Philip Hautmann

Yorick - Ein Mensch in Schwierigkeiten


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denn er verfügte über eine Geige (mit einem schlecht bespannten Bogen). Als die Ersten Städtischen Philharmoniker mit ihrer Interpretation von Mozarts Requiem im städtischen Dom am Christtagabend loslegten, war aus den Mienen des Publikums sehr schnell jegliche Feierlichkeit und angespannte Erwartung gewichen, und nach gut fünf Minuten ergaben sich tumultartige Zustände, deren Dokumentation eines lautstark und sich selbst darin offenbar auch irgendwie gefallend Schimpfwörter rufenden Mozartpublikums am Christtag im städtischen Dom immerhin den Weg ins Fernsehen schaffte. Die Ersten Städtischen Philharmoniker hatten daraufhin für einige Zeit noch sogenannten Kultstatus, bis sich das Konzept freilich sehr schnell wieder erlahmt hatte und ausgereizt war. Gut Informierte wissen sich bis heute auch noch an das Stück Liedgut zu erinnern, das Lasse Benissen unter der Formation Benissen 3000 verfasst hatte. Das Stück Benissen, dessen Minimal-Soundkulisse, welche er sich von einem stadtbekannten Elektronikmusiker hatte anfertigen lassen, mit dem Text Der Benissen! Der Benissen/der Benissen/der Benissen/der Benissen/der Benissen!! in einem gleichsam dialektischen Zusammenhang stand, hatte in der so genannten Untergrundmusikszene Hitcharakter; die Nachfolgenummer Bäucher (mit dem Refrain Bäucher!! Huuh!!) verkaufte sich ebenfalls blendend, konnte an den Erfolg des Vorgängers aber nicht mehr anschließen.

      Lasse Benissen war also ein nicht unbegnadeter Schauspieler seiner selbst. Daher tat er sich auch leicht beim anderen Geschlecht, das ihn, wie wir bereits gesehen haben, faszinierte. Seine diesbezüglichen Erfolge waren jedoch in erstaunlicher Regelmäßigkeit zwiespältiger Natur, da sie über einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden nur selten hinausgingen. Er fand sich nämlich ausschließlich Frauen, die genauso schauspielerten und ausprobierten wie er oder ganz allgemein an jugendlichem Leichtsinn und jugendlicher Orientierungslosigkeit litten. Dann verwendete er, rekapitulierend, um den Gefühlen, die ihn bewegten, Ausdruck zu verleihen, nicht mehr Worte wie So ein Zuckermauserl!, sondern: So eine Borderlinerin! (das war sein Lieblingsausdruck). Und daran anschließend sollten sie beide, wie dann eben immer, die Köpfe senken, Lasse Benissen und Yorick, um in die Welt hinein den Seufzer auszustoßen, der der Frage galt warum – sie könnten sich das ganz einfach nicht erklären – die ganzen Hohlköpfe, Sonderlinge und Idioten bei den Weibern so gut abräumen würden, im Gegensatz zu so tollen Kerlen wie ihnen, das sei wirklich ein riesiges Mysterium und übersteige ihr Verstandesvermögen. Bevor beide in ihrer Konversation wieder von neuem loslegten, trat an dieser Stelle dann also eine kurze melancholische Pause ein.

      Die mögliche Annahme, Sabine/Adelaida Iwanowna und der alte Schwede Lasse Benissen wären die einzigen Menschen gewesen, die Yorick in irgendeiner Weise nahe standen, ist falsch. Da gab es im Weiteren nämlich auch noch Eisel und Peisel. Eisel und Peisel wurden von niemandem so, also Eisel und Peisel, genannt, außer von Seiten Yoricks, der in einer Biographie des Komponisten Arnold Schönberg gelesen hatte, dass der große Gustav Mahler den jungen Schönberg und irgendeinen Zweiten, der mit Schönberg immer gemeinsam unterwegs gewesen war (Yorick hatte vergessen, wer), mit dem dualen Spitznamen Eisel und Peisel belehnt hatte; ihre wirklichen Namen, die von Eisel und Peisel, waren Fritz und Fratz, der übrigen Welt waren sie unter den Spitznamen Clown und Pfosten bekannt. Wenn Eisel und Peisel in die Studierstube des Yorick auf Besuch kamen, gefiel sich der dicke und leutselige Yorick in seiner Rolle als Gastgeber sehr und servierte Kaffee und Kuchen oder auch anderes. Oftmals endeten diese Treffen Yoricks, Eisels und Peisels in einem gehörigen Streit, da jeder gerne seine eigene Meinung vertrat und zu behaupten suchte, aber das machte nichts, beim nächsten Treffen war alles wieder vergessen, nicht allein aus edler Gesinnung und Respekt gegenüber den anderen im freundschaftlichen Bunde, aus Gründen der Nachsicht und der Toleranz und was es da sonst noch so an Vorbildlichem gibt, sondern auch, weil sie schnell feststellten, dass sie für sich genommen verloren waren. Beruhigend zu wissen, dass die meisten Zusammenkünfte aber friedlich und in großem Einklang zwischen Yorick und Eisel und Peisel verliefen, da ein jeder zwar seine eigene Meinung hatte, und sie seinem Naturell gemäß ohne größere Rücksichtnahme auf Persönliches verbreitete und auf ihr beharrte, sich in seinem eigenen Vortrag und in dessen Lebhaftigkeit von den Vorträgen des anderen in aller Regel aber nicht weiter stören ließ.

      Da war zunächst Eisel. Eisel war, nach eigenen Maßstäben gemessen, so etwas wie ein Universalkünstler und schäumte nur so über vor Ideen zu künstlerischen Projekten, von denen er gerne und mit großem Nachdruck berichtete. Er arbeite gerade an einem neuen künstlerischen Projekt, pflegte Eisel kurz nachdem er zur Tür von Yoricks Studierstube beziehungsweise eigentlich egal welcher reingekommen war, seine Garderobe abgelegt und Platz genommen hatte, oder manchmal auch schon vorher, zu berichten, und Fragen der Art, um was für ein künstlerisches Projekt es sich denn handeln würde, kam er in aller Regel durch seinen eigenen erläuternden Einsatz zuvor, sodass man selber im Umgang mit Eisel wenig Aufwand hatte.

      Eisel erzählte zum Beispiel: Er arbeite gerade an einem neuen Projekt. Sein Plan sei es, ein Cellokonzert zu verfassen, so Eisel. Das Cellokonzert als künstlerische Ausdrucksform gilt der Versinnbildlichung des Konflikts zwischen dem Individuum, dargestellt durch das Solocello, und der Gesellschaft, dargestellt durch das Orchester, entgegnete Yorick dann wie aus der Pistole geschossen und lehnte sich in seinem Lehnstuhl reflexartig und mit einem plötzlich leuchtenden Ausdruck in seinen Augen nach vorne. Er habe davon gehört, entgegnete wiederum Eisel ruhig, was auch der Grund sei, wieso er anstrebe, ein Cellokonzert zu schreiben (ansonsten hatte er keine Ahnung von Musik). Beim nächsten Mal berichtete Eisel: Er verfolge gerade ein neues künstlerisches Projekt. Er plane die Verfassung eines Klavierkonzerts, so Eisel. Das Klavierkonzert ist ein Solokonzert, bei dem das Soloinstrument das Klavier ist, welches von einem Orchester begleitet wird, entgegnete Yorick wieder mit einer plötzlichen Bewegung nach vorn, denn auch er wollte dazu etwas zu sagen wissen. Ein anderes Mal erläuterte Eisel: Er verfolge ein neues Projekt. Er plane die Verfassung eines dramatischen Werkes in der Tradition Shakespeares mit dem Titel „Plinius der Jüngere“ (Eisel hatte, wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, einen Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa gesehen, der, wie man vielleicht weiß, sich gerne mit Shakespeare-Sujets auseinandersetzt). Dann wäre es erforderlich, zunächst einmal genau zu recherchieren, wer Plinius der Ältere gewesen sei, entgegnete Yorick mit einem diesmal etwas unsicheren Ausdruck in den Augen und nach einer kurzen Pause (er hatte es, wie er nach einiger Zeit zugeben musste, in diesem Moment nicht im Kopf, wer Plinius der Jüngere eigentlich war und welcher Art dessen historische Rolle gewesen sein soll, und wie es sich herausstellen sollte, wusste Eisel dergleichen im Wesentlichen auch nicht), der Flüssigkeit der darauf folgenden gegenseitigen Monologe Eisels und Yoricks über das Wesen des dramatischen Kunstwerks, und auch anderes, tat das erfreulicherweise jedoch keinen Abbruch.

      Die weitere Reihenfolge von Eisels Projekten zu dieser Zeit (die, sagen wir einmal, eine Spanne von gut sechs Wochen umfasst) war: einen Dokumentarfilm zu drehen über den Alltag in Pensionistenheimen mit dem Titel „Wartezimmer zum Tod“/ eine Environment-Installation zu schaffen, die aus hundertundfünfzig aufgehäuften künstlichen Autoreifen aus Papiermaché bestehen würde / eine Operettenkomödie zu schreiben mit dem Titel „Der Brunzer und der Scheißer“/ ein Bild zu malen, wie sich Cezanne wohl einen Kuhfladen vorgestellt hätte / ein Haus zu konstruieren wie das unheimliche Haus ur des deutschen Künstlers Gregor Schneider / ein Ballet zu choreographieren nach dem Vorbild von Bernd Bienert / einen ungeheuren wilden Wurm in einen mit Formaldehyd gefüllten Behälter einzulegen, mit dem auf Damien Hirst und Richard Wagner gleichzeitig angespielt werden würde / eine große dokumentarische Darstellung über die einheimische Kulturszene zu konzipieren mit dem Titel „Der Hyänenkäfig“ / einen großen Roman zu schreiben / eine Performance zu machen, bei der eine Lastwagenladung Fleisch neben einer Demonstration von Veganern auf den Gehsteig gekippt werden würde / eine multimediale Installation zu konstruieren, die bei der nächsten Ars Electronica ausgestellt werden würde.

      Dann wieder einmal erläuterte Eisel, er plane, ein wissenschaftliches Werk zu verfassen mit dem Titel Probleme und Perspektiven innerhalb der gegenwärtigen Weltordnung, woraufhin Yorick aber einwarf: Das habe bereits er gemacht! (es handelte sich um eine Seminararbeit an der Universität im zweiten Semester, die mit dem Vermerk Themenverfehlung – Nicht genügend versehen worden war),