Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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Zeit galt es zu nutzen. Schließlich hatte er auch eine Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern.

      Trotzdem gelang es ihm an diesem Tag nicht, sich auf seine ausreichend vorhandene Arbeit zu konzentrieren. Er musste ununterbrochen an den Brief in seiner Tasche denken. Frau Janke, eine seiner Mitarbeiterinnen, bekam wieder einmal ein paar Sonderaufgaben zugewiesen.

      Sie war inzwischen seit vier Jahren für ihn tätig und hatte sich während dieser Zeit für ihn unentbehrlich gemacht. Wie hätte er zu jener Zeit ohne ihre Mitarbeit überhaupt mit der vielen Arbeit klarkommen sollen? Diese zierliche Frau mit ihrem unscheinbaren Wesen und der völlig unmodischen, von grauen Haaren durchzogenen Kurzhaarfrisur war inzwischen die Seele des Geschäfts.

      Egal, wer vor ihr stand und wie groß sein Problem auch sein mochte. Sie lächelte aus einem fast ungeschminkten Gesicht ihr Gegenüber freundlich an, und im selben Moment gab sie jedem das Gefühl, ihr alles anvertrauen zu können.

      Auch an diesem Tag trug sie ein graues Kostüm und die rote Bluse, die ihre Kollegen ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatten. Alles in einem einwandfreien Zustand, so, als ob sie die Sachen erst am Morgen gekauft hätte.

      Mehr als einmal nahm Stefan ihre Eigenschaft, Menschen mit ihrer Freundlichkeit auf Anhieb in ihren Bann zu ziehen, in Anspruch. Man bekommt im Laufe der Jahre ein Gespür dafür, wann man selbst mit jemandem reden musste oder eine andere Person besser dafür geeignet war. Und Stefan musste sich selbst eingestehen, dass es oft Frau Janke war, die Menschen mit ihrer inneren Ruhe besser überzeugen konnte als er.

      Sie war damals auch die erste Person, der er das Manuskript seines ersten Buchs zu lesen gab. Damals noch nicht lektoriert und mit allen von ihm dekorativ angerichteten Rechtschreibfehlern. Was würde er wohl tun, wenn sie eines Tages in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen würde. Sie war inzwischen 61 Jahre alt und er wusste, dass dieser Tag immer näher rückte.

      Auch zu jener Zeit konnte er sich wie immer auf ihren Fleiß verlassen. Mehrmals fasste er sich an seine Brusttasche und überlegte, ob er ihr den Brief zeigen sollte. Jedoch tat er es an diesem Tag nicht. Der Brief und sein Absender würden bis zum Abend warten müssen.

      Um 17.00 Uhr verabschiedete sich Frau Janke, und auch Stefan hatte seine Arbeit für diesen Tag irgendwie hinter sich gebracht. Also beschloss er, Feierabend zu machen. Er stieg in sein Auto, fuhr auf dem Heimweg noch an einem Imbissstand vorbei, wo er eine Currywurst mit Pommes frites hastig in sich hineinstopfte. Sofort nach dem Eintreffen in seiner Wohnung schaltete er seinen Computer ein.

      Dann zog er den ausgedruckten Brief aus seiner Tasche, legte ihn neben seine Tastatur und erging sich in den verschiedensten Spekulationen.

      „Wer war wohl Herr Steinberg und wer dieser Bernd Heider.“

      Er kam zu dem Entschluss, dass es sich um jemanden handeln musste, der sich in irgendeiner Form von ihm angegriffen fühlte. Wahrscheinlich war einer der beiden der vermeintlich Angegriffene selbst und der andere sein Anwalt.

      Sollte es etwas mit seinem Buch zu tun haben, dann konnte er sich beim besten Willen niemanden vorstellen, den er mit seiner Geschichte verletzt haben könnte. Die einzigen realen Personen, die in seiner Geschichte von damals auftauchten, waren Dr. Birnbaum und Klaus.

      Bei Doktor Birnbaum handelte es sich dem Charakter nach um Dr. Winfried Teichmann, einem Vorstandsmitglied des Konzerns, dessen Produkte er seit Jahren verkaufte, und der Stefan laut seinem Roman damals in das Projekt eingeführt hatte. Allerdings konnte Stefan davon ausgehen, dass Winfried Teichmann seinen Roman nicht kannte, weil dieser bereits über ein Jahr vor dem Erscheinen des Buches nach Italien versetzt worden war, um dort eine Niederlassung des Konzerns zu leiten.

      Stefans Freund Klaus gab ihm seine ausdrückliche Zustimmung und erklärte damals: „Klasse, wenn du jetzt Schriftsteller wirst, dann kann ich ja deine Kunden mit übernehmen.“ Dabei lachte er schelmisch.

      Sie malten sich im Scherz die tollsten Dinge aus.

      Nach dem Buch sollte zunächst erst einmal ein Film dazu erscheinen. Selbstverständlich dürfte kein geringerer als Steven Spielberg oder Roland Emmerich Regie führen. Anschließend würden natürlich diverse Merchandising-Produkte den gesamten Weltmarkt überschwemmen. Und zu guter Letzt würde man Disneyworld abreißen und an seiner Stelle einen Themenpark zu Stefans Buch errichten.

      Sie lachten damals, während sie sich diesen ganzen Blödsinn ausdachten, laut los und bestellten sich noch ein paar weitere Drinks.

      Es war einer dieser Tage, an denen sie sich den Luxus gönnten, gemeinsam zu Mittag zu essen. Aus diesem Anlass traf man sich wechselseitig einmal in einem von Klaus bevorzugten Restaurant und beim nächsten Mal in einem, das Stefan aussuchte.

      Sie hatten den ganzen Nachmittag zusammengesessen und darüber fast die Zeit vergessen.

      Frau Janke erklärte sich bereit, zum Feierabend die Computer herunterzufahren, und so konnte sich Stefan den ganzen Nachmittag über freinehmen. Klaus, der ohnehin eher der berufliche Einzelkämpfer war, hatte sämtliche Routinearbeiten an drei freischaffende Mitarbeiter delegiert und sein Büro bereits vor Jahren im Keller seines Hauses eingerichtet.

      Klaus, – sein großer dicker Freund –, wie Stefan ihn oft nannte, hatte wie immer ausgiebig gespeist, und so konnten sie sich bis in die Abendstunden ungestört den verschiedensten geistigen Getränken widmen. Leid tat Stefan an diesem Abend nur der Taxifahrer, der zunächst Klaus und dann ihn zu Hause absetzte.

      Klaus hatte genau das richtige Pensum an Alkohol konsumiert, um in Sangeslaune zu sein. Während Stefan die eigenwilligen Interpretationen der verschiedensten Musicals bereits kannte, wurde der arme Taxifahrer mit ein paar kulturellen Leckerbissen bombardiert, die er sicherlich noch tagelang in den Ohren hatte.

      Stefan dachte immer wieder mit Freuden an die gemeinsamen Abende mit Klaus zurück, an denen sie sich stundenlang ernsthaften Themen widmeten und im nächsten Augenblick bereits dabei waren, sich in den verschiedensten Facetten des Humors zu verlieren. Oftmals reichte bereits eine einzelne Randbemerkung oder eine kleine Geste, um diesen Stimmungswechsel herbeizuführen.

      Doch mit wem hatte Stefan es diesmal zu tun?

      Eben noch an Klaus denkend, galt sein Interesse schlagartig wieder der Anwalt/Mandantentheorie.

      Nur so ergab es einen Sinn, dass er es offensichtlich mit zwei Personen zu tun hatte. Doch wer war nun wer von den beiden? Wahrscheinlich würde er die Antwort auf diese Frage, wie so oft, auch diesmal im Internet finden.

      Zu einer früheren Zeit gaben Menschen Unmengen an Geld dafür aus, um sich innerhalb mehrerer Jahre eine Lexikothek auf Abzahlung zuzulegen. Inzwischen nutzte kaum noch ein Mensch Lexika, es sei denn, er besaß keinen Internetzugang.

      Die Informationen, die man dort erhalten konnte, waren im Allgemeinen wesentlich aktueller und mindestens genauso schnell verfügbar. Selbst das Lesen der Tageszeitung war inzwischen via Internet möglich. Online Radio hören und auch fernsehen. Firmenadressen, Telefonbücher. Egal, was jemand suchte, das Internet hielt die meisten Antworten für uns bereit.

      Also gab Stefan beide Namen in eine Suchmaschine ein. Er begann mit dem Namen Steinberg und drückte im Anschluss die Eingabetaste.

      Sofort füllte sich eine Suchergebnisseite und kündete mit ihren Links (so nennen Internetbenutzer ein Feld, welches sie mit der Maus anklicken, um weitere Seiten zu erreichen) 14 weitere Seiten als Auswahl an.

      „Zeit, mir eine Zigarette anzuzünden“, befand er und machte sich umgehend an die Arbeit jede angebotene Seite zu durchsuchen.

      Nebenher verkündete der Lautsprecher eines kleinen Radios in einer Ecke des Raumes die neuesten Zahlen über die Ausmaße der Katastrophe im Indischen Ozean. Nach jedem Musikstück wurden verschiedene Kontonummern genannt, auf die man eine Spende einzahlen konnte. Doch darum hatten sich die Mitarbeiter seiner Firma bereits tagsüber gekümmert.

      Frau Janke saß inzwischen mit Gewissheit bei sich zu Hause vor dem Fernseher, um mit den zusammengetragenen 300,00 € eine gute Tat zu vollbringen.

      Auf Stefans Bildschirm war der Name Steinberg jeweils