Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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Dienstbeginn hatte er noch fast 45 Minuten für sich ganz alleine.

      Als Geschäftsführer legte er den größten Wert darauf, morgens als Erster zu kommen und abends als Letzter zu gehen. Seine täglichen Geschäftsberichte hatte er wie üblich bereits am Vorabend zur Zentrale geschickt.

      Als Spezialist für Reisen in die südlichen Regionen der Erde fing die Saison in diesem Jahr ungewöhnlich früh an.

      Der Sommer in Mitteleuropa war kühl, weshalb viele Leute ihren verdienten Jahresurlaub erst im Herbst antraten.

      Teilweise arbeitete Giovanni bis in die späten Abendstunden. Zu Hause wartete niemand auf ihn, weshalb er vor einem Jahr beschloss, sein Geschäft künftig bis 20.00 Uhr geöffnet zu halten. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte 8.45 Uhr.

      Seine beiden Mitarbeiterinnen Frau Hellwich und Frau Waldmann erwartete er erst gegen 9.30 Uhr.

      Dann wäre es mit der Ruhe erstmal vorbei, und er würde wieder den kompletten Tratsch der beiden über sich ergehen lassen müssen. Sie würden wieder über ihre Männer und ihre Kinder reden. Die Nachbarn sowie die Schwiegereltern. Giovanni hasste es, wenn Menschen in seiner Gegenwart über ihre Verwandtschaft herzogen.

      Wäre es nach ihm gegangen, so würden im Betrieb ausschließlich Männer arbeiten. Aber dies lag nicht in seinem Entscheidungsbereich.

      Als sein Vorgänger, der alte Herr Schönemann, den Betrieb vor nunmehr drei Jahren aufgab, wurde dieser von Giovannis Firma übernommen und er selbst in diese Stellung gehoben. Es war die einzige Zweigniederlassung in Berlin.

      Weitere deutsche Filialen existierten in München, Hamburg, Frankfurt und Dresden, die jedoch alle mit Geschäftsführern deutscher Abstammung besetzt wurden. Nur in Berlin wollte man jemanden aus dem Stammhaus haben. Jemanden, dem die Geschäftsleitung in jeder Hinsicht vertrauen konnte.

      Für seine Arbeitgeber war er der perfekte Mann für diese Position. Schließlich hatte er als Einziger in der Firma als Kind eine deutsche Schule in Italien besucht und das Geschäft des Reisekaufmanns von der Pike auf gelernt.

      War das wirklich schon 25 Jahre her? Damals gab es mehr als 50 Bewerber um die ausgeschriebene Ausbildungsstelle. Dass man seinerzeit ausgerechnet ihn, einen Jungen, der gerade eine Jugendstrafe wegen Autodiebstahl abgesessen hatte, auswählte, überraschte nicht nur ihn. Aber so war diese Firma nun mal. Das komplette Firmenkonzept basierte auf dem Wissen und den Erfahrungen einer einzigen Familie, und wurde seit mehreren Generationen immer wieder vererbt. Es gab in der ganzen Geschäftsleitung keine Manager, die eine Universität besucht hatten oder sich mit Diplomen schmücken konnten.

      Drei Jahre nach der Ausbildung wurde Giovanni von der Firma fest übernommen, und seitdem gehörte ihr seine ganze Loyalität.

      Inzwischen war es ihm nur noch einmal im Jahr vergönnt, seine Familie zu Hause zu besuchen, aber das war ihm so ziemlich egal. Er gehörte schon lange nicht mehr dazu. Mit seinem durch Krafttraining gestählten Köper und seiner kriminellen Vergangenheit war er zum Außenseiter seiner eigenen Familie geworden.

      Die Menschen in der Firma, die ihm damals eine Chance gegeben hatten, bildeten seitdem den einzigen Halt, den das Leben für ihn bereithielt.

      So saß er, in eine Tageszeitung vertieft, im teuren maßgeschneiderten Anzug wieder einmal am Schreibtisch und wartete auf seinen ersten Kunden, als ihn das Telefon unsanft aus seinen Gedanken riss.

      „Reisebüro Südseeträume! Mein Name ist Giovanni. Was kann ich für Sie tun?“

      Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung meldete sich nicht namentlich, sondern kam direkt zur Sache.

      „Es gibt Neuigkeiten aus Berlin, die in dein Ressort fallen. Es geht um die alte Domenico-Sache. Du weißt, was zu tun ist.“

      Giovanni kannte diese Stimme nur zu gut und wusste genau, was eine so klare Anweisung bedeutete. Er hatte damals alles über die Angelegenheit eingehend studiert. Auch wenn er nie verstanden hatte, warum man der Sache so viel Bedeutung beimaß, wusste er genau, dass er sofort handeln musste.

      Das Ganze lag inzwischen so viele Jahre zurück, dass kaum noch jemand existierte, der damals dafür zuständig war.

      Trotzdem kam der Seniorchef persönlich am Abend vor Giovannis Abreise nach Berlin in die Hauptzentrale, um ihn noch einmal darauf hinzuweisen, wie sehr ihm die Angelegenheit am Herzen lag.

      „Ich kümmere mich um die Sache“, war das Einzige, was er erwidern konnte, bevor der andere wortlos auflegte.

      Heinz saß wie an jedem Morgen aufrecht in seinem Bett und sah sich die ersten Nachrichten des Tages an.

      Zu jener Zeit war der Fernseher 24 Stunden am Tag eingeschaltet. Die Berichte über die wohl größte Naturkatastrophe seit Menschengedenken bewegten den alten Mann. Inzwischen hatte er das stolze Alter von 86 Jahren erreicht, was ihn aber nicht daran hinderte, sich täglich über die Welt, die da draußen schon lange ohne ihn existierte, zu informieren.

      Sein Pfleger hatte ihm vor 15 Minuten seinen Saft sowie ein paar wie immer ungenießbare Brote gebracht und wieder entsetzt den Kopf geschüttelt, weil er genau wusste, dass sein Schutzbefohlener wieder mal zu wenig Schlaf bekommen hatte. Erst am Abend zuvor hatte ihn der alte Mann gemaßregelt, weil er das Gerät abschalten wollte.

      Ihm blieb nichts anderes übrig, als Heinz mit dem Fernseher alleine zu lassen.

      Die Nachrichtensendungen im Fernsehen waren das Einzige, was Heinz nie versäumte. Weder Spielfilme noch die vielen anderen Sendungen, die gezeigt wurden, interessierten ihn noch.

      In den letzen 35 Jahren, die er an diesem Ort verbracht hatte, gab es nur seine Bücher, den Fernseher, seinen Pfleger, der inzwischen wie ein Sohn für ihn war, und ihn.

      Als dieser Pfleger 1982 hier eigentlich nur seinen Zivildienst ableisten wollte, lebte Heinz dort schon. Eine ältere Pflegerin, die inzwischen ihren Ruhestand genoss, berichtete ihm, dass er sich bereits seit Ende der 70er in einem ähnlichen Zustand befunden hatte wie heute. Er wurde eines Nachts dorthin gebracht und anfangs durften nur die Ärzte zu dem alten Mann. Damals sollten nur die Eigentümer der Residenz selbst ihn besucht haben. Jedoch bekamen sie auch zu der Zeit niemand vom Personal zu sehen.

      Anscheinend gab es ein Geheimnis, das mit Ausnahme von Heinz nur die Besitzer kannten und das wohl niemals ein Außenstehender erfahren würde.

      ‚Aber was soll’s?’, dachte sich der Pfleger. Solange die Menschen hier gut versorgt wurden, sollte es ihm völlig egal sein, wer dahinter steckte.

      Er selbst war ausschließlich für Heinz und dessen Wohlergehen zuständig.

      Seit einem Schlaganfall, den Heinz 1977, also fünf Jahre, nachdem er hergekommen war, erlitten hatte, fragten sich alle Ärzte, die ihn jemals behandelten, wie es möglich war, dass dieser Mann überhaupt noch lebte. Der Pfleger hatte inzwischen mehrfach erlebt, dass die Ärzte alle lebenserhaltenden Maßnahmen einstellten, um ihn in Ruhe sterben zu lassen. Doch selbst unter diesen Bedingungen konnte er das Leben einfach noch nicht loslassen.

      Heinz erzählte ihm irgendwann einmal, dass er noch nicht gehen könne. Es gäbe da etwas, das er unbedingt noch erledigen müsse.

      Damals fragte sich der Pfleger, was ein alter gebrechlicher Mann wie Heinz noch tun wollte. Warum konnte er nicht einfach einschlafen und seine Ruhe finden?

      Erst vor ein paar Monaten war es wieder einmal so weit gewesen. Er hatte Heinz wie jeden Abend zu Bett gebracht. Heinz schien bereits den ganzen Tag über in einer Art von Tagtraum zu leben, aus dem ihn niemand erwecken konnte. Nichts, was man zu ihm sagte, schien zu ihm durchzudringen.

      Der Pfleger musste diesen schwachen alten Körper damals quer durch die halbe Anlage bis in sein Zimmer tragen.

      Sie hatten gemeinsam den ganzen Nachmittag im Garten verbracht und die Frühlingsluft genossen. Es gab da eine Stelle im Garten, die der Alte besonders mochte, und wo er, wie er selbst sagte, am besten nachdenken könne. Sie lag etwas abseits der Wege, wo nur selten jemand vorbeikam. Mehrmals pro Woche setzte man ihn in einen Rollstuhl