Stefan Heidenreich

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selbst“, entgegnete Heider, und so folgte Stefan dem Riesen ins Gebäude. ‚Ein Anwalt mit einem eigenen Leibwächter?, dachte Stefan bei sich. ‚Ich muss irgendjemandem doch ziemlich auf den Schlips getreten haben.?

      Was er jedoch kurze Zeit später beim Betreten des Gebäudes erblickte, führte sämtliche Theorien der letzten Tage auf einen Schlag ad absurdum.

      Noch während die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel, entdeckte er fast ausschließlich alte Menschen, die sich, teils allein, teils mit einer jüngeren Person an ihrer Seite, durch die Eingangshalle bewegten. Viele saßen in Rollstühlen, während andere die verschiedensten Gehhilfen in Anspruch nahmen.

      Stefan fragte Herrn Heider, was das Ganze zu bedeuten habe und wo er sich überhaupt befände.

      Heider sah ihn aus seinen riesigen braunen Augen mit einem Ausdruck der Verwunderung an, bevor er antwortete.

      „Dies hier ist die Seniorenresidenz ´Preußen´. Haben Sie die Tafel am Eingangstor nicht gesehen?“

      „Da war keine Tafel“, erwiderte Stefan, wobei er nervös stotterte.

      „Natürlich!!!“, entgegnete der Hüne „Sie haben natürlich vollkommen recht. Ich hatte völlig vergessen, dass sie im Moment gerade erneuert wird. Wissen Sie, wenn man, wie ich, bereits seit über 20 Jahren hier lebt, dann achtet man auf so etwas nicht mehr. Bevor wir uns jedoch auf den Weg zu Herrn Steinberg machen, müssen wir Ihren Besuch bei uns noch registrieren lassen. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?“

      Wortlos zückte Stefan seinen Personalausweis und übergab ihn einer Frau in einem schlichten grauen Kostüm, die bereits neben ihnen stand und Heider streng ansah. Heider nahm ihr ein Klemmbrett ab, auf dem er den Namen Heinz Steinberg sowie die genaue Uhrzeit notierte.

      Mit diesen Unterlagen bewaffnet hastete die dienstbeflissene Mittvierzigerin an ihren Computer, um alle Daten ordnungsgemäß zu erfassen. Bereits nach wenigen Augenblicken, in denen ihm Bernd Heider die Notwendigkeit dieser Sicherheitsmaßnahme erklärte, bekam Stefan nicht nur seinen Personalausweis, sondern auch noch eine Chipkarte in die Hand gedrückt, die er auf jeden Fall beim Verlassen der Anlage wieder abgeben sollte, um ordnungsgemäß auszuchecken. Nur wer sich auscheckte, hatte auch eine Chance, die Anlage später wieder zu besuchen, erfuhr er.

      Zwar fand Stefan diese Maßnahme für ein Altersheim etwas übertrieben, ließ aber alles artig über sich ergehen. Schließlich wollte er immer noch erfahren, wer ihn auf welchen Schadenersatz verklagen wollte. Immer noch hatte er die Anwaltstheorie im Kopf.

      Verwirrt lief er im Schatten des Hünen an den anwesenden Bewohnern vorbei. Immer wieder drehte sich dieser zu Stefan um und versicherte sich seiner Begleitung.

      Die gesamte Residenz war, wie Stefan feststellen musste, noch viel größer als er es von der Straße aus erkennen konnte. Nachdem sie durch unzählige Flure gelaufen waren, öffnete Herr Heider eine kleine Tür, die sie wieder ins Freie führte.

      ‚Anscheinend doch kein so vermögender Anwalt, sondern einer der sich in einem Altersheim einmieten musste?, mutmaßte Stefan. Sie befanden sich inzwischen in einer Grünanlage, die offensichtlich den hiesigen Bewohnern als Erholungsort diente. Überall saßen Senioren auf Bänken und genossen die letzten Sonnenstrahlen, die der späte Sommer für sie bereithielt. An einem kleinen Tisch, um den vier gusseiserne Stühle standen, saßen alte Männer und spielten Skat, während sich die Damenwelt offensichtlich an dem großzügig angelegten Rosengarten erfreute. Alle hatten einen mehr oder weniger zufriedenen Ausdruck in ihren Gesichtern.

      Beim Anblick dieser Bilder verflüchtigte sich auch die gerade erst entstandene Theorie des zur Untermiete lebenden Anwalts rasch. Dieses Heim oder Seniorenresidenz, wie man heutzutage sagte, beherbergte ausschließlich alte Menschen, die der Pflege bedurften.

      Stefan fragte sich, ob einer der Männer wohl Herr Steinberg wäre. Oder gehörte er vielleicht zum Personal? War es vielleicht sogar der Chefarzt oder Leiter dieser Einrichtung? So ein Professor Dr. Dr. Irgendwie?

      Inzwischen wusste er absolut nicht mehr, woran er war, und was für Überraschungen ihn hier noch erwarten würden.

      Herr Heider führte Stefan mit riesengroßen Schritten, denen der kaum folgen konnte, zu einem kleineren Gebäude, bei dem es sich, laut einer im Rasen platzierten Hinweistafel, um die „Pflegestation IIIb“ handelte.

      Sofort nach dem Betreten dieser Abteilung konnte Stefan den unverkennbaren Geruch eines Krankenhauses wahrnehmen. Sie gingen an einer, als solche ausgewiesene, Intensivstation vorbei und kamen schließlich zu einer Art Privatwohnung. Laut Herrn Heider sei dies die einzige ihrer Art in diesem Gebäude. Er schob einen Schlüssel ins Schloss und öffnete behutsam die Tür. Dann bat er Stefan herein.

      Sie standen beide in einem kleinen Flur mit weißen Wänden. Aus einer Küche, die gut aufgeräumt, ja fast unbenutzt aussah, kamen ein paar Lichtstrahlen, die den Eingangsbereich etwas erhellten. Hinter den Wänden der Wohnung wich der unangenehme Krankenhausgeruch dem frischer Blumen, der die Atmosphäre auflockerte. Sie standen, als Herbststrauß gebunden, dekorativ auf einer halbrunden Glaskonsole, die aus einer der vier Wände ragte. Neben der geöffneten Küchentür zählte Stefan noch drei weitere. Heider öffnete eine davon, diesmal jedoch ohne Schlüssel. Er steckte seinen Kopf kurz ins Zimmer, zog ihn wieder heraus und bat seinen Besucher, einen Moment zu warten, weil Herr Steinberg gerade schliefe.

      ‚Eine Unverschämtheit?, entschied Stefan. ‚Erst Besuch einladen und dann einfach schlafen.?

      Ein paar Minuten später wurde er dann aber doch in das Zimmer gebeten.

      Nun musste er allerdings erst einmal tief durchatmen, weil das, was er zu sehen bekam, ihn endgültig verblüffte. Sie standen vor einem Bett, in dem ein knochiger alter Mann lag, den Stefan auf mindestens 90 Jahre schätzte.

      Sein weißes Haar war schon sehr dünn und anscheinend bewusst sehr kurz gehalten.

      In seinem Gesicht waren ausgeprägte, tiefe Furchen, und man konnte selbst in dem schwachen Licht, das eine einzelne Nachttischlampe spendete, die feinen gerissenen Adern eines Greises erkennen.

      Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen, um das Tageslicht auszusperren. Wahrscheinlich hätte der Alte sie nicht mehr vertragen. Stefan bemerkte ein paar offensichtlich wertvolle Gemälde an den Wänden, sowie ein von Hand geschnitztes Kruzifix über dem Bett. Der gesamte Raum war spartanisch eingerichtet, ohne dabei jedoch kalt zu wirken. In einer Ecke stand ein Fernsehgerät auf einer fahrbaren Kommode. Auf dem Nachttisch lag neben ein paar Tablettenpackungen eine Bibel, außerdem ein kleiner Schreibblock und ein Füllfederhalter. Stefan hatte seit Jahren keinen richtigen Federhalter mehr gesehen.

      Er selbst war damals über die Erfindung des Kugelschreibers nur allzu dankbar, weil er als Linkshänder immer Probleme mit Tintenfüllern hatte. Die Tinte trocknete bei seinen Versuchen, ein solches Schreibgerät zu benutzen, immer langsamer als er sie mit seiner linken Hand wieder verwischte.

      Da lag er nun also vor ihm. Der Mann, den er seit Tagen fürchtete, und wegen dem er sogar einen teuren Anwalt konsultiert hatte. Immerhin hatte er als Verlierer am Billardtisch die gesamte Zeche allein beglichen, was man einem anwaltlichen Spitzenhonorar gleichsetzen konnte.

      Heider beförderte noch rasch ein Kissen in den Rücken des alten Mannes, damit dieser seinen Gast, halb sitzend, halb liegend, sehen konnte. Der Alte musterte Stefan mit großen wachen Augen, bevor sich sein Gesicht zu einem freundlichen Lächeln verzog.

      Dann sprach er so leise, dass man Mühe hatte, ihn zu verstehen, aber mit einem deutlichen Ausdruck der Erleichterung.

      „Endlich!!!“

      Es war dasselbe einzelne Wort, welches Stefan vor einigen Tagen in der E-Mail gelesen hatte, die er als Antwort auf seine eigene bekam.

      „Darf ich vorstellen, Herr Steinberg“, Heider hinter sich sagen. Nur zögernd ging Stefan einen Schritt auf das Bett zu und reichte Herrn Steinberg zur Begrüßung seine Hand. Steinberg hatte Mühe, seinen rechten Arm zu heben, um ihm seine bis auf die Knochen abgemagerte, von dicken Adern durchzogene Hand entgegenzustrecken.

      Dann