Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


Скачать книгу

sie ihrem Mann zu.

      Nach einem kurzen Wortwechsel, in dem sie dem Anrufer versicherte, dass Gerhard ihn gleich nach dem Essen zurückrufen würde, beendete sie das Gespräch und widmete sich wieder ihrer Familie.

      Gerhard war ein Freund von Klaus, der ihn und Stefan vor einigen Jahren anlässlich einer kleinen Firmenparty, die er damals veranstaltet hatte, miteinander bekannt machte.

      Stefan wusste nicht besonders viel über Gerhard. Er war der Anwalt, dem Klaus sein Vertrauen schenkte, und gegen den sich Stefan bei einem weiteren Treffen nur mit Mühe im Billard zur Wehr setzen konnte. Er erledigte noch zwei Mahnsachen für Stefan und war die Adresse, an die auch er inzwischen sämtliche Strafmandate schickte, die er im Laufe der Zeit erhielt.

      Drei Stunden und, aus Stefans Sicht, genau vier verlorene Billardpartien später stand er mit Gerhard am grünen Tisch und baute gerade wieder die Kugeln für die nächste Runde auf.

      „Der Verlierer muss die Kugeln neu aufbauen, vorher aber noch die nächsten Drinks bestellen“, waren die letzten Worte von Gerhard. Dass er dabei schelmisch grinste, ärgerte Stefan etwas, aber das würde er sich niemals anmerken lassen.

      Gerhard hatte sich an diesem Abend nach dem Essen im Kreise seiner Familie sofort bereit erklärt, sich mit Stefan auf ein paar Spielchen zu treffen. Zwar hatte ihn Stefan bereits am Telefon vorgewarnt, dass er bei dieser Gelegenheit auch gern Gerhards Meinung zu einem Rechtsthema hören wollte, aber das machte ihm überhaupt nichts aus. Schließlich war Stefan bei dieser Begegnung ein willkommenes Opfer am Billardtisch, und das sollte für den Queue schwenkenden Juristen Lohn genug sein.

      Gerhard war wesentlich kleiner und auch schlanker als ihr gemeinsamer Freund Klaus. Anwalt wurde er auf dem zweiten Bildungsweg, was wahrscheinlich zur Wirkung hatte, dass er als Jurist nie seine gesellschaftliche Bodenständigkeit aufgegeben hatte. Seine Oberlippe zierte ein kleiner Schnauzbart, den alle als optimale Ergänzung zu seiner schwarzen, immer perfekt gestylten Haarpracht empfanden. Rein optisch war Gerhard der Inbegriff eines Südländers, was ihm, im Gegensatz zu Stefan und natürlich auch zu Klaus, erhebliche Pluspunkte in der Gunst der Damenwelt einbrachte.

      Selbst die damals noch neue Bedienung seines italienischen Stammlokals soll ihn, bei seinem ersten Besuch, für einen Landsmann gehalten und ihn in der vermeintlich gemeinsamen Landessprache angesprochen haben.

      Gerhard nutzte diesen Umstand nur zu gern schamlos aus, wenn er wieder einmal mit Freunden und ohne Ehefrau am Arm unterwegs war. Seine Wortgewandtheit beim Flirten verfehlte nie ihr Ziel. Er machte sich einen Spaß daraus, die Auserwählte erst im letzten Moment mit Bildern von Frau und Kind zu schockieren.

      Während die beiden an diesem Abend auf die vom Verlierer bestellten Getränke warteten, fragte Gerhard, was er denn juristisch für seinen Gegenspieler tun könnte. Es war gerade eine günstige Zeit, kurz über Stefans Anliegen zu sprechen, denn das Lokal hatte sich inzwischen gut gefüllt, was mit einer verlängerten Wartezeit einherging. Schließlich vertrat Gerhard die Auffassung, dass sie ohne die, wie er es nannte, Beute aus Stefans letzter Niederlage unmöglich das nächste Spiel beginnen könnten.

      Also erzählte Stefan ihm von den E-Mails und seinem Verdacht, dass ein Anwalt dahinter stecken könnte. Jetzt war Gerhard in seinem zweiten Element, welches er neben dem Billardspiel über alles liebte.

      Er war zwar mit Leib und Seele Jurist, aber da er zuvor als Polizist gearbeitet hatte, betrieb er zugleich leidenschaftlich gern Recherchen jeglicher Art. Schließlich hatte er früher als Polizeibeamter eine Karriere als Ermittler bei der Kriminalpolizei angestrebt, bis er eines Tages mit ansehen musste, dass Recht zu haben und Recht zu bekommen in Deutschland nicht immer dieselbe Bedeutung hat. So musste er als Zeuge einer Gerichtsverhandlung beiwohnen, in deren Verlauf ein eindeutig Schuldiger wegen eines Formfehlers, den er selbst bei der Verhaftung begangen hatte, ohne Bestrafung die heiligen Hallen von Justitia verlassen durfte.

      Nur zwei Wochen später wurde derselbe Mann wegen Totschlags an drei Menschen verhaftet, wobei er unter Drogeneinfluss zwei Polizisten so schwer verletzte, dass einer der beiden noch in derselben Nacht verstarb, und der zweite, ein persönlicher Freund und Kollege von Gerhard, seit diesem Tag im Rollstuhl saß.

      Seitdem versuchte Gerhard auf seine Art der blinden Justitia wenigstens zeitweilig das Sehen zu ermöglichen.

      Kurz vor Mitternacht saßen die beiden immer noch mit leeren Gläsern vor sich am Tisch. Die beiden Namen, die Stefan dem Anwalt nannte, so erklärte Gerhard, seien ihm zwar noch nicht beruflich untergekommen, aber das habe absolut nichts zu bedeuten. Schließlich wusste man nicht einmal, ob es sich um einen in Berlin zugelassenen Juristen handelte. Er warf noch mit ein paar lateinischen Redewendungen um sich, um keinerlei Zweifel an seiner Reputation als Anwalt und Detektiv aufkommen zu lassen.

      So ziemlich der einzige lateinische Begriff, den Stefan damals kannte, war die scherzhaft gemeinte Abstammung des Wortes „EHE“. Errare humanum est. Was so viel bedeutet wie „irren ist menschlich“.

      Zwar brachte ihm das auf Partys einige Lacher ein, aber an diesem Abend hatte er ganz andere Sorgen.

      „Hast du es schon mal im Internet versucht?“, fragte Gerhard. „Dort findet man häufig Namen, Daten und Fakten viel schneller als in unseren Bibliotheken.“

      Stefan unterrichtete ihn von seinen erfolglosen Versuchen, die er bereits auf diesem Gebiet unternommen hatte und fragte bei dieser Gelegenheit, wie er sich in der bevorstehenden Angelegenheit am besten verhalten sollte.

      „Auf keinen Fall solltest du zu viel von dir selbst preisgeben und auch keine unnötigen Fragen stellen, die man später gegen dich verwenden könnte.“

      Einem Treffen mit Steinberg stünde zunächst einmal nichts im Wege, wenn er sich an ein paar Spielregeln hielte, welche ihm Gerhard alle mit auf den Weg gab. Es war in gewisser Hinsicht ein Kurzseminar für Kriminelle, ohne dass sich Stefan einer Schuld bewusst war.

      Über ihrem Gespräch hatten die beiden inzwischen das Billardspiel völlig vergessen und saßen an einem kleinen runden Tisch neben dem immer noch beleuchteten grünen Tuch mit den 16 bunten Kugeln, die danach verlangten, endlich wieder bewegt zu werden.

      Anders als Klaus gehörte auch Gerhard, genau wie Stefan, zur aussterbenden Rasse der Raucher, sodass ihm dessen Zigarettenkonsum an diesem Abend nichts ausmachte. Er selbst durfte zu Hause zwar nicht rauchen, nutzte aber jede sich bietende Gelegenheit dazu, bei der seine Frau nicht anwesend war.

      Sie sprachen noch viel über ihren gemeinsamen Freund Klaus und seine liebenswerten schrägen Eigenarten, bevor sie um 2.00 Uhr morgens zusammen das Lokal verließen.

      Stefan wusste nun was er zu tun hatte, und bereits am nächsten Tag wollte er alle dazu nötigen Schritte unternehmen.

      Den folgenden Tag über schloss Stefan sich in seinem Büro ein und versuchte die vielen Erkenntnisse und Hinweise des Vortages zu ordnen und diese stichpunktartig festzuhalten. Wie immer benutzte er dazu einen Computer und sicherte die so entstandenen Notizen anschließend auf seinem Memorystick, um sie jederzeit und an jedem anderen Rechner zur Verfügung zu haben.

      Neben seiner anderen Arbeit, die er ebenfalls zum großen Teil an der Computertastatur erledigen konnte, hielt er den ganzen Tag über eine Textdatei offen, in der er alle Dinge notierte, die ihm für das bevorstehende Treffen mit Herrn Steinberg wichtig erschienen. Zum Feierabend nahm er seinen Memorystick mit nach Hause und druckte dort die so entstandene Liste von Stichpunkten aus.

      Gerhards viele Warnungen waren unmissverständlich. Er durfte sich auf keinen Fall auf irgendeine Art von Diskussionen einlassen. Die Anweisungen, die ihm Gerhard mit auf den Weg gegeben hatte, betrafen nicht nur das Gespräch, welches er mit dem ihm noch unbekannten Steinberg führen würde, sondern bereits Inhalt und Stil der dazu erforderlichen schriftlichen Verabredung.

      So saß er also wieder einmal an seinem Computer und verfasste eine dritte E-Mail an Bernd Heider. – War er nun der Anwalt oder der Mandant? – Selbst nach der von ihm gemachten Erfahrung, ein komplettes Buch zu schreiben, übermannte ihn eine Unsicherheit, wie er sie seit den schriftlichen Aufgaben seiner Schulzeit nicht mehr kannte.

      Ein