vielen Jahren im Ausland inzwischen wieder in seiner Heimat auf Jamaika lebte und dort auch wirkte.

      Anders als bei uns, wo Ärzte ihre Macht über unser Wohlbefinden immer in weißen Kitteln zur Schau tragen, erschien dieser Mediziner im farbenfrohen Gewand, welches aus einer schwarzen Hose und einer Art buntem Umhang bestand. Sein Bart hatte eine Länge aus der man Zöpfe hätte flechten können, hing aber in einzelnen, verfilzten Strähnen bis auf die Brust, während er seine komplette Haarpracht unter einer riesigen Häkelmütze versteckte.

      Trotz seines unbestrittenen guten Rufs wusste aber auch er sich keinen Rat. Er trat damals ans Krankenbett und schlug sofort seine Hände über dem Kopf zusammen.

      Heinz lag inzwischen schon fast eine komplette Woche mit halb geöffneten Augen in seinem Bett und nahm die Welt um sich herum nicht mehr wahr. Genauso wie ein Autist.

      Der Jamaikaner, der sich allen nur als Geoffrey vorstellte, sah aus, als ob ihm der Allmächtige selbst begegnet wäre, und stieß kleine, für alle völlig unverständliche Gebete aus. Nach ca. zwei Stunden, die er im Anschluss daran allein bei Heinz am Krankenbett verbracht hatte, erklärte er, dass weder Medizin noch irgendeine andere ihm bekannte Kraft in der Lage wäre, etwas für den Patienten zu tun. Heinz befände sich irgendwo in einer Welt, die weder im Leben, so wie wir es kennen, noch im Tod, so wie wir ihn vermuten, zu finden sei.

      Er sprach noch völlig unverständliches Zeug über Voodoo und seine Vorfahren, wobei er sich keinerlei Mühe gab, sein Zittern sowie seine Hilflosigkeit vor den anderen zu verbergen. Etwas hatte Geoffrey eine Höllenangst bereitet, was man auf seiner schweißbedeckten Stirn deutlich ablesen konnte.

      Ohne die Unterzeichnung der Papiere, die für seine Honorarrechnung erforderlich waren, abzuwarten, verließ er die Anlage und fuhr mit einem Taxi direkt zum Flughafen. Der Pfleger ging zurück ans Krankenbett, sah Heinz an und fragte sich, womit dieser dem Jamaikaner einen solchen Schrecken in die Glieder hatte fahren lassen, dass er nur noch den Wunsch verspürte so schnell wie möglich auf seine Insel zurückzukehren.

      Der Alte befand sich anschließend noch über zwei Wochen in diesem Zustand, den sich kein Mensch auf der Welt erklären konnte. Dr. Mangold schaltete nach einer Woche und unzähligen Telefonaten mit Spezialisten auf der ganzen Welt alle lebenserhaltenden Geräte mit Ausnahme der künstlichen Ernährung ab. Er und auch der Pfleger sowie der Rest des Personals hatten längst schon Abschied von einem alten Freund genommen und alle warteten darauf, dass Dr. Mangold offiziell den Tod erklären würde.

      Doch dann öffnete Heinz eines Tages einfach die Augen, tat einen tiefen Seufzer, als ob ihm gerade eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen wurde, und fragte, was es zu essen gäbe. Und so geht es inzwischen schon seit vielen Jahren.

      Seinen medizinischen Befunden nach zu urteilen, müsste dieser alte Mann schon seit über 20 Jahren tot sein und niemand hatte eine Erklärung, warum er immer noch unter den Lebenden weilte.

      Wer jedoch glaubte, dass er nur noch leidend auf seinen Tod wartete, der irrte.

      Heinz wusste sehr genau, was um ihn herum passierte. Er verfolgte alle Nachrichten und informierte sich ständig über das Weltgeschehen. Selbst in Zeiten, in denen er nicht ansprechbar war, musste sein Pfleger Nachrichten wie auch wissenschaftliche Berichte für ihn sammeln oder auch aufzeichnen.

      Heinz war der wohl intelligenteste Mensch, dem der Pfleger jemals begegnet war.

      Im Laufe der vielen Jahre waren es mehrere Hundert Bücher, die er sich regelmäßig aus der Bibliothek holen ließ und die er alle las. Teilweise saß er tagelang in seinem Zimmer, las und schrieb an irgendwelchen Dokumenten, die jedoch nie ein Mensch zu sehen bekam.

      Irgendwie war es ein komisches Gefühl für den Pfleger, sich ein Leben vorzustellen, in dem er sich nicht mehr um Heinz kümmern würde. Gott allein würde wissen, wann dieser Tag käme.

      Stefans Kleidung, welche noch immer als Knäuel auf dem Boden des Badezimmers lag, war aus unerklärlichen Gründen nach 12 Stunden immer noch nicht getrocknet, weshalb er nicht in die Versuchung kam, sie ein zweites Mal anzuziehen.

      Also ab an das Bügelbrett, um wenigstens ein Hemd und eine Hose für den Tag zu bügeln. Als ordentlicher Hausmann bügelte er immer genau so viel Kleidung, wie er grad benötigte. Also jeweils ein Stück von jeder Sorte. Wenn es mal wieder besonders schnell gehen sollte, dann wurde auch schon mal ein Hemd von Hand gewaschen und anschließend mit dem Haarföhn getrocknet.

      Er frühstückte eine Tasse Kaffee sowie zwei Zigaretten und fuhr anschließend in seine kleine Firma, wo ihn bereits ein Mitarbeiter mit einer weiteren Tasse Kaffee und einem freundlichen „Guten Morgen“ empfing.

      Eine Geste, die er zwar nie von seinen Mitarbeitern verlangt hatte, aber die ihm dennoch täglich ein angenehmes Gefühl bereitete. Ein gutes Betriebsklima, das wurde ihm schon während seiner Ausbildung klar, war einfach durch nichts zu ersetzen. Wie so oft ärgerte er sich über die mehr oder weniger kleinen Sorgen, die einen Geschäftsmann plagten und sich im Allgemeinen in der täglichen Post manifestierten.

      Aber genauso freute er sich über die Annehmlichkeiten, die einem als Geschäftsmann das Gefühl von Unabhängigkeit vermitteln konnten. Schließlich konnte man als beruflich Selbstständiger bestimmte Termine, wie zum Beispiel einen Friseurbesuch auf den Vormittag legen, während sich die anderen am Nachmittag mit den dafür bereitgelegten Illustrierten die Wartezeit verkürzen mussten.

      Nur dass er viel zu selten Gebrauch davon machte. Deshalb mussten meistens der Haarföhn und die Haarbürste das ausgleichen, was ein regelmäßiger Friseurbesuch überflüssig gemacht hätte.

      Einer seiner fünf Mitarbeiter kam an diesem Tag mit einer ungewöhnlichen Bitte zu ihm. Er hatte erfahren, dass am Abend eine Sondersendung im Fernsehen angesetzt war, um für die vielen Opfer und Hinterbliebenen der Naturkatastrophe zu sammeln.

      Das Team der Mitarbeiter hatte bereits 130,00 € dafür aufgebracht und nun sollte auch der Chef seinen Teil dazu beitragen. Stefan rundete den Betrag auf 300,00 € auf, damit Frau Janke ihn am Abend, sobald die Spendentelefone geschaltet waren, unter Angabe des Firmennamens als Spende zur Verfügung stellen konnte.

      Neben der guten