Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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einem milden Rotwein zur Abrundung eines Gourmetabends, werde dort den Gästen alles geboten, was die internationale Küche hergebe. In einer Woche könne man dort eine kleine gedankliche Rundreise an die schönsten Urlaubsorte der Welt unternehmen, fügte Heider stolz hinzu.

      Auf die Frage, wie viele Bewohner es in der Anlage gäbe, erfuhr Stefan, dass es insgesamt 1.442 Betten gab, von denen zurzeit ca. 1.350 belegt waren.

      Dazu kämen noch 420 Privatwohnungen für das medizinische und sonstige Personal.

      Herr Heider versorgte Stefan mit einigem Hintergrundwissen zur Anlage, ohne jedoch auf den alten Mann zu sprechen zu kommen. „Viele Leute reißen sich heutzutage das Erbe ihrer Eltern oder Großeltern unter den Nagel und schieben diese dann in Einrichtungen wie diese ab. Viel zu selten kommt es dabei vor, dass jemand in der Lage ist, seinen Anverwandten wenigstens den Luxus zu ermöglichen, den er selbst eines Tages genießen möchte. Ob Sie es glauben oder nicht, aber nur ca. 40 % der hier lebenden alten Menschen verfügen über gut situierte Angehörige. Die sind naturgemäß viel zu geizig für Einrichtungen wie diese. Bei den restlichen 60 % der Leute, die hier untergebracht sind, sparen sich die Familien die monatlichen Kosten hierfür buchstäblich vom Munde ab, nur um sich ihrer Alten zu entledigen. Einen nicht unerheblichen finanziellen Anteil steuern die Initiatoren und Eigentümer der Anlage selbst bei. Alles, was Sie hier sehen, wurde aus privaten Mitteln finanziert.“

      Heider rührte, während er dies erzählte, die ganze Zeit mit abwesendem Blick in seinem Kaffee herum, ohne auch nur einen einzigen Schluck davon zu trinken.

      Stefan machte diese Ansprache in dem Moment sehr betroffen, und er schwor sich, noch am selben Abend seine Mutter anzurufen. Er wollte nur kurz Hallo sagen und ihre Stimme hören. Sie einfach wissen lassen, dass er an sie dachte, und sich bei dieser Gelegenheit auch nach ihrem Befinden erkundigen.

      „Zu welcher Gruppe gehört die Familie von Herrn Steinberg?“, fragte Stefan, ohne zu zögern.

      „Zu keiner der beiden“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Herr Steinberg hat keine Familie, die sich um ihn kümmern könnte. Er war nie verheiratet und infolge dessen hat er auch keine Kinder. Es gab, soweit ich weiß, in sehr frühen Jahren nur einmal eine Frau, die er sehr liebte. Aber die wurde zu einem der vielen Opfer, die der Zweite Weltkrieg gefordert hat. Er spricht nicht gerne über sie.

      Eines Tages jedoch, wir glaubten wieder einmal, dass sein langes Leiden ein Ende finden würde, tat er es doch und vertraute sich mir an. Sie hieß Annelie und war jüdischer Abstammung. Damals übermannte ihn sein schlechtes Gewissen, weil er nicht in der Lage war zu verhindern, was zu jener Zeit nicht zu verhindern war. Während er für die bösartigsten Mächte, die jemals unser Land regierten, als Sanitäter irgendwo in Italien täglich um sein eigenes Leben fürchten und andere Leben retten musste, wurden sie ihrer habhaft. Sie versteckte sich seit seiner Einberufung damals in der Wohnung seiner Mutter, deren Mann, also der Vater von Heinz, bereits im Ersten Weltkrieg als Flieger über der Nordsee abgeschossen wurde. Annelie und die Mutter sollen sich sehr nahegestanden haben. Also versuchte diese alles, um die zukünftige Schwiegertochter zu schützen. Bis irgendein wahnsinniger SS-Offizier einen Grund dafür fand, sie gemeinsam mit Annelie nach Majdanek in Polen zu verfrachten, wo beide die verheerenden Massenvernichtungsanlagen dieses Konzentrations- und Arbeitslagers nicht überlebten.“ Nach diesem kurzen Einblick in Steinbergs Vergangenheit versuchte Stefan einen weiteren Anlauf. „Wer finanziert dann Herrn Steinbergs Anwesenheit hier?“ Heider lächelte durch einen schmalen Schlitz seines Mundes, wobei man seine strahlend weißen Zähne bewundern konnte. „Niemand! Gerüchten zufolge soll er selbst einst die Wege für diese Residenz geebnet haben. Inwiefern dies tatsächlich der Wahrheit entspricht, habe ich nie herausgefunden. Die Leitung der Seniorenresidenz obliegt seit Anfang an einer freundlichen, inzwischen älteren Dame. Die eigentlichen Eigentümer sollen, wie gesagt, in Italien zu Hause sein. Ich habe meines Wissens jedoch nie einen von denen hier gesehen. Und wenn Sie mich fragen, dann hat auch niemand der Führungsebene hier in Berlin diese Leute je zu Gesicht bekommen.

      Es wird gemunkelt, dass nur Heinz wüsste, wer dahinter steckt, aber niemand, mich eingeschlossen, würde ihn jemals danach fragen.“

      „Wie lange lebt er selbst schon hier?“, wollte Stefan wissen.

      „Seit 1972 soll er bereits in der Anlage wohnen.“

      Heider erzählte davon, dass der alte Steinberg der Medizin immer wieder neue Rätsel aufgäbe und es ihm einfach nicht vergönnt wäre seinen Frieden zu finden.

      „Heute jedoch war etwas anders als in all den Jahren, in denen ich ihn jetzt schon betreue“, erklärte er.

      „Es ist das erste Mal, dass ich glaube, etwas wie einen Hoffnungsschimmer in seinen Augen gesehen zu haben. Etwas, das bisher immer fehlte. Auch in den Zeiten, in denen es scheinbar wieder mit ihm zu Ende ging.“

      Heiders Stimme wurde immer leiser, während er von Steinbergs endlosem Kampf zwischen Leben und Tod berichtete. Stefan konnte an seinem Kehlkopf ablesen, mit welchen tiefen Gefühlen die Worte über seine Lippen kamen.

      Auch wenn Heider versuchte, es zu verbergen, erkannte Stefan, dass er den Tränen nahe war.

      Er erfuhr noch, dass Heider hier ursprünglich nicht mehr als seinen Zivildienst ableisten wollte, und nur die Verbundenheit zu Steinberg ihn damals hier hielt. Seitdem war die Pflege von Steinberg oder Heinz, wie er ihn inzwischen nannte, seine einzige Aufgabe, die er bis zu dessen letzter Minute erfüllen wollte. Und mit welcher Hingabe er sich dem Wohl dieses Menschen widmete, das konnte man in seinen Augen deutlich lesen.

      Bevor sich Stefan an jenem Tag von Heider verabschiedete, musste er ihm noch versprechen, den alten Mann wieder zu besuchen. Stefan gab ihm seine Handynummer und sagte, er solle ihn am nächsten Tag anrufen, damit sie einen Termin dafür vereinbaren könnten.

      Noch völlig benommen von diesem Besuch verließ Stefan die Residenz und machte sich auf den Weg zum Eingangstor, wo eine hilfsbereite Dame Stefans Chipkarte in ein Lesegerät schob, das den Ausgang freigab. Dann fuhr er nach Hause.

      Die morgendliche Begegnung mit Heinz Steinberg beschäftigte Stefan noch den kompletten Tag und auch die anschließende Nacht hindurch.

      Gegen ca. 15.00 Uhr rief Gerhard an und fragte, ob er ihn in die Liste seiner Mandanten aufnehmen und auf welchen Streitwert er sich einrichten solle. Doch wie Stefan inzwischen herausgefunden hatte, hatte niemand vor, ihn zu verklagen. Wenn er Gerhards Hilfe benötigte, dann allenfalls um ein paar Strafzettel für ihn zu regeln.

      Stefan fasste sich am Telefon kurz, teilte Gerhard mit, dass sie auf der völlig falschen Fährte gewesen waren und er ihm irgendwann, wenn er wüsste, woran er wäre, die ganze Geschichte in Ruhe erklären würde.

      Selbstverständlich würde er sich bis dahin einen eigenen Billardqueue zulegen und intensiv trainieren.

      Unentwegt fragte er sich, wer dieser Heinz Steinberg war. Warum wollte er ausgerechnet ihn sehen? Und was hielt diese arme Seele in unserer Welt gefangen, das ihn so lange hinderte, endlich seinen weltlichen Frieden zu finden.

      Die E-Mails von Heider trafen alle an der elektronischen Adresse ein, die Stefan ausschließlich für sein Buch und für seine Leser eingerichtet hatte. Bestand ein Zusammenhang zu diesem Buch, den er nur nicht erkannte?

      Er entschied sich dafür etwas zu tun, das jedem normalerweise völlig unsinnig erschienen wäre, aber von dem er sich trotzdem so etwas wie eine Erleuchtung erhoffte. Eine Erkenntnis, die ihm bis dahin verborgen geblieben war.

      Er klappte sein Laptop auf und begann sein eigenes Buch zu lesen.

      Was hatte er damals geschrieben, das ihn in eine solche Situation brachte? Warum wollte ihn dieser alte Mann unbedingt sehen?

      Obwohl niemand sein Buch besser kannte als er selbst, begann er es Zeile für Zeile noch einmal durchzugehen. So absurd es auch schien, versuchte er seine eigene Geschichte zu verstehen. Es ging dabei um seine esoterischen Ansichten, die sich wie ein roter Faden durch eine fiktive Geschichte ziehen sollten. Ein ganz normaler Roman, von einem ganz normalen Menschen geschrieben.

      Eigentlich