Stefan Heidenreich

Libri Cogitati


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hätte.

      Es war schon merkwürdig, wie sich Menschen im Laufe eines Lebens entwickelten. Er selbst entwickelte seine Interessen von der Logik immer weiter weg zu den esoterischen und paranormalen Phänomenen.

      Wie die meisten von uns versuchte er schon als Kind die Welt verstehen zu lernen.

      Mechanische Logik, physikalische Grundgesetze und erklärbare mathematische Zusammenhänge waren für ihn alles, was das Leben ausmachte.

      Alles, was man zusammenbauen, auseinandernehmen und verstehen konnte, übte auf ihn eine unglaubliche Faszination aus. Zum Leidwesen seiner Eltern wollte er viele Sachen einfach ganz genau wissen. Er zerlegte Plattenspieler oder Radiogeräte, um herauszufinden, wie diese funktionierten. Alles, was Menschen entwickelten und zusammenbauten, konnte man auch wieder auseinandernehmen und feststellen, wie alles zusammenspielte.

      Als Autor seiner Geschichte war er an diesem Abend allen anderen ein kleines Stück voraus. Er wusste, welche Stellen er lesen musste und welche er einfach überspringen konnte. Schon sehr früh wurde ihm klar, dass es nicht besonders viele Leser gab, die in der Lage sein würden, dem roten Faden der Esoterik, den er in seine Story eingewebt hatte, zu folgen.

      Anders als in der legendären Fernsehserie „Raumpatrouille“ rund um das Raumschiff Orion, bei der sich die außerirdischen Bösewichte sogenannter Telenose-Strahlen bedienten, baute seine Geschichte auf einer erweiterten Form der Logik auf.

      Wenn unsere Welt tatsächlich nur aus einer Form der Illusion bestünde, dann gäbe es zwangsläufig, wie bei jeder Illusion, bestimmte Punkte, die für alle Menschen gleich wären. Unsere modernen Magier sowie auch die des alten Ägyptens machten sich diese Punkte immer wieder zunutze. Wenn sich alle im selben Augenblick auf dem gleichen Punkt konzentrierten, dann war es möglich die Richtung gezielt vorzubestimmen.

      Die Bösewichte in seiner Geschichte suchten diese Knotenpunkte in einer Computersimulation und übertrugen ihre Erkenntnisse auf unsere reale Welt. Sie standen zwar noch am Anfang ihrer Arbeit, aber die von ihnen ausgehende Gefahr war bereits deutlich zu erkennen.

      Ein dafür eingesetzter Telepath musste also nicht komplette Abläufe in die Gedanken der Menschen implementieren, sondern nur leichte Veränderungen an den Knotenpunkten vornehmen.

      Stefan wusste, dass diese Geschichte von vielen seiner Leser fast genauso belächelt wurde, wie das Bügeleisen auf der Steuerkonsole der Orion, aber ihm bereitete die Erfahrung, ein Buch zu schreiben, zunehmend Spaß. Gleichzeitig folgte er einem inneren Zwang, was er jedoch niemals einem Menschen erzählt hatte.

      Und wer weiß? Was, wenn wir alle wirklich nicht mehr sind als das Produkt unserer eigenen Gedanken? Würden wir es überhaupt wissen wollen?

      Unwillkürlich stellte er sich die Frage, ob Steinberg, der mit Gewissheit nicht mehr in der Lage war ein Buch selbst zu halten, geschweige es zu lesen, „Im Netz der Gedanken“ überhaupt kannte. Gehörte er zu den wenigen, die es verstanden, zwischen den Zeilen zu lesen? Wenn ja, warum wollte er den Autor unbedingt kennenlernen?

      Alles, was Stefan damals geschrieben hatte, war schließlich frei erfunden und entstammte lediglich seiner Fantasie. Seine Gedanken waren zwar nicht so frei wie die Fantasie eines Kindes, aber die Story war wenigstens ein Produkt dessen, was er aus seiner Kindheit in die Welt der Erwachsenen hatte mitnehmen können..

      Irgendwann schlief er beim Lesen seiner Geschichte ein.

      Paolo saß in seinem Büro in der Villa und studierte den ersten Bericht aus Berlin.

      Giovanni hatte das Reisebüro für ein paar Tage geschlossen und seine beiden Mitarbeiterinnen beurlaubt.

      Auf dem Schild der Eingangstür stand: „Wegen Krankheit geschlossen.“

      Frau Hellwich und Frau Waldmann hatten anfangs protestiert, weil sie glaubten, diese freien Tage vom Urlaub abgezogen zu bekommen, aber nachdem Giovanni ihnen mitgeteilt hatte, dass dies nicht der Fall sei, hatten sie es plötzlich eilig nach Hause zu fahren.

      Der Bericht in Paolos Händen war sorgfältig erstellt und war als verschlüsselte E-Mail vor einer Stunde ein getroffen.

      Es schien zwar noch kein akuter Handlungsbedarf zu bestehen, aber Giovanni sollte weiterhin auf der Hut sein.

      Von jeder Kleinigkeit, auch wenn sie noch so unscheinbar war, wollte sein Chef informiert werden.

      Ein Desaster wie damals durfte nicht noch einmal passieren.

      Nachdem es Jahrzehnte lang ruhig in Berlin gewesen war, tat sich zum ersten Mal wieder etwas und das beunruhigte ihn.

      Damals, als ganz junger Mann, hatte er seinen Vater nach Berlin begleitet. Es war sein erster Besuch in der zerstörten geteilten Stadt gewesen. Deutschland hatte die Folgen des Krieges hinter sich gelassen, und das viel zitierte Wirtschaftswunder zeigte deutlich seine Erfolge.

      Zu gerne hätte er sich damals die ganze Stadt angesehen, aber der Anlass seines Besuchs hatte das nicht zugelassen. Sein Vater hatte etliche Vorbereitungen zu treffen gehabt und dafür jede Menge Beziehungen spielen lassen, während Paolo alleine in einer fremden Wohnung eines ihm Unbekannten gewohnt hatte. Einmal täglich war ein Mitarbeiter der Firma gekommen, um ihn mit Lebensmitteln zu versorgen.

      Stand ihnen jetzt wieder Ähnliches bevor? Er hoffte, nicht noch einmal korrigierend in die Geschicke anderer Menschen eingreifen zu müssen.

      Natürlich gehörten Eingriffe dieser Art oft genug zum Geschäftsleben der Firma. Aber damals wie auch diesmal ging es um eine rein private Angelegenheit. Um ein Versprechen, das seine Familie einem alten Mann vor langer Zeit gegeben hatte.

      Sein Sekretär kam mit dem Telefon ins Büro und teilte ihm mit, dass Giovanni ihn sprechen mochte.

      „Hallo Giovanni. Ich lese grad deinen Bericht von gestern. Was ist passiert, dass du dich um diese Uhrzeit schon meldest?“

      Es war erst 10.00 Uhr, als der Anruf von Heider am nächsten Tag auf Stefans Handy eintraf. Er hatte gerade damit begonnen seine Post zu öffnen und Frau Janke die Rechnungen, die zu überweisen waren, in die Hand gedrückt. Sie stand mit dem Stapel Papier in ihren Händen noch im Raum, als Stefan sie leise bat, ihn bitte zu entschuldigen, weil es sich um ein Privatgespräch handelte.

      Heiders Stimme vibrierte und selbst die folgende knappe Begrüßung wurde durch seine Kurzatmigkeit immer wieder unterbrochen.

      Es war also so weit, dachte Stefan bei sich. Der alte Steinberg hatte es sicher endlich geschafft und seinen Frieden gefunden. Nun würde Stefan allerdings nicht mehr erfahren, was der alte Mann von ihm wollte.

      „Geht es um Herrn Steinberg?“, fragte Stefan und hatte plötzlich einen trockenen Hals, obwohl er ihm nur ein einziges Mal begegnet war.

      „Sie werden es nicht für möglich halten. Dr. Mangold spricht von einem Wunder.“ Jetzt überschlug sich Heiders Stimme regelrecht und Stefan musste sich auf jedes seiner Worte konzentrieren.

      „Ich kam wie immer heute Morgen in das Zimmer von Heinz, um ihn zu wecken. Er saß jedoch schon aufrecht in seinem Bett und verlangte lautstark nach einem Frühstück. Er war bereits selbst aufgestanden und hatte die Jalousien hochgezogen.

      Ich dachte, mich trifft der Schlag und stotterte, dass ich ihm sofort etwas zu Essen bringen würde. Doch Heinz lehnte dankend ab. Es wäre an der Zeit, sich endlich den neuen Speisesaal anzusehen und ich sollte ihm lieber eine Kleidung besorgen, die nicht diesen abscheulichen Krankenhausgeruch hätte.

      Sofort holte ich Dr. Mangold, dem es nicht viel anders erging als mir. Heinz ist inzwischen der einzige Gesprächsstoff in der gesamten Residenz.

      Ein älterer Bewohner aus einer der Privatwohnungen stellte sofort ein paar Kleidungsstücke zur Verfügung. Ein anderer half mit einem Gehstock aus.

      Sie hätten unsere Ankunft im Speisesaal erleben müssen. Es war wie im Film. Alle Pfleger und sogar die meisten der alten Menschen standen nacheinander auf und bedachten Heinz mit einem tosenden Applaus.

      Dr. Mangold